Dennoch variieren die Inhalte, HipHop ist für viele die Stimme der Emanzipation geblieben. Aber von einer Bewegung gegen die unsozialen Kahlschläge des neoliberalen Kapitalismus hin zu einer künstlerischen Umarmung desselben, das klingt schon nach Selbstverrat. Wie kam es dazu? Der Sozialpädagoge Tobias Ernsing hat in seinem Buch „Ich kann schlafen, wenn ich tot bin - work hard, stack checks“ den Schulterschluss aus HipHop und Neoliberalismus untersucht.
Neoliberalismus in Reimform
In prägnanten Abrissen der Geschichte des HipHop auf der einen und des Neoliberalismus auf der anderen Seite wird deutlich, wie sich die kapitalistische Verwertungslogik auf Spielarten des HipHop übertrugen. Die Logik des Neoliberalismus, also die Vorrangstellung von Markt, Wirtschaft und Individualisierung, hat sich zur ideologischen Hegemonie in den sogenannten westlichen Gesellschaften verstetigt.Zum neoliberalen Alltagsverständnis, das sich tief in unseren Blick auf die Welt und unsere Beziehungen eingebrannt hat, gehören individuelle Verantwortlichkeit, individuelles Erfolgsstreben und die individuelle Freiheit, sich den Marktlogiken zu unterwerfen. Diesen Regeln zu folgen, birgt das Versprechen individuellen Erfolgs. Nur wer sich anstrengt, profitiert. Wer nicht profitiert, so der Umkehrschluss, hat sich eben nicht genug im Griff und schafft es nicht, seine Ressourcen klug einzusetzen und seine Arbeitskraft gewinnbringend zu verkaufen. Selber schuld, wenn es mit der Karriere nicht geklappt hat. Diese Geschichte ist selten wahr, erzählt wird sie dennoch gerne.
HipHop, in seinen Anfängen zumindest in Zügen Gegenwehr zum neoliberalen Umbau der Gesellschaft und ihrer sozialen Institutionen, nicht zuletzt weil seine Akteure aufgrund von Armut und Verdrängung primär von diesem betroffen waren, wurde nur allzu schnell der Marktlogik unterworfen. Je populärer er wurde, desto besser liess er sich verkaufen und anders herum. Und plötzlich konnte HipHop sein Erfolgsversprechen – freilich nur für wenige – einlösen. Es wäre sicher dreist, diejenigen zu Schuldigen zu erklären, die diese Möglichkeit wahrnahmen und ihnen vorzuwerfen, sie hätten ihre Authentizität aufgegeben. Und nicht vergessen werden sollten die vielen Beispiele für subkulturellen, emanzipativen HipHop, der das Genre mit prägt. Der politische HipHop hat zumindest überlebt.
Kommerz statt Kritik
Das dürfte den Bulldozern des deutschen Gangsta-Rap, Bushido, Sido und Kollegah ziemlich egal sein. Politik steht bei den dreien nicht auf der Agenda. Ihr Gangsta-Rap definiert sich über harte Maskulinität, Identität als Gangster – und ökonomischen Erfolg. Die Welt zumindest dieser Gangster ist feindlich, der Diss geht raus an alle. Die stets betonte Zugehörigkeit zum „Ghetto“ (was zumindest bei Sido und Bushido zutrifft) hätte zwar das Potenzial, Verhältnisse zu durchleuchten und zu kritisieren, doch das passiert nicht.Das wird bei der Analyse ihrer Songtexte deutlich. Paradoxerweise bedienen alle drei neoliberale Paradigmen, affirmieren sie gar. Fast, als würden sie nicht wissen, dass die fiesesten Ausprägungen des neoliberalen Kapitalismus ihre Kindheit und Jugend prägten. Der wahre Grund wird allerdings sein, dass sich damit kein Geld machen liesse. Und so verstehen sie ihre Mission als einsame Helden, als „Ein-Mann-Armee“ (Bushido, S. 56.) gegen den Rest der Welt. Alle gegen alle eben. Auf sich allein gestellt, den „harten Kampf“ (S. 53) nach oben aus eigener Kraft und Anstrengung geschafft, vorbei an all jenen, die sie hindern wollten.
Die Feindbilder sind so genannte „Neider“, die an ihre Millionen wollen, „Rapper mit moralischen Werten“ (Kollegah, S. 57), gesellschaftliche Werte wie Solidarität, aber auch Hartz IV-Empfänger_innen und „Versager“. Strukturelle Kritik ist Fehlanzeige. Sie haben es schliesslich ganz alleine geschafft, durch harte Arbeit und permanente Selbstoptimierung. Kollegah zum Beispiel hat ein Fitnessprogramm mit dem Namen „Bosstransformation“ entworfen, um seinen „KING-würdigen Körper aufzubauen“ (Kollegah, S. 60). Konkurrenz und Angeberei – mit dem Erfolg, den Reichtümern und dem Image – darum dreht sich in ihren Texten so ziemlich alles.
Es ist kein Wunder, dass sich der erfolgreiche Gangsta-Rap marktkonform verhält. Auch die Härte der Beats, der Texte und des Image stehen nicht im Widerspruch zu den Verhältnissen. Und die krasse Provokation gehört zum HipHop nun einmal dazu. Provoziert wird hier allerdings nicht gegen die Verhältnisse, sondern ganz in ihrem Sinne. So wird dieser Gangsta-Rap zum bissigen Schosshündchen des Neoliberalismus. Das Problem dabei ist, dass er dabei so ein grosses Identifikationspotenzial hat. Vor allem für Jugendliche aus unteren Klassen. Gerade deshalb ist es Ernsing sehr hoch anzurechnen, dass er am Schluss den Blick auf die Kritische Soziale Arbeit mit Jugendlichen lenkt. Deren Aufgabe ist es, die Identifikation mit der Musik ernst zu nehmen und eine gemeinsame Übersetzungsarbeit in die tatsächlichen Verhältnisse zu unternehmen. „Die Jugendlichen können dadurch verstehen, wie soziale Problemlagen entstehen und somit mögliche Gegenstrategien herleiten“ (S. 81). Diese Auseinandersetzung macht den Text sehr rund.
Zu Beginn fragt man sich vielleicht, warum nicht Material ausgewählt wurde, das weniger offensichtlich neoliberalen Kriterien entspricht. Zum Beispiel Acts, die sich als „linker HipHop“ bezeichnen. Dort mag die neoliberale Ideologie weitaus subtiler sein und sich vielleicht sogar unter einem emanzipativen Tarnkäppchen verstecken. Eine solche Auswahl hätte Ernsings Untersuchung zusätzliche Facetten hinzugefügt. Nur: Jugendliche hören eben nicht immer das, was sich links-emanzipatorische Sozialarbeiter_innen wünschen. Umso wichtiger, die Texte von Bushido, Kollegah und Co richtig zu interpretieren.