Tristan Leoni: Kalifat und Barbarei Die erschütternde Nüchternheit der Geisteskranken
Sachliteratur
Während unserer manischen Phasen kommt es bisweilen vor, dass wir einfach unbedacht und willkürlich irgendwelche Zeitschriften kaufen. So sind wir auf die Rezension des Buches «Kalifat und Barbarei» in der konkret Nr. 4/17 gestossen.
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23. Mai 2017
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Unglücklicherweise leidet er offensichtlich an akuter Dyslexie, denn er glaubt tatsächlich, es gehe dem Autor darum, „beim IS emanzipatorische Elemente […] herauszuarbeiten“. Der Autor kommt jedoch auf S. 83 zu folgendem Schluss: „ Als Tagtraum und neue Phase eines Albtraums kann diese gigantische, reaktionäre ZAD rund um den Tigris und den Euphrat nur als monströse Variante einer kapitalistischen Weltordnung verstanden und bekämpft werden, dessen Feind sie vorgibt zu sein.“ Eine Lobrede tönt definitiv anders.
Vermutlich vermisst der Kritiker die Gegenüberstellung von westlicher Zivilisation und islamistischer Barbarei. Darauf deuten seine Empörung darüber, dass der IS so etwas vermeintlich positives wie einen Rechtsstaat aufbauen könnte, und die Beschreibung desselben als „faschistoid-repressiv“. Der Hinweis auf die Repression ist trivial, jeder Staat benutzt sie. Die Charakterisierung des IS als „faschistoid“ dürfte hingegen Teil seines politischen Programms sein. Der Duden definiert das Adjektiv folgendermassen: „faschistische Züge zeigend“. Der Erkenntnisgewinn ist also nahe bei null, denn der Begriff ist dermassen vage, dass letztendlich alle Staaten so beschrieben werden können. In Teilen der deutschen Linken versucht man permanent den Islamismus in die Nähe des Nationalsozialismus und des Faschismus zu rücken, damit man endlich die Geschichte als Farce wiederholen und mit dem Aufbau einer neuen Allianz beginnen kann.
Historisch betrachtet hat der zeitgenössische Islamismus damit allerdings herzlich wenig zu tun. Obwohl die ideologischen Wurzeln in den Debatten innerhalb der Muslimbruderschaft zu finden sind und diverse theologische Elemente schon seit Jahrhunderten von islamischen Gelehrten diskutiert werden, kann man die gegenwärtige Form des jihadistischen Salafismus nicht verstehen, wenn man sich nicht mit der kapitalistischen Restrukturierung seit den 1970er Jahren befasst. Der Ölpreisschock 1973 führte dazu, dass man in Saudi-Arabien plötzlich viel mehr Kleingeld zur Verfügung hatte als geplant. Zu diesem Zeitpunkt begann das saudische Königshaus eine gewaltige ideologische Offensive zur Verbreitung des Wahhabismus. Weltweit wurden (und werden immer noch) Koranschulen und Moscheen finanziert und so löste der Islamismus nach und nach den panarabischen Nationalismus als vorherrschende Ideologie der rebellischen Jugend ab [1].
Théorie communiste hat den Islamismus 2003 als „Opposition innerhalb der Globalisierung“ bezeichnet, „die ihr beinahe inhärent ist und sich auf ihrem Niveau und in den gleichen Begriffen wie sie situiert, sie konstituiert sich nicht einmal als Alternative zu ihr. Sie ist nicht ihr Widerspruch, sondern ihr Schatten“ [2]. Karl-Heinz Lewed kommt in einem etwas jüngeren Text zu einem ähnlichen Schluss: „Den zentralen Widerspruch, auf welchen die islamistische Ideologie des Niedergangs verweist, könnte und kann nur in der Tatsache gefunden werden, dass, obwohl der Rahmen der gesellschaftlichen Netzwerke auf modernen Formen beruht, die Universalisierung der Produktion abstrakten Reichtums in diesen Formen scheiterte. Sie repräsentiert eine spezifische ideologische und (post)politische Form des Niedergangs der vereinnahmenden Modernisierung, womit sie als solche an der Kontinuität dieses Prozesses beteiligt ist. Sowohl die Entstehung, als auch der Niedergang der Form des Nationalstaates sind konstitutiv für die Entstehung des Islamismus.“ [3]
Der Islamismus ist also weder eine archaische Form des Islams, noch ein entferntes Enkelkind des Faschismus und/oder des Nationalsozialismus. Er ist ein zutiefst modernes und postmodernes Phänomen, das mit sterilen Extremismusvergleichen nicht erfasst werden kann. Diese Modernität zeigt sich notabene – auch wenn man darüber erstaunt sein mag – in seinem Frauenbild. Im Gegensatz zum traditionellen Fundamentalismus darf sich die Frau im Islamismus unter gewissen Umständen an der öffentlichen Sphäre beteiligen. Hierin findet man die konzeptuelle Erklärung für die Bedeutung jener Tatsache, welche unser Kritiker für so nebensächlich hält, nämlich dass Frauen in Raqqa ein Auto lenken dürfen, aber nicht in Riad.
Olivier Roy stellte das schon 1992 fest: „Die Frauenfrage ist […] einer der Punkte des Bruches des Islamismus mit dem traditionellen Fundamentalismus. Die Islamisten halten die Rolle der Frau in der Bildung und der Gesellschaft für wesentlich. Sie sehen sie als Person und nicht mehr nur als Instrument zur Befriedigung der sexuellen Begierde und zur Reproduktion.“ [4] Natürlich ist das alles nicht gleichbedeutend mit jeglicher emanzipatorischen feministischen Perspektive, doch das wird im Text auch nirgends behauptet. Weiter ist der Vorwurf unhaltbar, dass die Massaker gegen Jesiden und anderen als „ungläubig“ qualifizierten Gemeinschaften nirgends erwähnt werden. Vermutlich hat unser Kritiker die Seite 74 versehentlich überblättert, darum helfen wir ihm ein bisschen nach: „Und die ermordeten, vergewaltigten und versklavten schiitischen, christlichen und jesidischen Frauen? […] Sie verdienen dieses Schicksal, weil sie in der Logik des IS juristisch nicht in die Kategorie ‚Frauen' gehören, dazu gehören nur muslimische Frauen.“
Auch was den Antirassismus betrifft, wurde nirgends behauptet, Raqqa sei die bunteste Stadt der Welt. Der antirassistische Diskurs des IS ist allerdings eine Tatsache, denn im Kalifat wird die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft nicht durch die Nation, sondern durch die Religion bestimmt. Es gibt kein Volk, nur die Umma. Das führt durchaus auch manchmal zu Spannungen, so beklagten sich beispielsweise die Kämpfer des Kalifats, als sie die libysche Küstenstadt Sirte noch kontrollierten, über den Rassismus der lokalen Bewohner. Als Reaktion berief der IS ein „Versöhnungstreffen“ ein und warnte die Bewohner in einem Flugblatt, dass Rassismus nicht toleriert werde [5]. Selbstverständlich lässt sich der Rassismus nicht per Dekret abschaffen, das beweist ein britischer IS-Kämpfer, der sich in einem ausführlichen Text über die angeblich schlechten Manieren seiner arabischen akhis beklagt [6].
Mit diesen paar Absätzen sind die grundlegendsten Verleumdungen unseres Kritikers wohl widerlegt. Tristan Leoni meinte zwar, mit Leuten, die nicht lesen können, lohne es sich nicht, zu diskutieren, und damit hat er grundsätzlich recht. Trotzdem kann eine solche Rezension voller Lügen und Beleidigungen nicht unkommentiert stehen gelassen werden. Burschel mag empört sein über die erschütternde Nüchternheit eines Autoren, der davon ausgeht, dass man den Lesern nicht erklären muss, dass man Massenvergewaltigungen oder andere Grausamkeiten verurteilt. Und da er von der Materie des Buches vermutlich wenig bis gar nichts versteht, begnügt er sich damit, uns zu beleidigen. Er glaubt, die Taten des IS seien „wesentlich kriminell“ und vergisst dabei, dass Kriminalität definitionsgemäss keine Essenz ist, sondern von der herrschenden Gesetzgebung definiert wird. Diese Bemerkung entlarvt seinen sozialdemokratischen Standpunkt, denn im Gegensatz zu unserem Kritiker wollen wir weder Fanta, noch Fatwa, sondern schlicht und einfach den Kommunismus.
Tristan Leoni: Kalifat und Barbarei. Wie funktioniert der Islamische Staat? bahoe books, 2016. 96 Seiten, ca. 14.00 SFr, ISBN 978-3-903022-37-9
Fussnoten:
[1] Siehe u.a. Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, Piper, 2002 (2000), S. 85-102.
[2] Théorie communiste, „Pétrole, sexe et talibans“ in: Théorie communiste, Nr. 18, 2003, S. 114.
[3] Karl-Heinz Lewed, „Curtains for Universalism: Islamism as Fundamentalism in Modern Social Form“ in: Neil Larsen (et al., Hg.), Marxism and the Critique of Value, MCM' Publishing, 2014, S. 295.
[4] Olivier Roy, L'Échec de l'Islam politique, Seuil, 1992, S. 82.
[5] Siehe „Beheadings and racial tension: Life under Islamic State“, BBC News, 23. Juni 2016.
[6] Siehe Abū Sa'eed Al-Britānī, „Culture Clash: Understanding the Syrian Race“, 24. August 2015.
Fussnoten:
[1] Siehe u.a. Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, Piper, 2002 (2000), S. 85-102.
[2] Théorie communiste, „Pétrole, sexe et talibans“ in: Théorie communiste, Nr. 18, 2003, S. 114.
[3] Karl-Heinz Lewed, „Curtains for Universalism: Islamism as Fundamentalism in Modern Social Form“ in: Neil Larsen (et al., Hg.), Marxism and the Critique of Value, MCM' Publishing, 2014, S. 295.
[4] Olivier Roy, L'Échec de l'Islam politique, Seuil, 1992, S. 82.
[5] Siehe „Beheadings and racial tension: Life under Islamic State“, BBC News, 23. Juni 2016.
[6] Siehe Abū Sa'eed Al-Britānī, „Culture Clash: Understanding the Syrian Race“, 24. August 2015.