Von Digitalisierung bis Big Data – Interview mit Anna Roth „Wer nach der Technik fragt, fragt, wie diese Gesellschaft eigentlich funktioniert“
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Vom 24. bis zum 26. November richtet das kommunistische Bündnis …ums Ganze! seinen vierten Kongress in Hamburg aus. Unter dem Titel reproduce(future). Digitaler Kapitalismus und kommunistische Wette soll es um die Bedeutung der Technik im Kapitalismus, aber auch um ihre Funktion für eine befreite Gesellschaft gehen. Warum hat sich das Bündnis in Zeiten des Erstarkens reaktionärer Bewegungen und der mörderischen Abschottung Europas ausgerechnet diesem Thema zugewendet?
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7. Oktober 2016
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Flucht, Rechtspopulismus und die technologische Entwicklung scheinen erst einmal nicht viel miteinander zu tun zu haben.Wir meinen aber, dass sie im Kern zusammenhängen. Etwas schematisch kann man das so fassen: Da der Lohn ein Kostenfaktor in der Produktion ist, versuchen Kapitale in der Konkurrenz einen Vorteil dadurch zu erwirken, dass sie den Anteil der Lohnarbeit senken. Das geschieht u.a. durch technische Innovationen wie der Automatisierung von Arbeitsabläufen. Diese setzten sich in der Folge in den jeweiligen Produktionszweigen durch. Das aber untergäbt die Bedingungen der Kapitalakkumulation selbst, denn die bleibt abhängig von der menschlichen Arbeit. Daher der Zwang zur Expansion, der dem Kapitalismus innewohnt. Der Prozess wiederholt sich damit aber nur auf einem höheren Niveau.
Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und auf dem Stand ihrer Ausdehnung über den gesamten Globus hinweg erzeugt diese Entwicklung Überflüssige. Weil diese Überflüssigen innerhalb des globalen Kapitalismus vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig bleiben und keine anderen Möglichkeiten haben, ihre Leben zu bestreiten, werden sie von manchen auch als Surplus Proletariat bezeichnet. Kein Wunder, dass sich so ein Surplus Proletariat auf den Weg macht dahin, wo es hoffen darf seine Arbeitskraft noch verkaufen zu können. Was der Journalist Tomasz Konicz zuletzt als „Krisenimperialismus“ bezeichnet hat, aber auch das Erstarken reaktionärer Ideologien kollektiver Identität, die eine Sicherheit anbieten, die es unter kapitalistischen Bedingungen nie absolut geben kann, gehören unserem Dafürhalten nach ebenfalls in diesen Kontext – ob nun in Gestalt des islamischen oder christlichen Fundamentalismus oder des völkischen Denkens.
In der Ankündigung für den Kongress sprecht ihr vom digitalen Kapitalismus. Was hat es damit auf sich? Ist das ein anderer Kapitalismus, als derjenige, der vorher geherrscht hat?
Es ist und bleibt die kapitalistische Produktionsweise, aber diese Produktionsweise ist jeweils geschichtlich spezifisch. Wichtige Einschnitte innerhalb der Entwicklung des Kapitalismus lassen sich an technischen Revolutionen festmachen. So wie der Kapitalismus sich und die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche – Arbeit und Kapital, Staat und Politik, Subjekte und Geschlechterverhältnisse, Recht und Gesetz – zunehmend durch die neuen Techniken des Digitalen herstellt, so sind wir gezwungen, auch unsere Kritik zu erneuern. Und so wie der Kapitalismus darüberhinaus auch seine Widersprüche reproduziert und nicht los wird, tauchen in seiner Kritik die altbekannten Positionen wieder auf, wenn auch oft unter neuen, manchmal extravaganten Namen. Der Kongress dient auch dem Austragen solcher Widersprüche, der Verständigung und der Positionsbestimmung.
Was ist das Neue an der Digitalisierung?
Unter Digitalisierung im engen Sinne versteht man die Überführung von Bedeutungen jeder Art in diskrete, also abgestufte und formalisierte Einheiten. Das erlaubt ihre elektronische Verarbeitung und wenig fehleranfällige Speicherung und Vervielfältigung. Technische Bedingung dafür ist die Erfindung des Mikrochips in den 70er Jahren. Die sogenannte mikroelektronische Revolution, und das ist was uns besonders interessiert, ist die Grundlage für den Umbau des zuvor herrschenden Akkumulationsregimes. Das basierte, zumindest in den kapitalistischen Zentren, auf der fordistischen Arbeitsorganisation. Sein Sinnbild ist die Fabrik. Die Digitalisierung erlaubt hier neue Automatisierungsschübe und ist als Informationstechnologie zugleich eine Metatechnologie, die die Rekombination vorhandener Technologien zu neuen technologischen Systemen erlaubt. So können tayloristische Standardisierung und fordistischen Automatisierung zusammengeführt und postfordistisch flexibilisiert werden.
Mit kybernetischen, sich selbst optimierenden Regelkreisen und der Robotisierung werden Arbeitsabläufe automatisierbar, die sich einer solchen Automatisierung bisher entzogen haben. Die Digitalisierung im weiteren Sinne ist also nicht bloss eine Übersetzung vom Analogen ins Digitale. Mit ihr setzt sich eine Entwicklung fort, die im Kapitalismus angelegt ist. Er kommt gewissermassen zu sich selbst. Gesellschaftlich macht das jedoch mitunter einen massiven Unterschied, mit gravierenden Auwirkung etwa im Bereich des Sozialen.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Computer?
Die Verbreitung des Computers sowie die Computerisierung aller Wirtschafts- und zunehmend auch aller übrigen Lebensbereiche ist eine Voraussetzung für das neue Akkumulationsregime. Für die Digitalisierung ist die oben geschilderte Formalisierung entscheidend. Sie ist auch die Grundlage seiner Arbeitsweise. Der Computer ist eine universelle Rechenmaschine, bei der Energie statt in mechanische Operationen in Rechenoperationen umgesetzt wird. Das Ergebnis seiner Berechnungen mündet schliesslich in einer Art Rückübersetzung: Als Ausgabe auf einem Bildschirm, einem Stück Papier oder als Bewegung der Motoren eines Roboters.
Zugleich findet der Computer selbst seinen Ort in einer (kulturellen) Logik des Digitalen, die sich mit der Entstehung des Kapitalismus universelle Geltung zu verschaffen sucht. Die Digitalisierung liesse sich dann nicht bloss als die Diskretisierung von Information mittels mikroelektronische Technik, sondern als Teil dieser allgemeinen Logik verstehen. Marx beschreibt Abstraktion als für die Warenform konstitutiv. Ähnliches findet in der Digitalisierung statt, indem sie die Welt in einer Weise quantifiziert, die gleichgültig gegenüber jeder qualitativen Bestimmung ist. Oder noch einmal anders gesagt: Der Kapitalismus macht über eine Formalisierung und Quantifizierung gesellschaftliche Verhältnisse ökonomisch bestimmbar. Sie werden gerade dadurch überhaupt in seinem Sinne verwertbar. Die quantifizierenden Naturwissenschaft machen im klassischen Industriezeitalter das gleiche mit den Naturverhältnissen: Sie beobachten nicht schlicht Phänomene, sondern bringt sie als vorhersag- und wiederholbare Vorgänge hervor.
Diese Reproduzierbarkeit macht die Natur zu etwas kontrollierbarem und lässt sich dann – wobei mit diesem dann keine geschichtliche Abfolge gemeint ist – in die Maschine einschreiben und technisch ins Werk zu setzen, was eine enorme Produktivitätsstreigerung bedeutet. In der Digitalisierung erfolgt das nun mit jeglichem Wissen, jeglicher Bedeutung. Sie kann digital hervorgebracht, wiederhergestellt und vervielfältigt werden. Diese Umrechnungsprozesse reduziert noch einmal massiv die Produktions- und Zirkulationszeiten und führt zur Beschleunigung der Umschlagszeiten des Kapitals und damit zur Erweiterung seiner Reproduktion. Scharf formuliert: Das Wesen der Automatisierung ist das Digitale. Und ohne jetzt in krisentheoretische Grabenkämpfe einsteigen zu wollen, den oben geschilderten Widerspruch – Bewegung zur Automatisierung einerseits, Abhänigkeit von der menschlichen Arbeitskraft andererseits – löst das natürlich nicht auf. Er verschärft sich eher noch.
Wo zeigt sich der von dir beschriebene Umbruch besonders? Kannst du ein paar Beispiele nennen?
Die Digitalisierung ist darum eine technische Revolution, weil sie alle gesellschaftlichen Bereiche neu strukturiert. Die Gesellschaft stellt sich nicht mehr nach dem Bild der Dampfmaschine her, und auch nicht mehr nach dem Bild des Fliessbandes, sondern nach dem Bild der universellen Rechenmaschine, der Informations- und Datenverarbeitung und der Vernetzung. Für die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft sind daher zunächst diese Neustrukturierungen zu bestimmen. In der Ökonomie gibt es, sehr holzschnittartig, vermittelt durch Techniken des Digitalen einerseits eine Steigerung der Produktivität, zugleich ist eine Entsicherung der Arbeitsverhältnisse und die Produktion der oben angesprochenen Überflüssigen zu beobachten.
In der Politik gibt es neue Techniken der Lenkung und der Überwachung, andererseits gibt es Potentiale für neue Formen des Kollektiven, für nicht-repräsentative Formen des Politischen, für Formen der Planung und (Selbst-)Steuerung jenseits von Staat und Markt. Im Bereich der Arbeit gibt es zum Teil Befreiung von stupider Arbeit, neue Fähigkeiten entwickeln sich, andererseits herrscht ein Zwang zur Kreativität und zur umfassenden Selbstoptimierung, eine ständige Entwertung bestehender Qualifikationen und sogar die erneute Verbreitung des Stücklohns auch in den (ehemaligen) industriellen Zentren.
Das Merkmal der derzeitigen Konstellation von Mensch und Maschine ist ihre fortgesetzte Verschränkung, die sich zugespitz in einem kybernetischen Regelkreis darstellen lässt: Die Maschine wird vom Menschen überwacht, der von einer Maschine überwacht wird, die von einem Menschen, ad infinitum. Das hat direkte Auswirkungen auf das Selbstverhältnis der Menschen, ihr Sicherheitsgefühl, ihre Lebensentwürfe. Und daraus resultieren natürlich auch neue Arten der Arbeitskämpfe und sozialen Auseinandersetzung.
Zuletzt hat das der Deliveroo-Streik in London im Bezug auf die sogenannten Gig-Economy eindrücklich vorgeführt. Vorgänge am Finanzmarkt beschleunigen sich weit über das Mass menschlichen Aufnahmevermögens durch die Computerisierung. Diese Kapitalverschiebungen an den Finanzmärkten sind ein Zwischenschritt zur weiterer produktiver Verwertung von Kapital. Zugleich scheint eine Entkopplung des in der Sphäre der Finanzen bewegten Kapitals von diesen produktiven Bereichen stattzufinden. Das geht mit neuen Formen der Aneignung und Umverteilung, der Ausbeutung und der Abhängigkeit einher, zum Beispiel durch Verschuldung und Austeritätsprogramme, in deren Folge ganze Volkswirtschaften und Wohlfahrtsstaatssystem umgebaut werden.
Wir behaupten nicht, dass alle diese Phänomene direkt aus der Digitalisierung folgen, aber dass sie unter Anderem über die Techniken des Digitalen miteinander vermittelt sind. Oder wenn man es nocheinmal stärker formuliert möchte: Die Digitalisierung ist die technologische Grundlage, die alle diese Bereiche verändert, auch da, wo man es ihnen gewissermassen von Aussen ersteinmal nicht ansieht. Sie ist deshalb die Bedingung und Grundlage der Kritik an den gegenwärtigen Verhältnisse. Ähnliche Tendenzen lassen sich dann für die Geschlechterverhältnisse, den Bereich der Kunst und das Verhältnis zur Natur zeigen.
Zum Beispiel?
Ich greife zwei Momente heraus, die die Geschlechterverhältnisse betreffen. Einerseits ist der Zugriff auf den (eigenen) Körper durch Medizin und Technik, durch Medikamente und Drogen, Operationen, etc. so gross wie nie zu vor. Andererseits lassen sich Retraditionalisierungstendenzen feststellen: Vater, Mutter, Kind, Basta. Mehr noch, die Bearbeitbarkeit des Körpers dient unter den derzeit gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen häufig dazu, solche traditionellen Verhältnisse herzustellen und sicherzustellen, statt aus ihnen auszubrechen. Das geschieht etwa da, wo sie Frauen*, die eine Karriere verfolgen und dafür den Kinderwunsch hinten angestellt haben, in den Stand versetzen auch in einem höheren Alter ‚biologische' Kinder zu bekommen. Das wäre erst einmal, ganz wertfrei gesagt, eine Erweiterung des menschlichen Möglichkeitsraums.
Schnell tritt jedoch die Klassendimension der ganzen Sache hervor, die Frage danach, wer sich was leisten kann und wer dafür die Arbeit verrichtet, welche Körper wozu ausgebeutet werden. Eine andere Einrichtung der Gesellschaft oder auch nur der Arbeitswelt, eine andere Verteilung der nötigen Sorgearbeit zwischen Partner*innen geraten aus dem Fokus. Patriarchale Strukturen bleiben unangetastet. Das sind Dimensionen, die die Rede vom angeblich ‚natürlichen Kinderwunsch der Frau' verdeckt, obwohl oder gerade weil er doch nur ‚unnatürlich' erfüllt werden kann. Die Gleichzeitigkeit dieser Phänomene verweist uns zudem darauf zurück, dass Geschlecht, Geschlechtercharaktere und -begehren grundsätzlich sozial verfasst und technisch hergestellt sind.
Und was hat das mit dem Internet bzw. der Digitalisierung zu tun?
Erstens war das Internet einmal ein Ort, an den ebenfalls die Hoffnung auf die Loslösung vom Körper und von geschlechtlichen Identitäten geknüpft wurden. Ziemlich genau das Gegenteil ist eingetreten. Vielfach wirkt das Internet als Verstärker für Sexismen, verlängert es die Normen und Hierarchisierungen, die die Welt beherrschen. Das überrascht nicht, bedenkt man, dass einer der Wegbereiter der kommerziellen Durchsetzung des Internets die auf cis-heteromännliches sexuelles Begehren ausgerichtete und dieses formende Pornoindustrie war. Auf die Befriedigung dieses Begehrens entfällt heute ein Löwenanteil der Internetnutzung.
Zweitens stellt das Internet die Informations- und Kommunikationskanäle bereit, die den internationalen Handel von Eizellen oder die Vermittlung von Leihmüttern ermöglichen oder zumindest erleichtern. Das zeigt erneut die Zwiespältigkeit. In diesem transnationalen Austausch sind Möglichkeiten solidarischer Selbstorganisierung enthalten. In der Realität macht sie allerdings vor dem Hintergrund globaler Arbeitsteilung und unterschiedlicher Rechtslagen vor allem die direkte Ausbeutung von Körpern möglich.
Noch einmal direkt gefragt: Warum soll ich mich als Linke mit der Digitalisierung beschäftigen?
Ganz einfach, weil die Techniken des Digitalen weiterhin ein und dieselbe kapitalistische Produktionsweise herstellen, aber alle gesellschaftlichen Bereiche sich auf ihrer Grundlage neu aufbauen. Egal in welchem Bereich ich als Linke aktiv bin, wofür ich mich interessiere – ich beschäftige mich unweigerlich mit den neuen Techniken. Es ist egal, ob mir das nun bewusst ist oder nicht.
Die Technik ist aber zugleich eine Grundsatzfrage der Kritik. Beide Aspekte gehören für uns zusammen. Ihre eigene Stellung zur Technik ist für die Kapitalismuskritik zentral, weil in der Technik die beiden Elemente der kapitalistischen Produktionsweise, Arbeit und Kapital zusammenkommen. Sie vermitteln sich über die Technik. Oder anders gesagt, der Kapitalismus ist bereits selbst eine Technik, die Arbeit und Kapital sowohl zu trennen als auch ins Verhältnis zu setzen und darüber zu reproduzieren. Die einzelnen Technologien verkörpern, wie immer ihre Gestalt konkret ausfällt, jeweils diese Technik der kapitalistischen Produktionsweise.
Übrigens haben Teile des deutschen Kapitals längst mitgeschnitten, das ein Umbruch im Gange ist und stellen sich neu auf. Unter dem Stichwort Industrie 4.0. laufen grosse Imagekampagnen mit Youtube-Filmchen und schicken Websites. Mit der Herstellung und dem Verkauf von automatisierten Fertigungsanlagen und Robotern versuchen die exportorientierte Kapitalfraktionen, zu denen Unternehmen wie Siemens gehören, ihre Vormachtstellungs auf dem Weltmarkt aufrechtzuerhalten. Auch die Bundesregierung, das Ministierum für Bildung und Forschung, das Wirtschaftsministerium usw. mischen fleissig mit. Dabei geht es um Konflikte zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen in Deutschland und Europa, aber auch darum Deutungshoheit herzustellen, Begriffe zu besetzten, den gesellschaftlichen Diskurs mitzubestimmen. Das zeigt, dass auch auf der Ebene der Ideologie Kritik und Aufklärung zu leisten sind.
In der öffentlichen Debatte ist, wenn kritisch auf Internet oder die Digitalisierung Bezug genommen wird, zumeist vom neuen Ausmass der Überwachung die Rede, das möglich wird. Facebook und Co. nennt man dann gerne ‚Datenkraken', weil ihr Geschäftsmodell auch auf der massenhaften Speicherung, Auswertung und dem Verkauf von Nutzer*innendaten basiert. Die Enthüllungen Edward Snowdens um die NSA 2013 haben staatliche Akteure in den Fokus gerückt. Wird es auf dem Kongress auch um Fragen von Überwachung und Datensicherheit gehen?
Natürlich versuchen Google, Facebook etc. Daten anzueignen und zu verwerten, allerdings Daten, die sie doch allererst hervorbringen. Eine Herrschafts- und Machtkritik, die annimmt, dass die Technik „uns“: die Menschen, das Kreative, die Subjektivität, die Kommunikation, das Gesellschaftliche, oder schlicht das „Leben“ aneignet und verwertet – oder in diesem Falle: auswertet und bewirtschaftet – läuft ins Leere, weil sie übergeht, dass die Technik allererst konstituieren und generieren muss, was sie aneignet und verwertet. Wollte man zum Beispiel versuchen, die eigenen Daten vor dem technologischen Angriff und Zugriff zu schützen und zu bewahren, so hat hat man bereits stillschweigend die Bedingungen der neuen Technik akzeptiert: Daten und zu generieren und als Informationen zu intepretieren. Richtet sich die Herrschaftskritik allerdings gegen die Technik selbst, kämpft sie auch gegen die Bedingungen dessen, was sie zu schützen und zu bewahren versucht. Die Ablehnung neuer Technologien erschöpft sich dann oft darin, sich einzurichten, Grenzen zu setzen, Nischen zu schaffen, demokratische Kontrolle zu fordern, einen subversiven Umgang zu versuchen.
Muss die Herrschaftskritik in den Papierkorb?
Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, natürlich geht es dabei um Macht. Der Einfluss der grossen Internetfimen ist enorm, gerade wo und weil sie Infrastruktur, Zugänge und Schnittstellen für und zu Informationen und Kommunikation bereitstellen und damit auch kontrollieren. Vorhaben wie free basics, mit denen Facebook in hundert ärmeren Ländern breiten mobilen Zugang zum Internet herstellen will, zeigen das deutlich: Zugreifen kann man nur auf zuvor ausgewählte und zusammengestellten Diensten. Was als gemeinnützige Tat daher kommt und werbewirksam so auch verkauft wird, entpuppt sich als neokolonialer Eroberungszug von gigantischem Ausmass. Zurecht war der Widerstand enorm. Die Verbindungen von Google, Facebook, Apple, IBM und Co mit Staaten und ihren Diensten sind dementsprechend intensiv. Dabei ist aber nicht von einem einheitlichen Block auszugehen, der alles und jeden lückenlos kontrolliert, sondern von unterschiedlichen Interessen und eben auch massiven Interessenskonflikten. Sie werden unter bestimmten Rahmenbedingungen ausgetragen und formen diese mit. Beides, die Interessenskonflikte und die Rahmenbedingungen, sollte eine Herrschaftskritik berücksichtigen, die nicht in verschwörungstheoretischen Gewässern nach ihrer Beute Fischen will.
Die Herrschaftskritik kann aber vor allem ihre eigenen Bedingungen nicht hintergehen. Sie muss deshalb auch danach fragen, was die Menschen überhaupt dazu bewegt, Daten zu erzeugen und zu verteilen. Geht es uns um Bequemlichkeit oder mehr? Wie hängen unsere Onlineaktivitäten mit der Welt, der Gesellschaft, den Bedingungen in der wir Leben (müssen) zusammen? Das alles wird Thema des Kongresses sein.
Die englischen Politikwissenschaftler Nick Srnicek und Alex Williams behaupten in ihrem „Manifest für eine akzelerationistische Politik“, dass die Linke sich mit ihrem Bezug auf das Lokale und Prozesse der Basisdemokratie in eine Sackgasse manövriert haben. Sie fordern einen Umgang mit Technologie, der ihre Möglichkeiten für die Organisiation einer befreiten Gesellschaft verwirklicht. Dafür dürfen wir, so ihre These, die technologische Entwicklung nicht verlangsamen, sondern müssen sie sogar noch beschleunigen. Dagegen hatten zuletzt der Aufsatz „Fuck Google“ des Unsichtbaren Komitees („Der kommende Aufstand“) die Runde gemacht, in dem die technologische Entwicklung als Mittel der Intensivierung von Herrschaft, Überwachung und Kontrolle verstanden wird. Wo verortet ihr eure Auseinandersetzung?
Uns geht es genau darum, die Diskussion dieser Positionen zur Selbstverständigung zu nutzen. Was ist die Stellung der Kritik zur Technik? Um das Feld zu vermessen, gilt es, jeweils die radikalen Positionen ins Feld zu führen, die sich gegenüberstehen. Sollen wir die Logik der neuen Techniken unterbrechen, die Schnittstellen trennen, die Technik sabotieren und uns entziehen? Oder sollen wir das Gemeinsame, das in der Technik versammelt ist, aneignen, müssen wir es erobern und allererst einlösen? Sollen wir die technologische Entwicklung noch beschleunigen, sie über-affirmieren und so die Entwicklung nach vorne auflösen? Oder geht es im Gegenteil darum, zu entschleunigen und uns auf ein Post-Wachstum einzustellen? Die zentrale Frage für uns ist dann, ob es eine dritte Position jenseits dieser Alternativen gibt, ob vielleicht die Alternative schon falsch formuliert ist und warum sie sich dann trotzdem mit solcher Hartnäckigkeit immer wieder einstellt.
Was erwartet uns auf dem Kongress?
Es gibt im Herbst nacheinander drei Kongresse zum Thema der neuen Technologien, erst in Köln, dann unseren in Hamburg und später einen weiteren in Berlin. Allein das zeigt schon, dass das Thema auf der Tagesordnung steht. Während der Kölner Kongress unter dem Titel „Das Leben ist kein Algorithmus“ in der Tradition einer sozialrevolutionär-autonomen Technikkritik auf Technik als Herrschaft einerseits, das wichtige Feld der technologische Selbstverteidigung andererseits zielt, und der Berliner Kongress der Rosa Luxemburg Stiftung sich primär für eine demokratische Aneignung der Technik für gesamtgesellschaftliche Zwecke interessiert, zielt unser Kongress auf die eben genannte Zuspitzung radikaler und einander mitunter gegenüberstehender Positionen. Insofern ergänzen sich die drei Veranstaltungen gut, auch wenn es grundsätzliche Unterschiede gibt.
Wir wollen uns weder einer bestimmten Positionen zuordnen noch einen faulen Kompromiss eingehen. Es geht um ein Sowohl-als-Auch der Positionen, um gemeinsam nach einem Weder-Noch zu suchen. Wir haben dafür Aktivist*innen und Theoretiker*innen, Künstler*innen und Organisationen eingeladen, mit denen wir eine solche Position diskutieren wollen, auch aus dem europäischen Ausland. Die Digitalisierung ist so oder so ein transnationales Phänomen. Auch in der Auseinandersetzung mit der Digitalisierung sollte versuchen, die nationalen Beschränktheiten hinter sichlassen. Wir hoffen deshalb auf rege internationale Beteiligung, beispielsweise von unseren Partnerguppen in der antiautoritären Plattform Beyond Europe, aber auch darüber hinaus
Und was versprecht ihr euch von dem Ganzen?
Grundsätzlich wünschen wir uns mit dem Kongress ein stückweit aus dem Politikmodus rauszukommen, der die letzten Jahre geprägt hat. Man kann den vielleicht als Feuerwehrpolitik bezeichnen. Man versucht einen Brand nach dem anderen auszutreten, ist aber immer zu spät und immer zu wenige. Nebenan zündet schon wieder jemand was an. Wir können diese Art der Politik natürlich nicht einsstellen. Ausserhalb der radikalen Linken machen das offensichtlich viel zu wenig Menschen. Aber überhaupt wieder in den Blick zu bekommen, dass das Ziel ist, dass garkeine Feuer mehr entstehen, ist schon eine Hoffnung, die wir mit dem Kongress verbinden. Dafür muss man, denken wir, Angebote formulieren. Und genau dafür scheint uns ein so grundlegendes Thema wie die Technik gut geeignet. Wer nach der Technik fragt, fragt notwendigerweise auch danach, wie diese Gesellschaft funktioniert. Und sie fragt danach, wie eine andere Gesellschaft funktionieren könnte. Wir sind, auch das sollte gesagt werden, natürlich nicht die ersten, die auf diesen Gedanken gekommen sind.
Wird auf euerem Kongress denn nur gelabert oder gibt es auch eine praktische Beschäftigung mit dem Thema?
Wir planen neben den Diskussionspanels auch Workshops und sind im Gespräch mit verschiedenen Gruppen. Die Teilnehmer*innen können beispielsweise Hilfe beim Verschlüsseln ihrer Festplatten in Anspruch nehmen und angeleitet erste Schritte auf den Weg zur digitalen Selbstermächtigung gehen. Das ist auch für uns ein erkenntnisreicher Schritt aus den eigenen Milieus heraus. Ausserdem wollen wir uns gemeinsam den Hamburger Hafen, immerhin der zweitgrösste Containerhafen Europas, einmal genauer anschauen. Hier kann man sehr gut nachvollziehen, wie in der Logistik Digitalisierung und Weltmarkt zusammenkommen. Und es zeigt sich, welche Konflikte und Spannungen dabei entstehen. Die könnten ja für die radikale Linke durchaus interessant sein. Insofern freuen wir uns besonders den vierten …ums Ganze! Kongress gemeinsam mit den grossartigen Hamburger Genoss*innen von der Gruppe für den organisierten Widerspruch auszurichten.
Im Zentrum steht aber ganz klar die Analyse sowie Diskussion der politischen und strategischen Folgen dieser Analyse, einfach weil wir denken, dass hier – auch eigener – Gesprächsdedarf besteht. Auf die ein oder andere Überraschung darfst du dich dabei schon noch freuen.
Wird Technologie in der Politik von ums Ganze! abseits des Kongresses eine Rolle spielen? Habt ihr bereits etwas geplant?
Es wird wohl eher so sein, dass das Thema generell Eingang finden wird oder schon Eingang gefunden hat in die verschiedenen Bereiche, in denen wir aktiv sind. Insofern läuft das aber schon auf eine zumindest tendenzielle Neuausrichtung hinaus. Wir wollen mit dem Kongress die Diskussion um Politikfelder, -formen und –strategien vorantreiben und ihr einen Ort geben. Antinationale Kapitalismuskritik muss sich auf der Höhe ihres Gegenstands bewegen und ihre Kritik an dessen Stärke ausrichten – und der Kapitalismus bezieht seine Produktivkraft, die Verwertung der Arbeit und der Kapitale, seine Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle, der Steuerung der Migration und der Waren- und Kapitalströme usw. auch aus den Techniken des Digitalen.
Zum Abschluss: Was soll die geheimnisvolle Formulierung von der kommunistischen Wette, die den Untertitel von eurem Kongress beschliesst? Findet linksradikale Politik jetzt im Casino statt?
Die Figur der Wette ist alt und war ursprünglich die Wette darauf, dass es einen Gott gibt, und zwar auch dann, wenn es keinen überzeugenden Gottesbeweis gibt. Sie hat dann im Nachgang der Aufklärung eine Reformulierung und Verweltlichung erfahren, nämlich gerade dadurch, dass der Mensch nichts als der eigenen Existenz ausgesetzt und auf sich allein gestellt ist. Aus dem politischen Handeln kann das folgen, worauf man, so lange es noch nicht realisiert ist, eben nur setzen kann. Wir denken, die Wette auf eine kommunistischen Gesellschaft ist kein Glücksspiel, sie liegt in den Möglichkeiten des Bestehenden beschlossen. Diese Möglichkeiten zu bestimmen und zu verwirklichen, das liegt natürlich an uns.
Theoretisch vollständig und mit Sicherheit vorwegnehmen lassen sie sich nicht. Was aber gesagt werden kann ist, diese Möglichkeiten sind uns nicht ohne die Technik gegeben. Wie immer wir uns zur Technik in Stellung bringen – dass wir uns überhaupt auf unsere Gesellschaft beziehen, auf eine Produktionsweise und ihre Mittel, auf unsere Arbeitskraft, deren Qualifikation und ihre Verkauf, auf unser Geschlecht und wie wir es infrage stellen – all das ist bereits: Technik.