So hiess es in einem Text des anarchistischen „Revolutionsbräuhof“ aus dem Jahre 1998: „Viele Leute können sich nie auf freiwilliger Basis organisieren? Ach ja? In einem ‚Kommunikationszeitalter', in dem wir ja angeblich leben, sollte ausgerechnet das leichter möglich sein als zu vorsintflutlichteren Zeiten. Wo Telefon, Fax, Datenleitung, Computer und Internet es erleichtern, Zugang zu Informationen zu erlangen und zu vermitteln. Wo Wissen immer mehr verallgemeinert wird, zieht auch irgendwann die alte Ausrede, dass die ‚Köchin nicht in der Lage ist, den Staat zu regieren' nicht mehr. Klar kann sie's heute, wenn sie will.“ [1]
Heute wird die Utopie der schrankenlosen Digitalisierung als etwas auch sozial Fortschrittliches nur noch von den kapitalistischen Sprechpuppen der Reichen, der FDP, mit ihrem Slogan der „Technologieoffenheit“ vertreten. Diese wird, vermittelt über den Autofetischisten und Bundesverkehrsminister Wissing, in der antiökologischen Produktions-„Luxusstrategie“ der deutschen Autofirmen derzeit umgesetzt. [2] Noch beim „Arabischen Frühling“ 2011/12 wurden die sozialen Medien als „progressiv“ oder zumindest in emanzipativem Sinne einsetzbar angesehen. Grund dafür waren Dokumentationen zu den Formen der Repression gegen die anfangs in Tunesien, später in Ägypten, in Syrien oder dem Sudan stattfindenden Massenbewegungen gegen Diktaturen, die gewaltfrei verliefen. Doch diese Euphorie ist längst verflogen.
In der BRD: Studie zum digitalen Faschismus
2019 veröffentlichten die Forscher Maik Fielitz und Holger Marcks die Studie „Digitaler Faschismus. Herausforderungen für die offene Gesellschaft in Zeiten sozialer Medien“. Sie konstatieren darin, dass die ursprünglich mit dem Internet verknüpfte Utopie einer durch die Digitalisierung aufgeklärten Gesellschaft, die sogar die kommunikativen Vorteile einer face-to-face-Demokratie mit Vollversammlungen, Plena oder gruppenorientierten Konsens-Sprecher*innenräten weit übertreffen könne, historisch nicht in Erfüllung gegangen ist. „Stattdessen beobachte man im Internet Unmengen an reaktionären Inhalten, die mit viraler Geschwindigkeit Verbreitung fänden – darunter auch rechtsextremes Gedankengut. Besonders den sozialen Medien kommt dabei eine wesentliche Rolle zu, wie die Untersuchung ergab.“ [3]Insgesamt, so Fielitz/Marcks weiter, sei dieser digitale Faschismus aufgrund der zentralen Rolle, die die Sozialen Medien bei deren Kommunikation spielten, „nicht mehr so hierarchisch organisiert, wie wir das kennen. Deswegen hantieren wir auch mit dem Begriff des digitalen Faschismus.“ Es gebe dabei „eine Verquickung zwischen digitalen Kulturen, die visuell funktionieren über Bilder, über Ironie, über Spass, die eben zusammengehen mit einer rechtsextremen Ideologie und versuchen, eine digitale Hasskultur zu schaffen.“ [4] Fielitz/Marcks schlussfolgern, dass wir die Strukturen dieser Medien angreifen müssen, wenn wir uns ihren rechten Dynamiken entgegenstellen wollen.
Es war die emanzipative Technikkritik, die wir in der Anti-AKW-Bewegung der 1970er- bis 1990er-Jahre entwickelt haben, die wir dem Marxschen Duktus von der automatisch emanzipativen Funktion der „Entfesselung der Produktivkräfte“ entgegensetzten. Damit meinten wir, ein technisch so komplexes Gebilde wie z.B. ein Atomkraftwerk könne von der Belegschaft gerade nicht selbstverwaltet werden, ohne zur Katastrophe zu führen. Nun scheint auch eine Technodystopie einzusetzen, da die Sozialen Medien zunehmend von Nazis und Rechtsextremen hegemonial besetzt werden.
Die extreme Rechtsentwicklung der Sozialen Medien in den USA
Laut der unabhängigen und kritischen New Yorker Journalistin Angela Nagle hat der anti-emanzipatorische Umschlag der Nutzung in den Sozialen Medien in den USA im Jahr der Trump-Wahl 2016 stattgefunden. Das gilt auch für die neofaschistischen Kulturkämpfe der Neuen Rechten in den USA (Alt-Right = Alternative Right, wie ja auch in der BRD die Neofaschist*innen derzeit das Wort „Alternativ“ hegemonial besetzen, während es in den 1980er- und 1990er-Jahren noch für eine ökosozialistische, alternative Gesellschaftsumwandlung stand). Heute ist diese reaktionäre Nutzung vieler Social-Media-Plattformen, besonders „4chan“ und „Tumblr“ [5] entscheidend beim Kampf der neofaschistischen Rechten in den USA, Trump wieder an die Macht zu bringen.Bereits 2019 hatte die Investigativjournalistin Julia Ebner in ihrem Buch „Radikalisierungsmaschinen“ davor gewarnt, dass gerade die neuen Technologien der Sozialen Medien von Extremist*innen ausgenutzt werden können, sie sozusagen „diktaturoffen“ seien. [6]
Angela Nagle beschreibt nun diese „digitale Gegenrevolution“, ausgehend von der hegemonialen Form, die sie in den USA seit 2016 annimmt, wie folgt:
„Es ist erst ein paar Jahre her, dass die linken Cyber-Utopisten behaupteten, ‚die Empörung' habe sich vernetzt, die etablierten alten Medien könnten die Politik nicht weiter kontrollieren und der neue öffentliche Raum würde zukünftig auf führerlosen, nutzergenerierten sozialen Medien beruhen. Dieses Netzwerk ist tatsächlich gekommen, doch es hat nicht der Linken, sondern der Rechten zur Macht verholfen. (…) Jene Linken (…) bemerkten nicht, dass die führerlose Form uns in Wirklichkeit wenig über den philosophischen, moralischen oder begrifflichen Inhalt der jeweiligen Bewegung verrät. (…) [So] müssen wir seither beobachten, dass dieses führerlose Gebilde so ziemlich jede Weltanschauung annehmen kann, sogar – so seltsam das auch scheint – die der äussersten Rechten.“ [7]
Die besondere Zuspitzung und Aggressivität, die sich in den Sozialen Medien heute mehr und mehr Bahn bricht, ist Ergebnis der Transgression, der Grenzüberschreitung. Diese hat sich die Neue Rechte in den USA von den 1968er-Vertreter*innen der linken Grenzüberschreitung, etwa des Surrealismus, angeeignet und mit eigenen Inhalten besetzt, „denn das Plädoyer für Gleichheit ist fundamental eine moralische Aussage“. Und: „Das Verständnis von Dominanz als sexueller ‚Souveränität' sowie die ‚Befreiung des Es von den Fesseln des Bewusstseins' gehen alle auf diese Tradition der Transgression zurück. Genau wie Nietzsche bei den Nazis Anklang fand, weil über ihn ein rechter Antimoralismus formuliert werden konnte, so wird genau dieses grenzüberschreitende Selbstverständnis momentan in der Online-Welt der Alt-Right benutzt, um die äusserste Entmenschlichung von Frauen und ethnischen Minderheiten zu entschuldigen und zu rationalisieren.“ [8]
Zwei Stars des US-Online-Faschismus: Milo Y. und Richard Spencer
Mit ihrem exzessiven und aggressiven Antifeminismus, ihrem Rassismus und ihrer Homophobie gelang es der Online-Alt-Right, in den USA die kulturelle Hegemonie über eine andere inhaltliche Besetzung der Sozialen Medien als etwa durch libertär-sozialistisch inspirierte Basisbewegungen seit 1968 zu erringen. Dabei bildete die Faschosphäre Stars heraus, mit teilweise absurd-grotesken Konstellationen der Grenzüberschreitung, von denen hier zwei Personen stellvertretend für dieses Phänomen vorgestellt werden.Milo Yiannopoulos „war zweifelsohne der grösste Star, der aus dem Aufstieg der Trump'schen Online-Rechten hervorgegangen ist. (…) Milo hat mehr als jeder andere dafür getan, dass die Alt-Right ein salonfähiges Gesicht bekam, indem er selbst über ihre schlimmsten faschistischen Ausformungen positiv berichtete – obwohl er selbst schwul und jüdischer Abstammung ist.“ Milo diffamierte in hunderttausendfach angesehenen Videos von seinen Auftritten an Universitäten in den USA und von Grossbritannien die „politische Korrektheit, den Feminismus, den Islam, Black Lives Matter und den westlichen Liberalismus allgemein“. [9]
Wo so viel kaum noch kulturell umpolbare Aggressivität sich in den Sozialen Medien breit gemacht hat, sollte heute in emanzipativen Gruppen jegliche Illusion in die progressiven Kräfte des Internets verloren gegangen sein.
Richard Spencer wiederum prägte den Terminus „Alt-Right“ und vertritt die Meinung, „nicht-weisse Amerikaner*innen sollten im Rahmen einer ‚friedlichen ethnischen Säuberung' das Land verlassen. (…) Der erste Schritt solle die Deportation papierloser Einwanderer*innen unter Trumps Ägide sein, danach sei das Ziel ‚negative Migration' und schliesslich ein weisser Ethno-Staat.“ In dem von ihm geleiteten „National Policy Institute“ rief er bei einer Veranstaltung vor 300 Besucher*innen: „Heil Trump, heil unserem Volk, Sieg heil!“ [10]
Faschistische Transgressionen und Mannosphäre
„Der von Yiannopoulos verkörperte rechte Stil steht für die Verknüpfung der ironischen, respektlosen, Tabus zertrümmernden Kultur von 4chan mit der Politik der Rechten. (…) Als ein Hervorbrechen des Es, das die Fesseln politisch korrekter Sprache abgeworfen hat, steht die Online-Mentalität unflätigen Kommentarspalten-Trolls näher als Bibelstunden. Sie ist mehr ‚Fight Club' als Familie, dem Marquis de Sade verwandter als Edmund Burke.“ [11] Yiannopoulos' sah zu Zeiten seiner Beliebtheit in den USA in erster Linie den Feminismus als Hauptfeind an. „Später schrieb er sich das Motto ‚feminism is cancer' (Feminismus ist Krebs) auf die Fahnen, welches auch als T-Shirt-Kollektion erhältlich war.“ [12]Dies vermengen die Alt-Right-Faschos auch noch mit dem typisch US-amerikanischen Waffenwahn: „Nach dem islamistischen Massaker in Orlando, Florida, 2016 reiste Yiannopoulos dortin (…), um zu einer trauernden Menge zu sprechen. Er nutzte den Moment nicht nur, um sich gegen die Einwanderung von Muslimen auszusprechen, sondern auch für Waffenbesitz.“ [13]
Wie sehr die Transgression von Grenzen inzwischen dem digitalen Faschismus zugute kommt und hegemonial geworden ist, zeigt die Tatsache, dass sich Yiannopoulos in seiner Causa pro Waffen hier explizit auf ‚Negroes with Guns', Robert F. Williams radikalen Ruf zu den Waffen [14], bezog, der damit in die Sphäre des digitalen Faschismus integriert wurde. Erwähnt werden im Rahmen dieses aktuellen faschistischen Digitalmilieus muss noch die sogenannte „Mannosphäre“. Ursprünglich gab es zu Anfang der 1990er-Jahre eine entstehende, in grossen Teilen emanzipativ gedachte „Männerbewegung“, zu der auch Gruppen „Männer gegen Männergewalt“ zählten.
Seither hat sich aber eine frauenfeindliche, von ihrer maskulinistischen Tendenz hegemonial dominierte „Männerrechtsbewegung“ oder „Incel-Sphäre“ entwickelt, die vor allem in den USA nun die Sozialen Medien überschwemmt. „Die zahlreichen Internetseiten, Subkulturen und Selbstbilder, die zu dieser antifeministischen Internetbewegung gehören, sind in solchem Masse aus dem Boden geschossen und gewachsen, dass dies zweifellos als ‚digitale Revolution' verzeichnet worden wäre, wenn es sich um andere kulturelle und politische Milieus gehandelt hätte.“ Es ist dies eine (Un-)Kultur, „deren Frauenfeindlichkeit ziemlich schaurige Ausmasse erreicht“. [15]
In den Online-Kämpfen „zählten zu den wichtigsten Webseiten der Mannosphäre ‚PhilosophyOfRape' (Philosophie der Vergewaltigung) auf ‚Reddit', wo man Themen wie ‚korrektive Vergewaltigung von Feministinnen' finden konnte“. James C. Weidman betreibt einen „Männerrechtsaktivismus- und Aufreisskunst-Blog, der evolutionäre Psychologie, Antifeminismus und weisse Vormachtstellung (white advocacy) vermengt. Im Blog heisst es, die wirtschaftliche Freiheit der Frau führe zum Zusammenbruch der Zivilisation.
Weidman zufolge wird die weisse Zivilisation durch ‚Rassenmischung', Einwanderung und die niedrigen Geburtenraten weisser Frauen – die er dem Feminismus anlastet –, zerstört. Dieser Niedergang könne nur durch die Deportation von Minderheiten und die Wiedereinführung des Patriarchats rückgängig gemacht werden.“ [16] Dabei sind solche aggressiven und brutalen Transgressionen, die für die digital-faschistischen Sozialen Medien typisch sind, gerade Ausdruck der zeitgenössischen Form des Patriarchats.
Nun wissen wir also, dass die von der AfD in ihrem Potsdamer Treffen propagierte Strategie der Massendeportation von Einwanderer*innen in den USA eine Vorgeschichte hat – und nur importiert worden ist. Wo so viel kaum noch kulturell umpolbare Aggressivität sich in den Sozialen Medien breit gemacht hat, sollte heute in emanzipativen Gruppen jegliche Illusion in die progressiven Kräfte des Internets verloren gegangen sein. Vielleicht führt es ja dazu, dass wir bei Hüttendörfern, bei Waldbesetzungen und künftigen Aktionscamps wieder auf Face-to-Face-Entscheidungsformen wie das Konsenssystem setzen und uns von der immer aggressiver auftretenden Faschosphäre der Sozialen Medien emanzipieren.