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Zivilgesellschaft nach Snowden

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Alternativen zur Black-Box-Politik von Regierungen und Konzernen Zivilgesellschaft nach Snowden

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Digital

In der Debatte um die NSA-Enthüllungen fällt oft das Schlagwort von der Post-Snowden-Welt. Es suggeriert nicht zuletzt, dass die Zivilgesellschaft einen neuen Weg eingeschlagen hat. Doch stimmt das?

Zivilgesellschaft nach Snowden.
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Zivilgesellschaft nach Snowden. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

Datum 29. Oktober 2015
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Haben wir bereits tatsächlich Alternativen zur Black-Box-Politik von Regierungen und Konzernen? Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki entwirft ein Bild von den Commons als Modell für eine solche Alternative:

Wie wird etwas relevant für alle? Wie entsteht Öffentlichkeit und damit eine Art common ground, auf dem die Grundlagen des Zusammenlebens verhandelt werden können? Diese Fragen sind relevanter denn je. Die Debatte um die NSA-Enthüllungen zeigt dies exemplarisch. In Bezug darauf heisst es, wir leben heute in der Post-Snowden-Welt. Das soll bedeuten: Es ist keine paranoide Legende mehr, dass unsere Demokratien durch einen staatlich-privaten Sicherheitskomplex untergraben werden. Jetzt gibt es durch die Snowden-Leaks Beweise dafür. Soweit die Theorie.

Praktisch sind wir derzeit nicht in der Lage diesen Paradigmenwechsel aktiv zu gestalten. Es fehlt uns der Zugriff – die Black-Box-Politik sowohl staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Akteure bleibt wirkmächtig. Daher ist die Post-Snowden-Welt keine greifbare Realität für uns. Wie können wir dieses Dilemma überwinden? Wie können wir die Öffnungen, die die Snowden-Leaks in den Strukturen der Black-Box-Politik generieren, in Wissen überführen? Wie können wir ein solches Wissen nutzen, um die Post-Snowden-Welt gemeinsam zu erschaffen?

Debatte um unsere Lebensgrundlagen: Die Commons

Diese drängenden Fragen können auf unterschiedlichen Ebenen angegangen werden. Es gilt Handlungsfelder und damit verbundene Ziele abzustecken: von der Auswertung und Archivierung der Snowden-Dokumente bis hin zu der Durchsetzungvon demokratischer Kontrolle über Daten. Es ist aber auch genauso notwendig eine öffentliche Verständigung darüber einzuleiten, was die Grundlagen des Zusammenlebens sind. Und wie eben jene Grundlagen aus unserer Mitte heraus verwaltet, genutzt und bewirtschaftet werden können.

Diese allgemeine, gesellschaftstheoretische Debatte gilt es nicht nur innerhalb der Wissenschaft oder intellektuellen Elite zu initiieren. Sie sollte offen für jedermann sein. Im Zentrum dieser Öffnung könnte ein radikaldemokratisches Konzept stehen, das sich inzwischen zu einer Bewegung gemausert hat. Es hört auf Wörter wie Allmende, Gemeinschaftseigentum, Gemeingüter. Oder noch griffiger: Commons.

Was passiert mit unseren Commons, wenn Privatisierung weiterhin so rasch voranschreitet wie in den vergangenen Dekaden? Was für Commons werden wir im Zuge dessen verlieren? Was sind heute überhaupt noch Commons und was könnte aus ihnen werden? Diese Fragen beschäftigen uns seit den 1980ern, als öffentliche Einrichtungen begannen, das Spielfeld Konzernen zu überlassen. Seit einigen Jahren bekommt diese Problematik einen neuen Drall. Nun geht es nicht mehr allein um den Verlust von einstigen Commons, sondern auch um den Verlust von Commons, die wir als solche weder erkannt noch erkämpft haben. Katalysator dieser Veränderung ist das Internet.

Unsere Daten und Werke: Welche Verantwortung haben die IT-Riesen

Im Netz kommunizieren wir offen und ohne Unterlass, produzieren und teilen Wissen, arbeiten zusammen. Im Zuge dessen produzieren wir Unmengen von kostbaren Rohstoffen und Werken: ob Big Data, die wir grossenteils kollaborativ hervorbringen oder crisis maps, die, von BürgerInnen in den betroffenen Gebieten erstellt, Regierungen bei ihren Rettungseinsätzen einsetzen; ob flüchtige Erzeugnisse, die bei Aktionen von flash mobs aufkommen oder weitgehend unsichtbare Arbeiten, die im dark web entstehen; ob prekäre Produktionen im Milieu der Fankulturen oder in politisch engagierten Gruppen eines sozialen Netzwerks wie Facebook. All das findet meistens auf kostenlosen Plattformen privater Anbieter statt.

Doch was passiert, wenn ein privatwirtschaftlicher Infrastrukturanbieter über Nacht entscheidet, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen? Oder alles zu verkaufen? Hat er gegenüber der Öffentlichkeit eine Verantwortung? Der IT-Konzern Google etwa hat gezeigt: Wenn ein Geschäftsmodell bei einem seiner Produkte nicht aufgeht, kann auch die Beschwörung des Weltkulturerbes nichts am Rückzug ändern. Ein Beispiel wäre der beliebte Google Reader, der trotz Gegenwehr seitens der Bürger eingestellt wurde. Und so fragt sich auch bei Google Books, ob das grossangelegte Vorhaben, die Weltbibliothek zu digitalisieren, von einem IT-Konzern verfolgt werden sollte – von einem Player also, der seine Zuständigkeit für das Weltwissen an Profitabilität bemisst.

Ein Bewusstsein für neu entstehende Commons

Obwohl die neuen Formen des Öffentlichen nicht nachhaltig durch Privatvermögen getragen werden können, gibt es dafür keine öffentlichen Strukturen. So stehen heute sowohl die digitalen Avantgarden als auch staatliche Einrichtungen vor einer historischen Herausforderung: Was wird aus neu entstehenden Commons im Bereich von Kultur und Wissen? Hier rücken kollektive Formen von Wissen, Technologie und Leben ins Blickfeld, die heute unter prekären Bedingungen gedeihen, die wir aber morgen in unsere Commons transformieren könnten. Die Forderung der Gegenwart besteht daher darin, dass wir für unsere Noch-Nicht-Commons ein Bewusstsein entwickeln – also für jene Commons, die wir als solche noch nicht begreifen, noch nicht verantworten und pflegen.

Das grosse Potenzial dieser Herangehensweise: Sie kann auf alle Bereiche angewendet werden. Sowohl auf materielle Güter als auch auf Nicht-Mehr-Commons. Also auf Güter, die wir schon lange oder erst kürzlich durch Privatisierungsprozesse als Commons verloren haben. Wasser oder Couchsurfing zum Beispiel. Wenn wir sie als Noch-Nicht-Commons in Stellung bringen, verlagert sich der Blick von dem Gestern auf das Morgen, vom Verlorenen auf das Mögliche. Das hat vor allem zwei Implikationen. Noch-Nicht-Commons als Instrument des politischen Denkens und Handelns – das erweitert den Katalog der Commons, weil nun buchstäblich alles Erdenkliche berücksichtigt werden kann. Das ermöglicht neue soziale, kulturelle und ökonomische Formen, die im Geiste des Gemeinsamen kollaborativ hervorgebracht und gestaltet werden können.

Bedrohung für Commons: Black-Box-Politik

Die Forderung, die die Gegenwart an uns stellt, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was unsere Noch-Nicht-Commons sind, bekommt durch die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden ein neues Gewicht. Denn es wird deutlich, dass neben der Privatisierung, eine neue, womöglich noch grössere Bedrohung erwachsen ist – für die Gesellschaft im Allgemeinen und für Commons im Speziellen: Black-Box-Politik.

Seit NSA-Gate sehen wir eine besorgniserregende Entwicklung um einiges deutlicher: Während Bürger kein Geheimnis mehr haben sollen, sichern Global Player ihre Monopole mit Geheimnissen ab. Das heisst: Während sozialer Inklusionsdruck im techno-ideologischen Massenstandard der informationellen Selbstentäusserung aufgeht, vollzieht sich die Aufwertung des Geheimnisses als zentrales Kapital politischer und ökonomischer Macht. Indes wiederum Transparenz-Forderungen gegenüber Institutionen Konjunktur haben, siedeln Regierungen und Konzerne ihre gemeinsamen Interessen in einer schwer einhegbaren Grauzone an. Snowdens Enthüllungen zeigen, wie unkontrolliert sich in dieser Grauzone das Staats- mit dem Geschäftsgeheimnis vermengt. Infolge dessen entsteht inmitten unserer Gesellschaft eine Black Box, die proto-feudalen Charakter hat: Ein Aussen im Innen, wie ein Palast oder eine Schatzkammer.

Auch das vermeintlich Wertlose als Commons denken

In der Welt der Black-Box-Politik haben solche Orte immer auch eine komplementäre Kehrseite. Das offenbart beispielsweise dieDokumentarfilm-Trilogie (2006/2010/2014), die Laura Poitras über die Folgen des War On Terror gedreht hat. Sie widmet sich nicht nur Datenzentren, sondern auch Gefängnissen – als zwei Seiten der gleichen Medaille. Hier die soziale Schatzkammer, wo Kommunikationsdaten, wie Öl gehandelt werden. Dort die soziale Endstation, wo Menschen, wie Müll behandelt werden. Damit zeigt sich, dass sich der Kampf um die Noch-Nicht-Commons nicht nur um das Kostbare in unserer Gesellschaft drehen kann. Ob es uns passt oder nicht: Wir müssen auch das veremeintlich Wertlose in unser Commons-Denken integrieren. Also nicht nur Atomkraftwerke, sondern auch Endlager, nicht nur Pharmalabore, sondern auch Chemiemüll-Deponien.

Die Black-Box-Politik ermöglicht und stärkt solche Zonen. Darüber hinaus eine Fülle von Orten, die im Volksmund als “Hinterzimmer” in aller Munde sind. Beispielsweise Treffpunkte der offiziellen Oberklasse, in denen Volksvertreter und Konzernbosse geheime Absprachen treffen und ebenso geheime Verträge abschiessen, wie beispielsweise bei den Verhandlungen über eine transatlantische Freihandelszone: Die Verhandlungsführer sind weder bekannt noch demokratisch legitimiert, die genauen Vertragstexte, sei es TTIP, CETA, TPP oder TiSA, sind geheim.

Die Kehrseite davon sind die Hinterzimmer der “inoffiziellen Oberklasse”, in denen die Vertreter der organisierten Kriminalität mit ihren Partnern gemeinsame Geschäfte beschliessen. Und nicht zuletzt Orte, an denen sich beide Welten, die offizielle und die inoffizielle, treffen – im Millieu der Schattenbanken etwa. Weil es von ihnen keine Bilder geben darf, gelangen sie eigentlich nur in der kollektiven Vorstellung zu Konturen. In der populären Imagination, die die Massenmedien stimulieren, werden Limousinen, Yachten oder Privat-Jets, oder auch Golfplätze und Gärten als solche “Hinterzimmer” genutzt. Doch, wie Slavoj Žižek erinnert, die Tatsache, dass hier paranoide Verschwörerungstheorien beflügelt werden, sollte nicht davon ablenken, dass es diese Orte gibt und dass sie Schauplätze von tatsächlichen Verschwörungen sind.

Black Box in unserer Mitte

Während die Black-Box-Politik eine enorme Konjunktur erfährt, nehmen die Orte und Nicht-Orte, die diese Politik hervorbringt, eine immer grössere Bedeutung in unserer Gesellschaft ein. Dabei bleiben sie weitgehend unsichtbar und entziehen sich systematisch dem Blick der Öffentlichkeit. Je mehr Raum sie einnehmen, desto grösser der Drang das Geheimnis zu hüten, welches die Macht konstituiert. Desto grösser der Drang jenseits der allgemeinen Sichtbarkeit zu operieren. Das räumliche Wachstum geht mit einer Kanonisierung von dubiosen und kriminellen Praktiken einher, etwa Vetternwirtschaft, Korruption und Lobbyismus. Auf diese Weise entfalten die Kraftwerke der Black-Box-Politik eine grosse Strahlkraft. Doch ihre Wirkung auf die gesamte Gesellschaft entzieht sich unserem Fassungsvermögen. Schliesslich ist sie Teil des Geheimnisses – Christoph Hochhäuslers Film “Die Lügen der Sieger” (2015) reflektiert dies besonders denkwürdig am Fall des millardenschweren Lobbyismus der Pharma-Industrie für ein EU-Gesetz.

Es liegt auf der Hand, dass die Black-Box-Politik einen zentralen Dreh- und Angelpunkt für unsere Gesellschaft entstehen lässt. Und wir ahnen bereits so viel: Alles, was uns ausmacht als Gesellschaft könnte künftig von diesem Punkt aus gedacht, kalkuliert und bestimmt werden. Wie wir leben und wirtschaften. Wie wir uns als Gesellschaft sehen. Denn die Black Box avanciert klammheimlich auch zum identitätsstiftenden Gemeinsamen – also zu dem, das unserer Gesellschaft Sinn gibt, weil es das quasi-göttliche Zentrum unserer Kollektivität ausmacht.

Wollen wir uns als Gesellschaft tatsächlich über eine Black Box in unserer Mitte definieren? Wollen wir, dass das gesellschaftliche Zusammenleben einmal wieder aus einem unzugänglichen Palast heraus geformt wird, darunter auch die Zugänge zu unseren lebenswichtigen Grundlagen und Ressourcen? Sollten wir uns damit begnügen nichts anderes zu sein als eine Gesellschaft des Nicht-Wissens und Nicht-Kümmerns? Oder sollten wir stattdessen das Teilen von Wissen und Verantwortung stark machen, um das grosse Wir unserer Gesellschaft zu stiften? Sollten wir statt des Geheimnisses das Gemeingut, also Commons, in unsere Mitte stellen? Sollten wir etwa den zu 75% von uns kollaborativ hergestellten Rohstoff, aus dem Big Data besteht, in Commons verwandeln?

Diese drängenden Fragen stellen sich in einer Zeit, in der wir vergessen zu haben scheinen, was Commons überhaupt sind – müssen sie doch in der Ära des Arcanums wie eine Anomalie erscheinen. Umso wichtiger ist es, dass sich all die unterschiedlichen Forderungen und Widerstände angesichts der allgegenwärtigen Systemkrise auf ein Gemeinsamens besinnen. Die Commons-Idee hat gegenwärtig beste Vorraussetzungen, um diese Lücke zu füllen.

Krystian Woznicki
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.