Mit «Staat» meint Lobo in diesem Fall vor allem den deutschen Staat. Aber auch die USA. Dort sind sie schon ein bisschen weiter. Eng vernetzt mit den Geheimdiensten Grossbritanniens, Australiens, Neuseelands und Kanadas. Und eben auch mit Deutschland, wie die «Süddeutsche Zeitung» täglich bis Ende November berichtet. Heute zum Beispiel: «50 US-Beamte überprüfen Reisende in Deutschland».
Unser nördlicher Nachbar dient als Basis für US-amerikanische Drohnenoperationen mit tödlichen Folgen, schickte für den Irak-Krieg, an dem die Bundesrepublik offiziell nicht teilnahm, Geheimagenten nach Bagdad und zahlt Millionen für das US-Militär in Deutschland. Bis Ende November dürfte sich die Veröffentlichung der gemeinsamen Recherchen der «Süddeutschen» mit dem Norddeutschen Rundfunk NDR zu einer grösseren Affäre auswachsen. Auch wenn die anderen Medien, von «Spiegel online» bis zur ARD-«Tagesschau», zurzeit noch schweigen. Aber die Komplizenschaft der Machthaber bei der Überwachung der Bürgerinnen und Bürger in den «freiheitlichen» Staaten des sogenannten Westens gewinnt jeden Tag ein schärferes Profil.
Die Schweiz arbeitet, wie uns Bundespräsident Ueli Maurer sicher glaubwürdig versichert, nicht mit der US-amerikanischen National Security Agency NSA zusammen. – Jedenfalls nicht direkt. Der Bundesrat prüft. Wir warten.
Totalüberwachung und Totalkontrolle
Wir reden zu Recht von «Totalüberwachung», sagt Lobo, wenn der NSA-Chef Keith Alexander alles speichern will. «Gemeint aber ist Totalkontrolle...(...). Das ist der Grund, warum alles gespeichert werden soll: Die Errichtung eines Kontrollstaates. In dem nichts passiert, ohne dass der Staat und seine Organe es zumindest nachträglich erfahren könnten. Horror.»Horror warum? – Weil die vorauseilende Unterwerfung sich schon ausbreitet.
Die Belege liefert das zweite aufreizende Papier. «Der Freitag», die Zeitung des «Spiegel»-Miteigentümers Jakob Augstein, bringt das Dokument an die europäische Öffentlichkeit. Es ist das Resultat einer Umfrage von PEN America bei 528 amerikanischen Autoren, Redaktoren, Herausgebern, Übersetzern und Kolumnisten zur Sammlung von Telefon- und Internetdaten «im Kampf gegen den Terror» durch die US-Geheimdienste. Es überrascht nicht, dass 60 Prozent dieser Publizisten die Geheimdienstaktivitäten missbilligen und nur 12 Prozent sie für richtig halten (Die Missbilligung bei des breiten Publikums hingegen liegt bei 44 Prozent, die Zustimmung bei 50 Prozent)Auf dem Weg zur Selbstzensur
Die Umfrageergebnisse, die von PEN America unter dem Titel «Chilling Effects» publiziert werden, zeigen aber auch schon ein beträchtliches Mass an Selbstzensur.28 Prozent haben ihre Aktivitäten in Social Media gedrosselt oder ganz eingestellt. 12 Prozent haben solche Massnahmen erwogen.
24 Prozent haben bewusst bestimmte Themen am Telefon oder in E-mails vermieden, und weitere 9 Prozent haben das ernsthaft in Erwägung gezogen.
16 Prozent haben es vermieden, über bestimmte Themen zu schreiben oder zu sprechen, weitere 11 Prozent haben das ernsthaft in Betracht gezogen.
PEN America stellt zusammenfassend fest, dass eine ernst zu nehmende Zahl amerikanischer Autorinnen und Autoren sich bewusst nicht (mehr) mit bestimmten Themen beschäftigen, und dass sie «heikle» Themen in der Telefon- oder Internet-Kommunikation mit Freunden im Ausland vermeiden. Und einige fühlen sich erinnert an die Zustände in Moskau und den mitteleuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion zur Zeit des real existierenden Sozialismus.
Das Ende der Privatsphäre
Der dritte aufreizende Text ist ein Beitrag des Internet-Kritikers Evgeny Morosov im Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» mit dem befreienden Titel «Warum man das Silicon Valley hassen darf».Morosov kritisiert uns, die fellow citizens, weil wir zwar «Big Pharma» kritisieren und «Big Food» und «Big Oil», aber nicht «Big Data», als ob die Daten «sich ganz allein gegen jeden bösen Geist verteidigen könnten, der es auszubeuten droht.» Und er arbeitet heraus, dass nicht nur NSA und die anderen Dienste und ihre nicht-staatlichen Auftragnehmer all unsere Daten sammeln. Dasselbe tut «Silicon Valley» mit Facebook, Google, yahoo!....
Wer noch eine Privatsphäre will, muss dafür bezahlen. Mit dem Verzicht auf die digitalen Kommunikationsmittel. Mit dem Zeitaufwand zur Verschlüsselung und Entschlüsselung. Mit Geld für die notwendige Software. Mit den Honoraren für die notwendigen Berater.
Die grosse Sammelleidenschaft...
Und während NSA und Konsorten uns versichern, dass sie ihrer Sammelleidenschaft nur im Interesse unserer Sicherheit frönen, versprechen uns Google, yahoo!, Facebook und Kompagnie, dass sie uns «mehr Freiheit, mehr Offenheit, mehr Mobilität» schenken, und dass sie zu diesem edlen Zweck von uns alle nur möglichen Daten benötigen. In Wirklichkeit verwandeln Unternehmen wie Google oder Facebook all unsere Daten – unsere Einkäufe, Bewegungen, Kommunikationen – so weit es nur geht in produktives Kapital. Konkret: «Im vergangenen Jahr hat Facebook einen Vertrag mit einer Firma namens Datalogix geschlossen, der es dem Unternehmen ermöglichen soll, eine Verbindung zwischen Ihren (also: unseren!, R.) Einkäufen im örtlichen Supermarkt und der Werbung herzustellen, die Facebook Ihnen zeigt... Google hat bereits eine App (Google Field), die Geschäfte und Restaurants in Ihrer Gegend ständig nach Ihren letzten Einkäufen absucht.»...und die Folgen
Und «da man Punkte, die man nicht hat, auch nicht miteinander verbinden kann, versuchen wir, alles zu sammeln und auf ewig aufzubewahren.» Der das sagt, ist aber nicht Google-Chef Schmidt oder Facebook-Verkäufer Zuckerberg, sondern Gus Hunt, Cheftechniker der CIA. Sie alle, Google und NSA, CIA und Facebook machen grundsätzlich und im Einzelnen dasselbe, sagt Morosov. Mit einem kleinen Unterschied und möglicherweise grossen Folgen: «Wenn Google oder Facebook sich täuschen und uns eine irrelevante Werbung anbieten, die auf einer Fehleinschätzung unserer Gewohnheiten beruht, führt das allenfalls zu leichtem Unbehagen. Wenn NSA oder CIA sich täuschen, führt das zu einem Drohnenangriff (und wenn Sie Glück haben, zu einer Fahrt ohne Rückfahrschein nach Guantánamo).»Der Einsatz der Märchenerzähler
Sascha Lobo, der Verfasser unseres ersten aufreizenden Textes, stellt alles in einen historischen Rahmen, der uns vielleicht sogar ein bisschen ermutigen und anregen kann.«Die Brüder Grimm», schreibt er, «sind als Märchenchronisten bekannt. Sie hatten als Teil der ‚Göttinger Sieben' aber auch eine politische Seite. Diese sieben Professoren protestierten unter Einsatz ihrer Lebenswerke, als Ende 1837 das vergleichsweise liberale Staatsgrundgesetz durch den König von Hannover aufgehoben wurde. Der preussische Innenminister Gustav von Rachow schrieb dazu einen derjenigen Sätze, die für immer bleiben werden: ‚Es ziemt dem Untertanen [...] nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Massstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen.»
Lobo beendet seinen Text so: «Zehn Jahre, nachdem Jacob Grimm wegen seines Protests pro Verfassung des Landes verwiesen worden war, wurde er 1848 Teil der Frankfurter Nationalversammlung und schrieb mit an der ersten deutschen Verfassung, der Paulskirchenverfassung. In Paragraf 141 heisst es: 'Die Beschlagnahme von Briefen und Papieren darf, ausser bei einer Verhaftung oder Haussuchung, nur in Kraft eines richterlichen, mit Gründen versehenen Befehls vorgenommen werden.'
Überwachung persönlicher Daten nur bei Verdacht und richterlicher Anordnung. Damals perfekt, heute perfekt. Und auch sonst ist dieses Dokument, Vorbild des Grundgesetzes von 1949, ein grossartiges Fanal für die Kontrolle. Und zwar die Kontrolle des Staates durch die Bürger. Und nicht umgekehrt.»