Einleitung ‐ Zwei literarische Aphorismen
Auf der Netzseite ʺDer Analysepatientʺ veröffentlichte der Klagenfurter ʺHobbyautorʺ Daniel Kölblinger am 19. Juli 2008 (s)ein ʺEpigramm zum Thema Wahrheitʺ„Die Wahrheitslüge. Wer sagt, er spräche immer Wahrheit, der lügt gerade, da herrscht Klarheit!ʺ3
Dieser Doppelzeiler wurde (Ende März) 2009 erneut veröffentlicht im deutschsprachigen ʺForum für Dichter und Autoren ‐ Kein Verlag.deʺ.4
Der Autor hat erkennbar und nach eigenem Bekunden auch bewusst an Wilhelm Busch angeschlossen. In dessen Gesammelte‐Werke‐ʺNachleseʺ findet sich dieser aphoristische Hinweis:
„Wer dir sagt, er hätte noch nie gelogen, dem traue nicht, mein Sohn.“5
Insofern kennzeichnet der Autor seine Arbeitsmethode zutreffend: ʺWas ich [...] ab und zu mache, ist, dass ich Ideen eines anderen weiterspinne, verarbeite und durch meine Sichtweise ergänze. In diesem speziellen Fall ist die Grundlage ein Wilhelm Busch‐Zitat.ʺ6
Dieser Rückbezug bedeutet, modernsoziologisch ausgedrückt, literarische Autoreferentialität. Ein vormärzlicher Literarhistoriker7 nannte diesen Vorgang ʺLiteratenliteraturʺ (Erich Auerbach).
Sozialwissenschaftlicher Wahrheitsanspruch
Der Busch‐Kölblinger'sche Aphorismus ist mit Blick auf seine doppelbödige Dialektik ozeanisch. Demgegenüber ist mein Verständnis der WahrheitsLüge‐Problematik doppelt begrenzt; sowohl spezifischer als auch eingeschränkter, weil auf ein bestimmtes Feld des menschlichen Wissens, Wissenschaft, und hier wiederum auf einen Teil dieser, Sozialwissenschaft, bezogen. Deren Wahrheitsanspruch ist aufgrund ihres doppelten Doppelcharakters entsprechend meines kritisch‐rationalen Verständnisses von (Sozial‐) Wissenschaft im Sinne des erkenntnisbezogenen „disinterested pursuit of truth“8 unhintergehbar, genauer: Auch im speziellen mikroempirischen Bereich ist das zu bedenken, was Werner Hofmann allgemein als Wissenschaft in ihrer „Doppelmöglichkeit von Irrtum und Wahrheit“ charakterisierte9.Im Anschluss auch an diese Hinweise geht es mir hier um eine subjektwissenschaftliche Kritik des alten bundes‐ und neuen deutschen juste milieu von deutschen 'Elitehistorikern'. Diese kritisiere ich als historisch arbeitender Sozialwissenschaftler nicht ohne Kenntnis und Verständnis im Zusammenhang mit der von der damaliger (Schröderfischer‐) Regierung der Bundesrepublik Deutschland angeschobenen öffentlichen ʺEliteʺ‐Unidebatte und im Wissen, dass die Damen und Herren der deutschen 'politische Klasse' in der Süddeutschen Zeitung seinerzeit als „arrogantes, schnöselhaftes, nichtsnutziges Pack“ (Prof. Dr. Thomas Steinfeld) gekennzeichnet wurden10.
In diesem Text geht es auch um wissenschaftliche Polemik gegen prominente deutsche Zeitgeschichtler „ohne Logos“11 und um deren (trotz ihrer oft irrationalen Antilogizität und grotesken Absurdität) ernstzunehmende Hervorbringungen und/als Texte. Zugleich geht es über diese ‐ und auch über solche von Friedrich Engels (1820‐1895) und Wladimir I. Lenin (1870‐1924) ‐ hinaus um den ideologischen Charakter historischer Sozialwissenschaft im gegenwärtigen Zeitalter des „late modern age“ (Anthony Giddens). Dessen Postmodernismus spannt heuer vom Beliebigkeitssubjektivismus einschliesslich seiner intellektuellen Spielarten vom Nichts‐ist‐unmöglich („anything goes“) bis zum Iss‐eh‐wurscht des antihuman(istisch)en Wertenihilismus12.
Der akademische Lehrer Werner Hofmann (1922‐1969) kritisierte nicht nur 1959 den „Grundinhalt des modernen Irrationalismus“ als Verinnerlichung (oder Internalisierung) des „äusseren Handlungszwangs“13. Sondern formulierte auch 1968 bündig zum Erkenntnischarakter von Wissenschaft als humanem Erkenntnisprozess. Zunächst formal: Es geht um ʺmethodische (d.h. systematische und kritische) Weise der Erkenntnissucheʺ. Sodann inhaltlich: Wissenschaft beruht immer auf dem „elementaren Unterschied von Subjekt und Objekt“ und enthält „die Doppelmöglichkeit von Irrtum und Wahrheit.“ Wissenschaft ist ʺihrem allgemeinen Inhalt nach gerichtet: 1. auf das Erscheinungsbild der Wirklichkeit (als sammelnde, beschreibende, klassifizierende Tätigkeit, als Morphologie, Typologe usw.); 2. als theoretische Arbeit auf Zusammenhang, Bedeutung, Sinngehalt der Erscheinungen, auf wesentliche Grundsachverhalte, auf Gesetze der Wirklichkeit.
Die Erschliessung des Erfahrungsbildes der Welt arbeitet der theoretischen Deutung vor; sie begründet deren empirische Natur und die Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse. Die Theorie aber stiftet erst die Ordnung des Erfahrungsbildes; sie erst gibt der empirischen Analyse ihren Sinn und nimmt die Erscheinungssicht vor der blossen Form der Dinge in Hut. In diesem dialektischen Widerspiel von Erfassung und Deutung der Wirklichkeit ist konstitutiv für Wissenschaft die Theorie. Nicht immer verlangt das Verständnis von Wirklichkeit nach Theorie; doch erst mit der Theorie hebt Wissenschaft an.ʺ14
Hier interessiert der Erkenntnisaspekt von Wissenschaft als „selbstloses Streben nach Wahrheit“. Nicht aber Wissenschaft als Handlungssystem mit seinen eigenen „Sitten und Gebräuchen, Vorstellungen und Gesetzen“ als der anderen Seite derselben Medaille mit ihrem sowohl empirischen als auch strukturellen Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisprozess (als Wahrheitsstreben) und der Organisation von Wissenschaftlern (in Form des Wissenschaftsbetriebs).15
Juste Milieu
Wie kürzlich am Beispiel eines zentralhistorischen Dokuments des 20. Jahrhunderts, der zeitnahen (Teil‐) Mitschrift von Hitlers berüchtigter zweiter Geheimrede vor den Oberkommandierenden der Wehrmacht am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg, der sogenannten Dschinghis‐Khan‐Rede, nachgewiesen16, zeigte sich im Verhältnis führender deutscher Zeitgeschichtler zum Lochner‐ oder L‐3‐Dokument des Internationalen Militärgerichtshofs (IMT) 1945/46 eine doppelte Verkehrung: Zum einen kannte bis 2008 nachweislich kein deutscher Zeitgeschichtler das Dokument. Das hielt zum anderen führende deutsche Zeitgeschichtler jahrzehntelang nicht davon ab, den originalen L‐3‐Text öffentlich als Falsifikat zu entlarven und/oder zur Fälschung zu erklären. Und trieb einige aus dieser wohlbestallt‐akademischen Zunft sogar so weit, den 2008 (als Faksimilé) erstpublizierten real‐existierenden Text als nicht‐existent zu propagieren. Deutsche Zeitgeschichtler frönten hier ein jurisprudentisch nicht unbekanntes subsumptionslogisches Verfahren: Die Morgenstern‐Logik des Autors Christian Morgenstern (1871‐1914), der sie in seinem (verkehrsun)fallbezogenen Kurzpoem Die unmögliche Tatsache (1909/10) so umschrieb:„Eingehüllt in feuchte Tücher, prüft er die Gesetzesbücher [...] Und er kommt zu dem Ergebnis: 'Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil', so schliesst er messerscharf, 'nicht sein kann, was nicht sein darf.'“17
Es mag an dieser Stelle offenbleiben, ob dieses zugleich beispielhafte und beispiellose Professionshandeln deutscher Staatsdiener in Lebensstellungen, die Pierre Bourdieu als tenure‐Prägung kritisch glossierte18, als Verkehrung typisch ist oder nicht, ob diese Zeitgeschichtler dazu „beamtet worden waren, die Tische der Herren zu verteidigen“19 oder nicht.
Für die repressivideologische Herrschaftsverteidigungsfunktion führender deutscher Zeitgeschichtler gibt es allerdings manifesten Augenschein – nicht nur was die kriminell begründete Akademikerkarriere von Hans Mommsen (*1930) betrifft. Sondern auch mit Blick auf dessen Standesgenossen und/als politikberatende, inzwischen teilweise emeritierte, Lehrstuhlprofessoren wie (die hier nicht weiter interessierenden Eberhard Jäckel als Armenozid/Genozidleugner und H. August Winkler als quellenarmen Geschichtsschreiber der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik) Klaus Hildebrand (*1941) und Wolfgang Benz (*1941).
Hans Mommsen galt nicht nur in den 1990er Jahren als „grand old historian“ (SZ: 24.1.1995). Sondern wurde auch noch in den letzten Jahren öffentlich ausgelobt als “weltweit führender NS‐Experte” (Die Welt: 8.2.2006) und als einer der profiliertesten Kenner des Nationalsozialismus (FR: 16.8.2006). Mommsen wurde auch von Linksjournalisten als “Doyen” der deutschen Geschichtswissenschaft hofiert (Informationen zur deutschen Aussenpolitik: 6.4.2005)20.
Aus Gründen hätte dieser Mommsen weder wissenschaftlich reüssieren noch Ende der 1960er Jahre auf den (zweiten) Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der neugegründeten Ruhr‐Universität Bochum in Nordrhein‐Westfalen berufen werden dürfen. Auch wenn einerseits bis heute ungeklärt ist, ob Mommsen, behutsam formuliert, im Zusammenhang mit der Reichstagsbranddebatte in der ersten Hälfte der 1960er Jahre mindestens zwei Dokumente „erfand, die es nicht gab“21 oder auch nicht und wenn andererseits Mommsens, noch behutsamer formuliert, „wissenschaftliches Fehlverhalten“ als Strafrechtstatbestand seit 1969 verjährt ist – Mommsen veranlasste durch sein „unehrliches Verhalten“, so behutsamst Bundes(verwaltungs)richter Dieter Deiseroth im Bericht an die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) 2004, „durch rechtlich falsche Darstellungen […] die Verhinderung der Publikation der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit“22 des Autors Hans Schneider 1962/63. Und publizierte dann selbst 1964 den Leitbeitrag zum „Reichstagsbrand und seine[n] politischen Folgen“23.
Zweitens war es Mommsen, dessen Lexikonbeitrag zu Ferdinand Lassalle (1825‐1864) einen identischen Text zum einen, entsprechend seines damaligen politischen Gusto, als „kommunistisch“ und zum anderen als „nichtkommunistisch“ vorstellte. Und der damit nicht nur zeigte, dass er weder die Dissertationsschrift (1929/30) noch ihre Veröffentlichung in Buchform (1931) gelesen haben konnte. Sondern darüber hinaus auch die schon damals, 1969, seit fünfzehn bzw. fünf Jahren publizierten Hinweise von Erich Matthias und Wolfgang Abendroth nicht kannte. Beide hatten schon 1954 und 1964 die Identität desselben „kommunistischen“ und „nichtkommunistischen“ Autors öffentlich aufgeklärt.24 Drittens war es derselbe Mommsen, der 1983 in antimoralischer Verkehrung der Humansubstanz aller europäischer Aufklärung die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ in den Zusammenhang utopischer Visionen stellte.25
Entgegen dieser von Mommsen in die Welt gesetzten stupid‐antimoralischen Verkehrung hatten und haben genozidale Handlungen jedoch nichts mit ʺUtopieʺ zu tun. Im Gegenteil: Die sich Nationalsozialisten nennenden führenden deutschen Faschisten vertraten als mordbefehlende Spiesser keine utopischen Visionen. Sondern eine destruktive Ideologie oder Vernichtungs‐Dystopie als diametrales Gegenstück zu jeder Utopie: Taking‐Lives‐policy war und ist das antagonistische Gegenteil lebensrettender Saving‐Lives‐policy.26
Grosskriegsschreiber
Als Ausdruck einer Form besonderer historiographischer Völkermord‐ oder Genozidmissachtung nicht durch (leicht/er erkennbare) Leugnung, sondern durch Ignoranz, Nichterwähnung und Verschweigen als subjektives Unterlassungshandeln wirkt jede objektive Genozidapologie27. Sie veranschaulicht zugleich, dass es möglich ist, jahrzehntelang als führender deutscher Zeitgeschichtler zu gelten, ohne „die Ausrottung der armenischen Bevölkerung in der Türkei“ als „das fraglos grösste Verbrechen des Ersten Weltkriegs“28 zu erwähnen.Es erscheint höchst bemerkenswert, dass dieses Weltverbrechen von Vertretern der deutschen Geschichtsschreibung und ihres juste milieu wie vom Geschichtsschreiber des Ersten Weltkriegs in Deutschland, Wolfgang J. Mommsen (1930‐2004), in seinem Imperialismus‐Buch typischerweise nicht erwähnt wird. Wohl werden „die barbarischen Armeniermassaker“ 1894/95, die auch die europäischen Grossmächte seiner Meinung nach „nicht unterbinden“ konnten, genannt. Zum Tatbestand des ersten 'modernen' Völkermords und erstem staatlich geplanten und organisierten Genozid im 20. Jahrhundert jedoch schweigt der Autor.
Statt dessen führt er inhaltlich rechtfertigend und formal nebulös in vagen Begriffen übers jungtürkische Regime und die drei hauptverantwortlichen Täter aus: Weil dieses Regime „die Befreiung der Völker des Osmanischen Reichs vom autokratischen Joch des Sultans auf sein Programm geschrieben“ hätte ‐ hätte es die „Hoffnung [gegeben], dass das neue jungtürkische Regime auch gegenüber den europäischen Nationalitäten eine liberalere Haltung einnehmen würde.“29 Nach den Balkankriegen 1912/13 einerseits und der „Ermordung des Grosswesirs Mahmud Scherket [als] letztem Repräsentanten der alten konservativen Herrenschicht innerhalb der Führungsgruppe des Osmanischen Reiches“ im Juni 1913 andererseits war nun „die Bahn für die Jungtürken gänzlich frei geworden“:
„Das Triumvirat Talaat, Djemal und Enver Pascha, welches nun uneingeschränkt über die Geschicke des Osmanischen Reiches verfügte, bemühte sich in Anlehnung an das Deutsche Reich um eine Regeneration des Heeres und der Verwaltung. Sie wollten der Türkei ihre einst so stolze und angesehene Stellung unter den europäischen Grossmächten zurückgewinnen. In Verfolgung dieses Ziels sahen sie sich freilich in zunehmendem Masse genötigt, auf die autokratischen Methoden ihrer Vorgänger zurückzugreifen. So triumphierten am Ende die Kräfte des Nationalismus über die schwachen Ansätze einer Liberalisierung des Osmanischen Reiches.“
Und in seinem im Mai 2004 als „Originalausgabe“ erschienenen Buch zum Ersten Weltkrieg gibt der als Max‐Weber‐Biograph bekanntgewordene politische Zeitgeschichtler Wolfgang J. Mommsen nicht einmal mehr diese vagen Hinweise ‐ sondern belehrt uns im Leitbeitrag über den Ersten Weltkrieg, dass sich „die Türkei unter Atatürk in einen halbfaschistischen Nationalstaat verwandelte.“30
Das heisst: Es ist in der Tat, wie im Fall dieses Mommsen zitiert, in Deutschland noch 2003/04 möglich gewesen, über Imperialismus und Ersten Weltkrieg als erstes universales „Weltfest des Todes“ (Thomas Mann) wissenschaftlich zu publizieren, o h n e den Völkermord an Armeniern als ersten Genozid des 20. Jahrhunderts während des ersten Grossen Krieges (als „Armeniermord“ oder „Armenozid“ oder wie auch immer) zu erwähnen u n d als seriöser und führender deutscher Fachhistoriker zu gelten.
Einzigartigkeit
Die Singularitäts‐ oder Einzigartigkeitsthese betraf als „unique uniqueness“ jahrzehntelang auch das Verhältnis von „Armeniermord“ und „Judenmord“, von Armenozid und Holocaust, als zweier historischer Genozide in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Der Bonner Zeitgeschichtler, Politikberater und Publizist Klaus Hildebrand hat sie 1977 zusammenfassend formuliert. Und dabei nicht nur die Form genozidalen Mordens vor ihren Inhalt gestellt. Sondern auch eine in Deutschland sowohl unter Ökonomen als auch unter Zeitgeschichtlern besonders verbreitete ideologische Variante – aus antimarxistischem Ressentiment gespeiste Theoriefeindlichkeit – offenbart:„Das Entscheidende, das Singuläre der nationalsozialistischen Rassenpolitik aber lag eben in den über jede Funktionalität weit herausreichenden 'Massnahmen', um in der Sprache des Regimes zu bleiben, des Genocids, der 'Züchtungsversuche' und des Euthanasieprogramms. Sie zu beschreiben und, wenn dies überhaupt jemals möglich sein sollte, begreifbar zu machen, kann sicherlich von keiner der allgemein ausgerichteten 'Faschismus'‐Theorien erwartet werden.“31
Die Wirksamkeit der zeitgeschichtlichen Einzigartigkeitsthese ging in Deutschland zeitweilig sogar soweit, sowohl wissenschaftlich‐analytische Vergleiche zu tabuieren – damit letztlich auch vergleichende (Völkermord‐) Forschungen zu verhindern – als auch Betroffenenhierarchien und, entsprechend der Wertigkeit Holocaust – Armenozid, Völkermordopfer erster und zweiter Klasse zu schaffen.
Die sich auf den Holocaust und seine Universalität beziehende Einzigartigkeits‐ oder Singularitätsthese ist nicht nur historisch unzulässig. Sondern auch wissenschaftsfeindlich und forschungsverhindernd: Wer nach dem Grundsatz definitio per genus proximum et differentiam specificam die Dialektik von Allgemeinem und Besonderen sucht, die Mühen der Ebenen nicht scheut und wissenschaftliches Wissen schaffen will, muss im Sinne jedes Wissenschaftsverständnisses erst einmal die Voraussetzungen schaffen, um Staatsverbrechen als Formen historischer Wirklichkeiten vergleichen zu können. Der Holocaust oder Shoah (seltener Judeozid) genannte Völkermord oder Genozid an den europäischen Juden während des zweiten Weltkriegs im militärisch besetzten Osten war aber als „totalitärer Antisemitismus“32 weder voraussetzungslos noch einzigartig. Die massenhafte Vernichtungspraxis angeblich „lebensunwerten Lebens“ 1939/41 folgte vielmehr im Sinne eines Prozesses vorausgegangenen planvollen staatlichen Mordaktionen gegen (heute Sinti und Roma genannte) „Zigeuner“ und andere angebliche „Asoziale“ oder „Ballastexistenzen“ oder „unnütze Esser“:
„Zwangssterilisation, Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Kinder in Krankenhäusern, Tötung erwachsener Anstaltsinsassen durch Gas in medizinischen Tötungszentren (Euthanasie), Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Insassen von Konzentrationslagern und schliesslich die Massenmorde an den Juden.“33
Einzigartig war nicht der 1941‐1945 „staatlich organisierte Verwaltungsmassenmord“ (Hannah Arendt) an sich und als solcher. Singulär waren vielmehr die destruktiv angewandten Formen gegenständlicher Produktivkraftentwicklung und die staatsbürokratische Organisation zur grossindustriell unternommener Massenmordpraxis in den genozidalen Todesfabriken im während des Zweiten Weltkriegs militärisch besetzten Osten als qualitativ neue Einzigartigkeit nationalsozialistischer Politik. Nur dies war die „besondere politische Praxis der Nazis“.34
In der höchstpeinlichen publizistischen Veranstaltung, die in Deutschland von Jürgen Habermas als „Eine Art Schadensabwicklung“ (Die Zeit: 11.7.1986) angezettelt35 und rasch als „Historikerstreit“ etikettiert wurde, erschien diese Position in absurder Verkehrung geeigneter wissenschaftlicher Massstäbe wenn nicht als Holocaustleugnung, so doch als Holocaustrelativierung oder als Leugnungszugang oder als Einfallstor zur Leugnung. Demgegenüber betont/e einer der gegenwärtig prominentesten US‐Holocaustforscher, Daniel J. Goldhagen, im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Bedeutsamkeit genozidaler Opferzeugnisse nicht nur methodologisch zutreffend, dass der Holocaust „sowohl universale als auch einzigartige Elemente“ enthält. Sondern hob darüber hinaus auch hervor, dass auch in der Holocaust‐Forschung – wie in jeder wissenschaftlichen (Genozid‐) Debatte – „das Vergleichen an sich nicht in Frage gestellt werden sollte.“36
Es mag so (gewesen) sein, dass die im Spätherbst 1941 begonnene grossindustrielle Vernichtungspraxis von Millionen Menschen der vorher als 'objektiver Gegner' definierten sozialen Gruppe europäischer Juden damals das zeitgenössische Vorstellungsvermögen (auch) vieler Deutscher überstieg und (auch) heute noch vielen deutschen Zeitgeschichtlern erhebliche Probleme beim wissenschaftlichen Verstehen des Holocaust genannten Realereignisses Genozid bereitet. Insofern umso unverständlicher, wenn ein so umtriebiger deutscher Zeitgeschichtler und Genozidforscher wie Wolfgang Benz als Direktor des Berliner 36 Daniel J. Goldhagen, Die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas […]; in: Jürgen Elsässer; Andrei S. Markovits (Hg.), Die Fratze der eigenen Geschichte. Von der Goldhagen‐Dabatte zum Jugoslawien‐Krieg. Berlin: Elefanten Press, 1999, 205 p. [= Antifa Edition]: 80‐10, hier 96; auch ebda. 182‐185. ‐ Daniel J. Goldhagen (*1959) gilt seit der Veröffentlichung seines Buchs Hitlerʹs Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust (New York: Alfred A. Knopf, 1996, 622 p., dt. Hitlers willige Vollstrecker, Siedler, 1996), dem 2002 eine kritische Darstellung des Verhältnisses von katholischen Amtskirche zum Nationalsozialismus folgte (A Moral Reckoning, dt.
Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Siedler, 2002), als einer der prominentesten US‐amerikanischen Holocaustforscher. Bekannte deutsche Rezensenten kritisierten Goldhagens Willige Vollstrecker als historiographisch unzulässige Schuldzuweisung an ʺdie Deutschenʺ. Im neuesten Buch mit dem griffigen Titel Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist (Aus dem Englischen von Hainer Kober [und] Ingo Angres. München: Siedler, 2009, 685 p.; Worse than war. Genocide, eliminationism, and the ongoing assault on humanity, Public Affairs, 2009) und in dessen Vorabpropaganda in
Form von SPIEGEL‐Interviews („Mass Slaughter Is a Systemic Problem of the Modern World“: http://www.spiegel.de/international/germany/0,1518,653938,00.html [201009]; ders., „Mörder dürfen ermordet werden“: Der Spiegel, 41/2009: 134‐140) produziert Goldhagen auch durch begriffliches ʺGewäscheʺ (Ernst Bloch) seiner Völkermord (synonym Genozid) überwölbenden und mass slaughtery, Pogrome, Massaker und Massenmorde einverleibenden (und als Terminus neugeschaffenen) Schlüsselmetapher eliminationism, der im Rahmenkapitel seines Buchs anhand der fünf Merkmale: Transformation, Unterdrückung, Vertreibung, Reproduktionsverhinderung und schliesslich der „tödlichen Form der Eliminierung“, der Vernichtung, als übergreifend‐allgemeines Konzept vergleichender Vernichtungsforschung vorgestellt wird, doppelt problematische Sichten: einmal – wissenschaftlich – durch mit totalitarismusanaloger Focussierung von Völkermord auf Regierungspolitik einhergehendem Beharren auf Holocausteinzigartigkeit und zum anderen – politisch – durch ein autojustizielles 'Recht des Stärkeren' begründenden Völkerstrafrechtsnihilismus, der das Interesse imperialer Staaten und Machtblöcke bedient.
Zentrums für Antisemitismusforschung aktuell alle Wissenschaftlichkeit fahren lässt37 und, so im Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum (28.4.2009), die „Einzigartigkeit des Judenmords“ reklamiert. (Noch imperialer ist die weitere Singularität oder Einzigartigkeit beanspruchende Ideologie deutscher Genozidjuristen mit der Einlassung, „nur ein Jurist, sei er Richter oder Rechtsgelehrter, vermag die Frage [Völkermord oder nicht] fachgerecht zu beantworten.“38)
Institut für Zeitgeschichte
Andreas Wirsching (*1959), laut Selbstdarstellung (nicht Boutiquen‐ oder Rennstall‐, sondern) Lehrstuhlinhaber an der Universität Augsburg39, stellte noch 2008, also fünfundsiebzig Jahre nach dem Realereignis, die „Machtergreifung“ entsprechend des nationalsozialistischen Selbstverständnisses als „revolutionär“ dar40 (und sich selbst 2009 als Mitherausgeber der führenden Fachzeitschrift „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ anstatt mit informativem Geburtsjahrgang mit visagistisch abstossendem Schwarzweissfoto vor41). Diese personale Peinlichkeit mag hier nicht interessieren.Von Interesse fürs Bayrische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst als Aufsichtsbehörde der herausgebenden Körperschaft hingegen sind die seit Jahren anhaltenden Hitler‐ Publikationsversuche des ältesten deutschen Instituts für Zeitgeschichte42, seines Direktors und VZG‐Mitherausgebers Horst Möller (*1943), seit 1992 Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München und IfZ‐Direktor. Konnte sich Möller 1984 dadurch auszeichnen, die bis heute stupideste Monographie über seit 1933 exilierte deutsche Künstler, Autoren und Wissenschaftler veröffentlicht zu haben43, so will er nun den Freistaat Bayern als Rechteinhaber des vom letzten deutschen Reichskanzlers (mit „Migrationshintergrund“), Adolf Hitler (1889‐1945), veröffentlichten zweibändigen „Mein Kampf“‐Buchs dazu bringen, seine zuletzt im Sommer 2007 angewandte Restriktionspolitik auf‐ und die Hitler‐Bücher zur Publikation freizugeben: Hitlers faschistische Kampfschrift mit ihrer panischen Bolschewistenfurcht, ihrer militanten Fremdenfeindlichkeit und ihrem mörderischen Judenhass erschien in der Türkischen Republik 1939 und erfuhr dort Anfang 2005 Taschenbuchneuauflagen44.
Von einer dieser sollen nach BBC‐Recherchen in den ersten zwei Monaten 2005 etwa 50.000 Exemplare verkauft worden sein. Und seit Ende August 2007 soll Hitlers Buch auf Veranlassung der Bayrischen Staatsregierung als Rechteinhaber dort weder gedruckt noch verkauft werden45. Dagegen organisiert/e Möller eine öffentliche Campagne für eine „mit Kommentaren aufgearbeiteten“ „Mein Kampf“‐Ausgabe. Diesem Zweck dient auch die aktuell(st)e „wissenschaftliche“ VfZ‐Veröffentlichung.46 Dort erhält der IfZ‐Direktor, bisher unwidersprochen, nach der durch Jäckel prominent gewordenen Methode der Verifikation eines Falsifikats ‐ der 1983 von der Wochenillustrierten stern 1983 publizierten Hitler‐„Tagebücher“47 ‐ unter Zuhilfenahme schon damals angewandter kriminaltechnisch‐graphologischer Techniken und üblicher Sachverständiger48 flankenschützenden Support. Hinten herauskommen kann freilich nichts Anderes als brauner Hitlerkack im Zeitgeschichtlerfrack.
Verkehrung
Die Beispiele liessen sich sicherlich nicht beliebig, aber durchaus massiv ergänzen. Sie veranschaulichen auch einen Involutions‐ oder Verfallsprozess: Der „alte“ Engels hatte sich noch 1891 nach dem Tod des kränkelnden Genius Karl Marx (1818‐1883) ausgiebig und unterm Gesichtspunkt zeitnaher Erstveröffentlichung als (Güte‐) Kriterium der Authentizität einer zeitgenössischen Quelle so kundig wie engagiert mit dem „Kathedersozialisten“ und professoralen Marx‐Kritiker Lujo Brentano (1844‐1931) auseinandergesetzt49. Und der nervöse Exil‐Politiker Lenin hatte 1916 im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner theoretischen Imperialismus‐Kritik50 vorhandenes Wissen auch deutschbürgerlicher Ökonomieprofessoren kritisch verarbeitet – zugleich aber betont, dass einem bürgerlichen Professor kein Wort geglaubt werden sollte, sobald er sein Fachgebiet verlässt und zu philosophieren anfängt.51Diese Form akribischer Auseinandersetzungen von Engels bis Lenin, so meine die Anschauungsbeispiele verallgemeinernde These, ist inzwischen sachlich‐ intellektuell so unnötig wie hinfällig: Unter postmodern(istisch)en Vorzeichen ist höchste Vorsicht, auch was wirtschaftliche und/oder zeitgeschichtliche Sachverhalte und was das (angebliche oder wirkliche) Fachwissen dieser Leute betrifft, geboten. Am Beispiel gesprochen: Unabhängig von der Technik des Fälschens („Mit oan Messerl geht's halt besserl“) muss, wer als Zeitgeschichtler Quellen fälschen will, als unumstössliche Voraussetzung („condition sine qua non“), wissen, was eine Quelle ist. Diese/s war aber bei prominenten deutschen Zeitgeschichtlern und Lehrstuhlprofessoren wie Jäckel, Winkler, Mommsen etc. nicht gegeben. Insofern macht es durchaus Sinn, wenn sie schlimmstenfalls unbequellt bzw. bestenfalls quellenfaul daherkommen.
Insofern folge ich Walter E. Richartz (1927‐1980) und dessen Satireroman Reiters Westliche Wissenschaft (1980). Dieser schloss an dessen 1969 veröffentlichte, als satirischen Pamphletroman angelegte, mit wissenschaftlichen Literaturnachweisen ergänzte polemische Warnung vor Kontrollmöglichkeiten der Gesamtgesellschaft durch Medizinprofessionelle unter ärztlicher Führung (Tod den Ärtzten52) an und einvernahm reale US‐amerikanische Forschungserfahrungen des Autors als Naturwissenschaftler. Hier erscheint der wissenschaftliche Erkenntnisprozess nicht mehr als grundsätzlich offenes, dialogisches, antidogmatisches Denken. Sondern als „eine Festung der Engstirnigkeit … Benutzbarkeit wird zum Kriterium … Was nicht ins Bild passt, wird ausgesperrt. Die grossen Vernachlässiger. Die Kurvenanpassung mit Korrekturgliedern. Das Denken mit unverrückbaren Ausgangspunkten, und von da an wird immer ein wenig geschwindelt. Die Naturverwüstung kommt in zweiter Linie, zuerst die Menschenverwüstung, Verkarstung des Bewusstseins. Erfolg als Kriterium für Richtigkeit.“53
Literarische Wissenschaftskritik transportiert auch der deutsche Anglist und Schriftsteller Dietrich Schwanitz (1940‐2004) in seinem zweiten Satireroman Der Zirkel (1998)54 als ätzendes Zeit‐ und Sittenbild der Wissenschaftsbetriebsamkeit im gesamtdeutschen Universitätssystem der 1990er Jahre (wobei dieser gesellschaftliche Bereich als unreformierbar erscheint). Auch dieser Text war anregend fürs über Reinhard Opitz' (1934‐ 1986) These von der „Bewusstseinsfalsifikation“55 hinaus entwickelte Konzept der Verkehrung im Zusammenhang mit der bis heute auch im bürgerlichen Ganzdeutschland nachhaltigen Wirksamkeit einer „Verdummungsindustrie mit ihren Verblendungs‐, Verkehrungs‐ und Umwertungsmechanismen.“56
Im übrigen gibt es wie auch in der alten, neuen und ganzganzdeutschen Zeitgeschichtsschreibung keine abstrakte Wahrheit: Auch hier ist die Wahrheit immer banal …
Ausblick ‐ Dritter Aphorismus
Hier ging es um einen speziellen, auf (Sozial‐) Wissenschaft und Zeitgeschichtsschreibung bezogenen, Aspekt der WahrheitsLüge. Deren Besonderheit geht über eingangs zitierte allgemein‐literarische Varianten der Wahrheitslüge hinaus, gerade weil ‐ wie beispielhaft belegt ‐ unterm Deckmantel ʺdisinterested pursuit of truthʺ, hier des ʺselbstlosen Strebensʺ nach (geschichts‐) wissenschaftlicher Wahrheit, als Geschichtsschreibung getarnte apologetische Ideologie wirkt. Insofern kann hier auch abschliessend übers Allgemeine eingangszitierter Epigramme und Aphorismen hinausgegangen werden. Als Besonderheit der Wahrheitslüge von sich als Historiker ausgebenden und von als Historiker anerkannten deutschen Zeitgeschichtlern lässt sich als Untersuchungsergebnis festhalten:Wenn sich falsch noch steigern liesse
Mancher von Euch Fälscher hiesse …