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Zum Selbstverständnis von Universität und Wissenschaft

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Über nicht gestellte Fragen Zum Selbstverständnis von Universität und Wissenschaft

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Gesellschaft

Mit der fortschreitenden Ökonomisierung der Universität verschärft sich eine Sinnkrise: Welche Rahmenbedingungen müssen für “gute” Wissenschaft gegeben sein? Was wird aus ihren hehren Zielen, wenn sie immer mehr wirtschaftlichen Zwecken untergeordnet werden? Der Autor Christoph Grüll sucht nach Antworten. Und findet weitere nicht gestellte Fragen.

Luftaufnahme der Universität Bielefeld. Im Vordergrund ist die Baustelle des Gebäudeteils X zu sehen, fertiggestellt im August 2014.
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Luftaufnahme der Universität Bielefeld. Im Vordergrund ist die Baustelle des Gebäudeteils X zu sehen, fertiggestellt im August 2014. Foto: N7legion (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 24. Oktober 2013
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Nirgendwo ist Wissenschaft so sehr mit einem Namen verknüpft wie im Falle der Hochschulen. Hier sollen kluge Köpfe heranwachsen, Forschung vorangetrieben werden und die Bildung möglichst breiter Bevölkerungsschichten unterstützt werden. Welchen Rahmen benötigt man für „gute“ Wissenschaft, wie sieht es aus in der Hochschullandschaft, welche Chancen und Risiken liegen in den aktuellen Entwicklungen? Über diese Fragen lässt sich lange und ausgiebig diskutieren. Was dabei im Mittelpunkt stehen muss ist die Lücke zwischen Anspruch und Realität universitärer Arbeit, gemessen an ihrem eigenen Selbstverständnis.

Ein klares Bild davon zu zeichnen, ist nicht einfach. Es herrschen bewegte Zeiten, in denen nicht mehr nur die Riege der Hochschullehrer*innen oder auch die Studierenden selbst darüber entscheiden, was die Arbeit und Strukturen an den Unis auszeichnen solle. Massgeblich werden diese Diskurse von Politikern, Wirtschaftsvertretern und Medien bestimmt. Und so variieren die Überlegungen dazu, welche Rolle die Unis in Gesellschaft und Staat zu spielen haben, welche Aufgaben zu erfüllen sind oder welche Möglichkeiten dazu bestehen, je nachdem, wer gefragt wird.

Dass dahinter sehr unterschiedliche Interessen stehen und dass daher sehr verschiedene Meinungen miteinander konkurrieren, ist offensichtlich. Einigkeit besteht wohl zumindest in einer Hinsicht: dass der Wissenschaftsbetrieb keineswegs ein Selbstzweck ist. Forschen und Lernen erfolgt für und um. Für was aber, ist eine brisante Frage.

Für und wider – quo vadis, liebe Uni?

Schaue ich mich in der Universität um – in meinem Fall in der Uni Hamburg, aber auch deutschlandweit und darüber hinaus –, sehe ich die verschiedensten Antwortversuche auf diese Frage. Sie alle pendeln zwischen finanzieller Not und dem eigenen Anspruch, “gute” Wissenschaft zu betreiben. Da lässt sich einerseits ein bildungspolitisches Ideal formulieren: dass Studieren, Lehren und Forschen heissen sollte, sich um Erkenntnis zu bemühen. Sich vor einem disziplinären und interdisziplinären Hintergrund wissenschaftlich der Welt, den Menschen, den Verhältnissen gegenwärtiger und vergangener Zeiten zu widmen.

Es sollte heissen, einen kritischen und reflexiven Blick auf einen Gegenstand anzustreben, eine wissenschaftliche Methodik einzuüben, die Erkenntnisse zu diskutieren und in der Diskussion zu erweitern. Kurzum: Wissenschaft ist kritische Arbeit an der Gesellschaft. Sie ist das kritische Potential einer Gesellschaft. Sie ist per se politisch. Die Antwort also: Wissenschaft zur Kritik der bestehenden Verhältnisse.

Diese Ansprüche tendieren unter aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu, vernachlässigt zu werden. Verbunden sind solche Tendenzen natürlich mit dem Stichwort Bologna und einer zunehmenden Bürokratisierung, Hierarchisierung und Ökonomisierung der Hochschulen, was sich an vielen Stellen im Universitätsbetrieb spürbar macht, sei es unter den Professor*innen, den Studierenden oder in der Verwaltung.

Die Rolle, die Drittmittel, Stiftungsprofessuren oder externe Forschungsaufträge mittlerweile spielen, ist immens. Man kann das alles mehr oder weniger dramatisch sehen, in Lethargie verfallen oder versuchen, das Beste rauszuholen, was in den Hochschulen aber auf dem Spiel steht – auch wenn das Spiel noch lange nicht vorbei ist – ist die Unabhängigkeit von Forschung, Bildung und Lehre.

Die Bereitschaft der Universitäten, mit Vertretern aus Wirtschaft und Industrie zu kooperieren, wird angesichts knapperer Kassen zwangsläufig grösser, sei es durch externe Zwänge oder anders gelagerte Motivationen und Überzeugungen. Die dadurch entstehende Einflussnahme auf den universitären Betrieb verfolgt sehr plausible Interessen.

Angesichts immer stärkeren Wissensbedarfs in Gesellschaften, die auf internationale Konkurrenzfähigkeit bzw. -hoheit in wirtschaftlichen, technologischen und naturwissenschaftlichen Bereichen ausgerichtet sind, ist Wissen zu einem wichtigen und teuren Gut geworden. Allein für das Jahr 2012 lässt sich laut Bildungsmonitor eine Summe von beinahe 1,8 Milliarden Euro an eingeworbenen Drittmitteln beziffern.

Universitäten werden mehr und mehr zu marktimmanenten Einrichtungen. Wer das Geld gibt, hat das Sagen – insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, Forschungsfelder oder Lehrplanentwicklungen immer stärker an wirtschaftlichen Interessen orientiert sind. Wirtschafts- und industrienahe Fächer spüren diese Einflussnahme stark. Wirtschaftsfernere Fächer wie etwa die verschiedenen Geisteswissenschaften bekommen diese Entwicklung ebenfalls zu spüren, nämlich dergestalt, dass ihnen schlicht das Geld ausgeht. Dies ist Ausdruck eines ganz anderen Verständnisses: Wissenschaft hat den Zweck, (teils extern festgelegte) Ausbildungsziele zu erfüllen sowie Wirtschafts- und Standortförderung zu unterstützen.

Täglich Brot und Krümel

In der praktischen Arbeit an der Uni führt dies zu einem neuen Ungleichgewicht: Anstatt sich den eigenen Studien und Forschungen zu widmen, muss ein nicht unerheblicher Teil der Arbeitszeit für das Schreiben von Anträgen aufgebracht werden, um das eigene Standing zu halten und um weitere Forschungsgelder zu erhalten und so weiter. Hochschulen müssen zunehmend geführt werden wie Unternehmen, das Präsidium wird zum Management, die strategische Planung wird einem überwiegend mit Wirtschaftsvertretern besetzten Hochschulrat überlassen. Nach und nach überträgt sich eine solche Orientierung an Wirtschaftlichkeit und damit verbundene Konkurrenzmuster auf die einzelnen Arbeitsabläufe innerhalb der Universitäten.

Auf studentischer Seite schlägt sich negativ nieder, dass für immer mehr Studierende immer weniger Zeit zur Verfügung steht: eine wohlüberlegte Didaktik bleibt folgerichtig oftmals auf der Strecke, Seminare werden zunehmend als Serviceleistungen verstanden, die nicht auf ihre inhaltliche Qualität, sondern auf ihre Verwertbarkeit in der nächsten Prüfungsleistung hin befragt werden. Formalistische Studienordnungen, vorgefertigte Lehrpläne mit wenigen Wahlmöglichkeiten, regelmässige Prüfungsleistungen und aneinandergereihte Semester, die thematisch und didaktisch nur sehr eingeschränkt aufeinander aufbauen, führen zu einem meist geradlinigen Studienverlauf.

Die durch die Bologna-Reform verschärften Standardisierungsprozesse unter den europäischen Hochschulen (Stichwort Credit Points) führen auf inhaltlicher Ebene zu einer Verengung von Methodenwissen und Theoriefähigkeit; eine kritische Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Arbeit kommt dabei oftmals zu kurz. Studieren scheint allzu oft einen negativen Einschlag zu bekommen: anstatt „sich zu bilden“ wird sich für andere, fremde Zwecke ausgebildet. Die Fragen, die im Seminarraum dominieren, sind weniger gesellschaftskritischer Art als vielmehr auf die zu belegenden Prüfungen am Ende des Semesters bezogen.

Damit wäre das Bild aber (zum Glück) noch sehr unvollständig: Mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die restriktiven Studienstrukturen des Bachelor-Master-Systems in verschiedenen Punkten wieder rückgängig gemacht werden (müssen). Dies ist zu einem wesentlichen Teil auch dem Protest vieler Studierender zu verdanken, die sich in den hochschulpolitischen Gremien der universitären Selbstverwaltung und auch ausserhalb der Unis mittels öffentlichen Protestes für eine Überarbeitung dieser Strukturen eingesetzt haben.

Ob es die Abschaffung von Modulfristen ist, die Reduzierung der Prüfungslast oder nun in Hamburg die kritische Auseinandersetzung mit der Novellierung des Hamburger Hochschulgesetzes: Der Protest entfaltet sich auf vielen Ebenen. Und er wirkt sehr allmählich, ganz so wie Sand im Getriebe es zu tun pflegt.

Die alte Leier: Wer bin ich und was, wenn ja?

Die Frage nach dem Selbstverständnis der Universität wird genau hier, angesichts schwindender öffentlicher Mittel für die Hochschulen und zunehmender wirtschaftlicher Ausrichtung derselben, essentiell. Die Arbeit an den Hochschulen wird in Zukunft neue Züge annehmen: ein stärkerer Einfluss von aussen und veränderte Bedingungen im Inneren werden zu einer neuen Form und einem neuen Verständnis von Uni führen müssen. Diese Veränderungen dürfen aber nicht ohne eine Selbstverständnisklärung der Universitätsangehörigen selbst stattfinden. Und dafür müssen einige grundlegende Fragen gestellt werden, für die bislang der Raum fehlt. Es gilt, ihn zu eröffnen.

Im normalen Arbeitsalltag bleibt hierfür kaum ausreichend Zeit, oftmals sind alle Kapazitäten damit ausgeschöpft, den Betrieb am Laufen zu halten; diese Zeit zu finden – bzw. sie sich zu nehmen – ist von grösster Wichtigkeit. In Hamburg lassen sich positive Beispiele in Form universitätsweiter sowie fakultäts- und fachbereichsbezogener Dies Academici finden, an denen sich Vertreter aller Statusgruppen zusammensetzen, um Probleme zu benennen und gemeinsam an Lösungsansätzen zu arbeiten.

Worin es dabei im Kern gehen muss, ist die Frage: Wofür machen wir das eigentlich? Was zeichnet „gute“ Wissenschaft aus? Was bedeutet das für Forschung, Bildung und Lehre und wann ist unsere Schmerzgrenze hinsichtlich des gegebenen Rahmens erreicht?

Aus drei mach eins: Forschung, Bildung und Lehre – „gute“ Wissenschaft

Wer von Forschung spricht, spricht in der Regel von Entwicklung, von Fortschritt, von neuen Erkenntnissen. Forschungsergebnisse bringen die Diskurse innerhalb eines Faches voran und haben eine Strahlkraft darüber hinaus, sowohl in interdisziplinäre Gespräche als auch in die Gesellschaft. Woran ist zu bemessen, ob Forschung „gut“ ist? An der Summe von Geldern, die eine Fördergesellschaft oder ein Unternehmen bereit ist, dafür auszugeben?

Hinter Forschungen und Studien stecken Interessen, idealerweise das Interesse an Wahrheitsfindung. Aber Wissenschaft lässt sich eben auch benutzen, um Meinungen zu begründen, die an Wahrheit wenig interessiert oder sogar menschenverachtend sind – Thilo Sarrazin lässt grüssen. Woran soll sich Wissenschaft orientieren? Und darf sie ethisch genormten „roten Linien“ der Menschenrechtssicherung, Nachhaltigkeit, Friedens- und Demokratieförderung ignorieren, wenn es hilft, Reputation und Forschungsbudget zu sichern?

Muss sich die Wirtschaftswissenschaft nicht etwa mit der gerechten Verteilung materieller Ressourcen beschäftigen und Kritik an bestehenden Verhältnissen äussern (Stichwort Nahrungsmittelspekulation) und nicht – wie Friedrich Engels bereits 1844 schrieb – eine „Bereicherungswissenschaft“ sein? Was Gerechtigkeit und Toleranz – neben all den anderen wertgeladenen Begriffen – bedeuten, ist freilich eine Frage, die von gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen bestimmt wird.

Umso wichtiger ist eine permanente Reflexion über gesellschaftliche Entwicklungen und die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Forschung. Welche Bedeutung hat meine Arbeit für dieses Fach, für diese Gesellschaft, für die Welt, in der wir leben? Was sind die grossen Probleme unserer Zeit und welchen Beitrag kann ich leisten, Lösungsansätze zu entwickeln, sei es gegen Krieg, Armut oder Rassismus?

Der Zustand, in dem Menschen befähigt sind, sich in aller Fülle lebensweltlicher Bezüge theoretisch und praktisch ein Bild von der Welt zu machen und auf der Grundlage eigener Überzeugungen im Spiegel historischer und gegenwärtiger Verhältnisse und Entwicklungen Entscheidungen zu treffen, die sie gewissenhaft und wahrhaftig vertreten können, könnte als Bildung bezeichnet werden.

Das ist kein statischer Zustand, sondern ein dauerhafter, lebenslanger Prozess der Orientierung, der Weiterentwicklung, der geistigen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Bildung setzt ein Bewusstsein für gesellschaftliche Entwicklungen voraus. Kritisches Denken und Fragen (auch sich-selbst-Hinterfragen) müssen höchstes Ziel universitärer Bildung sein. Ist es das?

Lehre oder Leere?

Und schliesslich die Lehre, oder: Leere. Immer stärker ist in den meisten Fächern ein Trend zu beobachten, dass Lern- und Lehrformen nicht mehr an einer inhaltlichen und studierendenbezogenen Ausrichtung orientiert sind, sondern hauptsächlich versucht ist, ein Angebot zu liefern, das den Rahmenbedingungen gerecht wird. Lehre ist geprägt von Mittelknappheit, überfüllten Seminaren, fehlenden Lehrstellen.

Wo die Inhalte eines Studiums aufgrund struktureller Schieflagen zu kurz kommen, ist etwas faul. Wo erhöhte Studierendenzahlen zu einer Massenabfertigung führen, darf die wissenschaftliche Qualifikation und Befähigung zum Weiterdenken angezweifelt werden. Dass die Ausstattung der Universitäten für eine gute Betreuung der Studierenden und eine Weitergabe von Wissen, eine Förderung von Bildung, eine Motivation zur Forschung oft nicht genügt, zeigt sich auch in der Suche nach neuen didaktischen Möglichkeiten, wie etwa MOOCs (massive open online courses).

Dabei geht es nicht mehr um eine individuelle Betreuung, sondern um die Sendung eines massentauglichen Formats an möglichst viele Empfänger*innen. Ob Universitäten gut daran beraten sind, sich diesem Format der Erziehungsindustrie anzuschliessen, sollte ebenfalls vor dem Hintergrund einer Klärung des eigenen Selbstverständnisses diskutiert werden. Wie wird eine Didaktik den inhaltlichen Ansprüchen eines Faches gerecht? Wie greifen Lehre und Lernen ineinander und wie kann eine Kultur des gemeinsamen Lernens geschaffen werden? Was ergibt sich daraus für Prüfungen und Seminarleistungen?

Am politischen Diskurs teilnehmen

Auf der Grundlage dieser Fragen sollten die Angehörigen der Hochschulen in den politischen Diskurs treten. An den verschiedenen Erwartungen an die Universitäten lassen sich gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse ablesen. Einen offenen Dialograum zu schaffen, wäre nötig, um den Herausforderungen eben auch gesamtgesellschaftlich zu begegnen, das heisst unter Einbeziehung möglichst aller Akteure. Im schlimmsten Fall haben einige wenige die Diskurshoheit und „wirtschaften“ die Universitätslandschaft in einer Weise zurecht, die nicht mehr viele ihrer eigenen Ansprüche zur Geltung kommen lässt.

Im besten Fall entstehen neue Synergien zwischen den diversen Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, die sich ihrer gemeinsamen Verantwortung für die universitäre Zukunft und unsere Gesellschaft bewusst sind und einen Rahmen gestalten, in dem Wissenschaft auf der Grundlage eines frei gebildeten universitären Selbstverständnisses möglich ist.

Die Relevanz einer kritischen Wissenschaft ist ungebrochen. Eine Grenze muss dort gezogen werden, wo Gefahr für den wesentlichen Kern eines Faches und die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre droht. Dafür muss Bewusstsein im öffentlichen Raum geschaffen und Partei in den politischen Debatten ergriffen werden. Wenn die richtigen Fragen endlich intern und öffentlich diskutiert werden, wäre ein wichtiger Schritt getan.

Christoph Grüll
berlinergazette.de

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