Wenig kümmerliche Föhren,
Trübe flüsternde Genossen,
Die hier keinen Vogel hören;
Nichts vom freudigen Gesange
In den schönen Frühlingszeiten;
Geiern wird es hier zu bange,
In so dunkeln Einsamkeiten.
Weiches Moos am Felsgesteine,
Schwellend scheint es zu begehren:
Komm, o Wolke, weine, weine
Mir zu die geheimen Zähren!
Nikolaus Lenau, Asyl
Die Anmut ihrer Gestalt, die Schönheit der Farben, die Schnelligkeit und Behendigkeit ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme, die Liebenswürdigkeit ihres Wesens ziehen uns unwiderstehlich an.
Alfred Brehm, Brehms Tierleben
VORWORT, verfasst von Prof. Tütenholz (um 2015)
Nachdem ich mich in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Aufhebung meiner Heimat Difficilia. Deterrita. Res publica.* (hier und im Folgenden D.D.R.) mehr und mehr auf die Ornithologie verlegte, fasste ich den Entschluss, ein „Bestiarium der Ostvögel“ zu verfassen. Ich hielt es für möglich, die Vögel eines deutschsprachigen Landes, das inzwischen in einem grösseren deutschsprachigen Land namens B. R. D.** Platz genommen hatte, zu kategorisieren oder zu katalogisieren, das Legendäre vom Wahren zu trennen, den chimärischen Geschöpfen Maske und Kostüm zu nehmen und ihre wirkliche Gestalt, ihre tatsächliche Lebensweise zu beschreiben.Meiner Beobachtung nach war es binnen wenigen Jahren innerhalb der Gesamt-Kolonie zu einer Vereinzelung oder Atomisierung gekommen, die gemeinhin akzeptiert, vielleicht sogar gewollt war. Dass jedes dieser Atome, dass jeder Vogel dennoch/trotzdem zu einer Gruppe mit gemeinsamen Art-Eigenschaften gehört, war für mich in der Zeit meines Lebens bis heute eine conditio sine qua non. Es überlebt derjenige besser, der Teil einer gleichgesinnten und Gleiches wollenden Menge ist, mit ihr isst und zwitschert. Auch schien mir, dass selbst halbwegs gebildeten Vögeln nichts schrecklicher war, als wenn jemand ihre Ansichten bezweifelte, leugnete, ablehnte und sie der leiblichen wie –Ideenwelt einer Gruppe/grösserer Allgemeinheit zuordnete. Lieber schnattern sie ihren Unsinn originär, um den Ruf der Einzigartigkeit zu erlangen. Solches Treiben widert mich an.
Meiner Auffassung nach, ist die Aufspaltung der Vogelheit in eine Menge von Abermillionen Individualitäten ein Aberwitz. Jede Ameise würde sich empören, nehme sie jemand allein als einzelne wahr; jede Wildgans im Herbst würde wütend schreien, liesse sie der Schwarm auf dem Zug nach Süden isoliert zurück; jedes menschliche Kleinkind verstünde nicht im Geringsten, warum es die Eltern, die Familie, die Gesellschaft allein in den Windeln liesse und sich nicht um Speise und Abfall kümmerte. Und nur weil aus Vogel-Kindern Vogel-Erwachsene werden, die in ihrer Markt-Verblendung beinahe schreckhaft darauf reagieren, der Nachbar, der Kollege, die Bewohner der Nachbarstadt oder eines Nachbarstaates könne sein wie sie - soll diese Weise der Individualisierung etwa das Göttlichsein bedeuten? Soll das Ich das Wir so restlos ersetzen, dass es am Ende weder das eine noch das andere gibt?
Tatsächlich fand ich während meines Studiums der Vogelwelt in den Nistgebieten der D. D. R. Eigenschaften, Merkmale, Habitate, die es m. E. ermöglichten, Individuen bestimmten Gruppen, Arten, Klassen zuzuordnen; wobei ich mich schwer tat, scharf zu trennen. Sehr viele ähnliche, beinahe gleiche Charakteristika liessen sich bei sehr vielen sehr unterschiedlichen Arten finden. Dass ich versuche, sie auseinanderzuhalten und zuzuordnen – die Leserin, der Leser meiner Betrachtungen möge mir Diffuses nachsehen; aus einem Hobby-Vogelforscher wird nicht eben auf die Schnelle ein professioneller, in seinem Fache akademisch gebildeter Ornithologe; anderthalb Dutzend Jahre Konzentration auf ein Thema halte ich längst nicht für eine ausreichende Qualifikation, und:
Sehr verführerisch waren für mich Lese-Früchte, in denen das Wort Vogel nur durch das Wort Mensch ersetzt werden musste – und vor mir entstand ein Universum voll verblüffender Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten, verständlicher Abweichungen etc.pp. In „Die Vögel. Ornithologie populär“ (Austin L. Rand, BLV Verlag, 1971) heisst es: „Man kann die Gefiederten nur in ihrem Lebensraum, in ihrer Umwelt verstehen, denen sie und ihre Handlungen angepasst sind; wir dürfen unsere Mentalität nicht auf sie übertragen. Wenn uns trotzdem hier und da ein Ausdruck unterläuft, der eine menschliche Wertung enthält, liegt das einfach darin begründet, dass unsere Sprache nicht über genug wertungsfreie Ausrücke verfügt, um das Verhalten unserer Gefiederten darzustellen. Sex und Familienleben, Gesang und Revierverteidigung nehmen währen der Brutperiode einen grossen Teil unserer Vögel in Anspruch. Den Rest des Jahres beherrscht die Nahrungssuche alles andere.“ Oder diese Beobachtung: „Nicht selten baut eine schwächere oder weniger angriffslustige Art ihr Nest in der Nachbarschaft einer stärkeren oder streitbareren, gleich ob dies ein Greifvogel ist oder nicht.“
Und: „Geselliges, soziales Verhalten spielt im Leben vieler Vögel eine wichtige Rolle. In grossen Kolonienestern haben z. B. viele Paare ihre Unterkunft und zwar jedes eine Wohnung für sich, wie wir in unseren Wohnblöcken. Weiter finden wir Siedlungen, in denen verschiedene Arten dich nebeneinander brüten. Wir treffen sogar Haushalte an, in denen mehrere Paare einer Artbeieinander wohnen. Es gibt Kindergärten und schliesslich Brutparasiten, die ihren Nachwuchs völlig von Fremden grossziehen lassen.“
Diese wenige Zitate genügen, weitere liessen sich in Menge anführen. Sie, schien mir, legitimieren meine Absicht, das vorliegende „Ossarium“ zu verfassen, das ich ursprünglich als „Bestiarium“ anlegen wollte. Dazu Folgendes:
Während meiner ornithologischen Ausflüge, die mich durch Deutschland und im Besonderen durch die konservierten und manchen Orts auffällig-prächtig sanierten Lebensräume der D. D. R, führten, begann ich den Begriff „Bestiarium“ abzulehnen; ich fühlte mich zunehmend unwohl, „Bestien“ (reissende Tiere, Raubtiere; im kulturellen Gebrauch durch die Jahrhunderte: ein chimärisches, bizarres Halbtier) fand ich nicht vor. Dass ich das Wesen der hiesigen Bewohner noch heute durchaus auch als rätselhaft empfinde, steht auf einem anderen Blatt.
Der Begriff „Ossarium“ schien mir mit einem Mal passender. Zum einen nimmt er die volkstümliche Bezeichnung „Ossi“ auf; die fand ich zuhauf, zu ihnen gehöre ich. Zum anderen sah ich in dem „Ossarium“ eine gewisse Bildhaftigkeit: In einem Beinhaus werden die Gebeine von den Toten eines Friedhofs gesammelt, um Platz für weitere Bestattungen zu schaffen. Manche Ossarien sind zweistöckig; es befindet sich in ihnen häufig eine Kapelle zur Andacht. Das gefiel mir. Das kam meinen Absichten entgegen, hatte ich doch nichts anderes vor – das meine ich mit einer gewissen Bildhaftigkeit – als die von mir beobachteten Vögel „zu entkleiden“, gewissermassen „zu häuten“, das saubere Skelett ihres Wesens „aufzuheben“, zu bewahren.
Schliesslich: Ich, Prof. Dr. Johannes Tütenholz, erkläre an Eides Statt, dass die folgenden Ausführungen auf meinem Mist und ausschliesslich auf meinem Mist gewachsen sind. Weiterhin erkläre ich …
*Etwa Mühsam-spröde. Abschreckende. Republik (lat.: difficilis = schwer zu passieren, beschwerlich; auch, geographisch-politisch: schwierig, mühsam; auch, charakterlich, persönlich: mürrisch, eigenwillig, spröde; lat. deterritus = abschreckend, abwehrend, verhindernd, abbringend; lat. Res publica = Staatsangelegenheit; auch: Staats- oder Gemeinwesen) **in der Bacchabunda. Res publica. Deterrita. (lat.: bacchabundus = rasend, lärmend, bacchantisch schwärmend; lat.: Res publica = Staatsangelegenheit; auch: Staats- oder Gemeinwesen lat.: difficilis = schwer zu passieren, beschwerlich auch, geographisch-politisch: schwierig, mühsam; auch, charakterlich, persönlich: mürrisch, eigenwillig, spröde;); etwa Lärmend-schwärmende. Abwehrende. Republik
ERGÄNZUNG des Herausgebers, 2019
An dieser Stelle bricht das Vorwort des inzwischen emeritierten und ausgewanderten Professors Johannes Tütenholz ab. Auch ist der von ihm geplante Katalog (Album, Lexikon, Kompendium) unvollständig, bruchstückhaft geblieben. Zweifelsohne hätte der Professor noch andere Vogelarten beschrieben, wenn er nicht, aus Gründen, die wir nicht kennen, das Vorhaben aufgegeben hätte. Zwei Jahre vor der Niederschrift, 2015, brach J. T. „seine Zelte“ in Deutschland ab und ging nach Kvikkjokk (Schwedisch-Lappland), ein Jahr später zog er nach Island weiter, wo er sich in der Nähe des Krafla-Kraftwerkes am Ufer des Mytvan niederliess. Der Herausgeber, ein Vertrauter des Professors, vermutet drei Gründe für den Verzicht auf das Ausarbeiten des „Ossariums“.Erstens. J. T. wollte mit Deutschland und den Deutschen nichts mehr zu tun haben, höchstens, dass er sich noch für Nachrichten aus seinem fernen Heimatland interessierte; warum er sich so distanziert (verbittert? weise? überdrüssig?) verhielt -, das steht „in den Sternen“. Dass er noch lebt, bestätigt der Herausgeber, der sporadischen Kontakt mit dem Eremiten hat. Er kann berichten, weil er T. vor zwei Jahren das letzte Mal besucht hatte, dass der Professor bei heiterer Gesundheit, einer gewissen permanent-leicht alkoholisierten Gelassenheit und geistig rege „wie anno dunnemals“ ist.
Zweitens. J. T. bewältigte die Menge des Materials nicht und streckte seine geistigen Waffen; tatsächlich fand er sich möglicherweise nicht mehr zurecht: in dem Wust aus Konkretem, Allgemeinem, Tendenziellen, Kollektivierenden. In einer Gesellschaft, in der die meisten Debatten gern mit einem „Ich habe aber erlebt, dass …“ oder „Ich kann behaupten, dass ich mit diesem Fall …“ oder „Hören Sie mal, ich nenne Ihnen jetzt mal das Beispiel …“ des einen oder anderen Diskutanten begannen -, Debatten, in denen es beinahe fahrlässig war, „Wir“ zu sagen oder „Die Tendenz oder der Trend aber …“ -, also eine solche Debatten- und Nachdenk-Kultur, in der die Fragen nach der kollektiven Zukunft der Menschheit zur Bagatellangelegenheit für Parteien, Beiräten, Ämtern, TV-Events etc. pp. verkamen, irritierte T. und schlug ihn in die Flucht.
Zum Dritten: Johannes Tütenholz wurde von anderen Ideen eingeholt, überrollt, zu Boden gedrückt (oder die Über-Idee, fortan das Schreiben und Forschen ganz sein zu lassen, überwältigte ihn), sodass er das „Ossarium“ oder „Bestiarium“ aufgab. Der Ansicht, es sei genug geschrieben, beschrieben, gedeutet, gefehlt, vermutet, verleumdet, verspottet, folgte der Entschluss, sich nicht in die Reihe der Autoren zu reihen, die schreiben, beschreiben, deuten, fehlen, vermuten, verleumden, spotten und damit erst aufhören, wenn ihnen endgültig und tatsächlich die Luft wegbleibt.
Dass Prof. Johannes Tütenholz in seinen Betrachtungen in der Wir-Form schreibt, entspricht seiner souveränen und zugleich demütigen Haltung. Er ist souverän genug, sich nicht für originär und einzigartig zu halten; er ist demütig, weil er sich als Teil eines Kollektivs sieht und ohne die Mitarbeit anderer nicht die gewaltige Menge der Beobachtungen und Fragen hätte ordnen und beantworten können.
Dass Tütenholz hinter dem Wir auch eine Portion Feigheit (Unsicherheit? Angst zur Verallgemeinerung?) versteckt, vermutet der Herausgeber. Auch in diesem Punkte machte der Professor a. D. keinen Hehl aus sich und seiner Bedeutung. Er könne nichts Nachahmenswertes und des Nachmachens Wertes an einer Haltung des „pathetischen Egoismus“ finden. „Der Selbstbesoffene macht Karriere, zieht begeistern in den Krieg, tritt die Würde des Nachbarn in die Tonne und verhindert seine Menschwerdung“, sagte er dem Herausgeber bei einem der Spaziergänge durch die nach Urin und Salpeter stinkenden Erdlöcher unweit des isländischen Kraftwerkes Krafla. „Es ist peinlich, sich für einen Helden zu halten, als solcher aufzutreten und sich anderen als solchen zu präsentieren.“
Avis adventus
Der Avis adventus (lat. advenire = ankommen, hinkommen, sich näher kommen; auch: Ankunft, Eintreffen, Ausbruch) ist ein fröhlicher, selten missmutiger, optimistischer Vogel. Für ihn steht die Welt offen, für ihn gilt, was zu Zeiten seiner Eltern gesungen wurde: „Wir sind jung, die Welt ist offen,/o du schöne weite Welt!/ … Liegt dort hinter jenem Walde/nicht ein fernes, fremdes Land? …“; oder auch: „Siehst du die Lerche dort unterm Himmelszelt? Fliege mit ihr in die Fernen./Fliege mit ihr über Berg und Tal und Feld/hoch zu den Mond und den Sternen.“ Diese Zeilen waren eine verführerisch-verführende Lüge und den Heranwachsenden ein verlogenes Versprechen; für den heutigen Avis adventus aber sind sie glückhafte Verheissung, Wirklichkeit, Möglichkeit.Der Avis adventus (im Folgenden auch A. ad.) ist uns durch seine Unbekümmertheit, ja durch eine gewisse Leichtfertigkeit und zugleich seiner strotzenden Zukunfts-Zugewandtheit aufgefallen. Er kennt die Ohnmacht der Erwachsenen noch nicht. Er lässt sich, selbst wenn er die ersten Lebensjahre in der Difficilia. Deterrita. Res publica. auf den Töpfchen einer Kinderkrippe verbracht hat, nicht halten. Sollte er in seinen ersten Lebensjahren „gekäfigt“ worden sein, so sind die Käfig-Stäbe verrostet und verfallen. Er kennt nur offene Grenzen, und die Welt ist eine Bewegungs-Chance; sie ist sein Spielplatz, sein Kindergarten, seine Universität, seine Schule des Lebens.
Der A. ad. verschwendet nicht einen Gedanken an den Avis gubernabilis (lat. gubernabilis = lenkbar, leitbar), dessen erwachsen-geschmeidig-diplomatische Vertreter ihm gut zureden, ihn warnen, ihn mit Lebenserfahrungen (ihren eigenen) füttern wollen. Die Welt sei ein gefährlicher Ort; Schuster bleibe bei deinen Leisten; wer nicht hören wolle, würde fühlen. Das ist ein Futter, das er ablehnt, das ihm nicht schmeckt, das ihn nicht schreckt; der A. ad. will sich selber um sein Futter kümmern, will essen und trinken, was ihm schmeckt, will herausbekommen, wie es sich anderswo in den Lüften fliegt und in ungewohnten Wettern haust. Dass er dabei die Erfahrung macht, die die älteren und Eltern-Vögel auch gemacht haben – etwa Kopfschmerzen nach berauschten Nächten, unleidliche Vorgesetzte (etwa Lehrer), Freunde, die sich als Feinde herausstellen u. ä. -, das steckt er ein, das kommt in seine Reise-Tasche als Erinnerungsstücke für eine spätere Zeit.
So wie der Avis adventus der Welt entgegenfliegt, so tritt sie ihm entgegen. Ob er mit dem Fahrrad ein halbes Jahr durch China fährt, ob er auf einem Interrail-Ticket reist, ob er Praktika und Volontariate in europäischen Ämtern und Medien nutzt, um für ein kleines Entgelt Netz-Werke zu schaffen -, ob er zum Studium der Meeresbiologie nach Göteborg aufbricht oder sein Studium der „Ethnologie schwäbischer Ureinwohner“ in Tübingen abbricht, um ein Segelboot von der portugiesischen Küste zur Ostküste Kanadas zu überführen -, ob er einem Freund oder einer Freundin nach Kenia folgt oder dem nächsten Freund und der nächsten Freundin auf eine japanische Insel, ob er ein Erasmus-Stipendium nutzt-, ob er eine Tauchschule gründet oder das Mixen von Bargetränken auf Kuba erlernt, um danach das Leben der Panda-Bären in den Bergen von Sichuan zu beobachten -, der A. ad. geniesst die Luft des Planeten in vollen Zügen.
Er lernt schnell, seine Auffassungsgabe ist rasch. Er lernt zu greifen, hinzulangen und den Chancen-Wurm zu packen. Er entfaltet seine Flügel und seine Sehnsüchte, seine Abenteuerlust und seine Lebensgier, und er gleitet im Aufwind des Lebens über Städte, Flüsse, Wälder; er stemmt sich gegen die Winde und die Widrigkeiten der Bürokratien; er sucht seinen Platz, nur nach Hause, nur nach Hause will er nicht. Oder nur noch zu Besuch? (Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die „Berichte aus dem Arbeitsgebiet der Vogelwarten, Fortsetzung von: Der Vogelzug, Berichte über Vogelzugforschung und Vogelberingugen, Bd. 20, Heft 1. Juli 1959, Über das Heimfinden von Vögeln aus unbekannter Gegend“ von Jan Verwey, Zoologische Station Den Helder. In ihnen heisst es u. a.: „Die Fähigkeit, aus unbekannten Gegenden heimzufinden, ist für Säugetiere, Vögel, Reptilien und möglicherweise auch Fische erwiesen. Es ist wahrscheinlich, dass Vögel, Reptilien und auch Fische die Sonne zum Heimfinden benötigen, während dies bei Katzen, Mäusen und Fledermäusen offensichtlich nicht der Fall ist. … Vögel finden aus sehr grossen Entfernungen heim. Auch Fledermäusen ist dies aus ziemlich grossen Entfernungen möglich. Offenbar können es aber Katzen und Mäuse nicht; sie finden wahrscheinlich nur aus verhältnismässig geringen Entfernungen heim.“)
Freiheit! pocht es in der Brust des A. ad. Ins Weite, ins Offene! pulst es in den Blutbahnen unter Haut und Gefieder. Wegsein! Unterwegssein! Und leise, trippelfein zieht durchs Gemüt doch auch die Ahnung einer Sehnsucht und des Verlangens nach einem Nest zum Bleiben. Nach einer Sicherheit, aus der heraus sich der A. ad. erinnern kann an die Zeit seiner Höhen- wie Tiefflüge, seiner Aus- und Abflüge, seiner An- und knappen Einkünfte. Es ist seine Jugendlichkeit, die ihn auf natürliche und selbstverständliche Weise privilegiert; und so soll es auch sein, wie schade wäre es, ein jeder Vogel käme als verknöchertes Wesen zur Welt, mufflig, grämlich, gichtig? Zu werden wie die Alten, hat der junge A. ad. Zeit genug. So lange er jung ist, sucht er Seinesgleichen und gesellt sich zu den anderen Zugvögeln (volucres advenae).
Aber die älteren und alten Vögel der Ursprungs-Heimat verlieren den Avis adventus nicht aus den Augen. Naturgemäss sorgen Entfernungen und andersartige Erfahrungen für eine gewisse, wenn auch nicht zwingend notwendige Entfremdung zwischen Alt- und Jungvögeln. Nicht selten hört der Jungvogel von Vater, Mutter, Tante, Onkel den Seufzer: „Wenn wir noch einmal so jung wären, wir würden es machen wie du!“ Oder sie zürnen sentimental: „Wenn wir eines dem damaligen Staat und der Regierung der D. D. R. vorwerfen, dann das: Die Dominanz-Vögel liessen uns nicht reisen!“ Als die Schutzzäune und –mauern gefallen waren, flogen und zogen sie zwar auch los, indes holten sie nur nach. Schmerzhaft wahr ist: Sie erfuhren an Leib und Seele, dass die Wahrnehmung der Welt einem jungen Geist einen höheren Erfahrungs- und Gefühls-Ertrag bringt als dem älter gewordenen Geist. Der alte Vogel hakt die Ziele auf seiner Flug-Liste ab, der junge Vogel hackt nach.
Im Habitus ähnelt der Avis adventus dem Avis immobilus (lat. immobilus = unerschütterlich, empfindungslos; auch: untätig, ruhig, still; auch: unbeweglich). Die Vertreter der beiden Arten sind im Alter etwa gleich, und beiden steht die Welt gleichermassen offen. Im Gegensatz zum A. ad., der die Räume und Reisemöglichkeiten nutzt, verharrt der A. i. auf der Stelle. Er will sich der Fremde nicht aussetzen; eher beäugt er das Fremde und seine Vertreter (etwa Migranten) argwöhnisch, misstrauisch, ablehnend. Er schiebt gern auf die Umstände, dass er zur Unbeweglichkeit geradezu verdammt sei, und wenn er um sich schaut, nimmt er verwundert und auch verärgert bis wütend zur Kenntnis, dass er unter Seinesgleichen geblieben ist. Verringert um die Anzahl der Weibchen, die fortgeflogen sind in die Weite (vgl. auch Ars expeditus laborans).
Wahr ist, dass ein Vogel so siamesisch fest mit seiner Familie verbandelt sein kann, dass er ihr Fehlen fürchtet. Wahr ist, dass es ein Bündel aus Gefühlen gibt, die sich mit dem Begriff „Heimat“ treffend (und zugleich irreführend; über „Heimat“ nachzudenken, sprengte den Rahmen dieses Forschungsberichtes) bezeichnen lassen. Dieses komplexe Motivgeflecht kann einen Vogel an sein Nest binden, ja fesseln. Und wer ihn deswegen kritisiert oder ihm übel will, frage sich nach seiner eigenen „Heimat“ oder nach dem, woran er mit allen Fasern seines Herzens hängt. Wahr ist auch, dass die meisten A. i. redliche Vögel sind, deren Sehnsucht nach einem friedfertigen Leben in Familie, mit gedeihlicher Arbeit, im Kreise des und der Vertrauten beachtet und respektiert werden muss. Verachtung hat der A. i. nicht verdient. Weil er reizbar ist, sind Begegnungen mit ihm nicht ungefährlich.
Der Avis immobilus hat u. E. eine gesonderte, ausführliche und gründlich-vertiefende Untersuchung verdient. Er ist zahlenmässig dem Avis adventus weit überlegen. Wohin der A. ad. auch kommt, wo immer er sich niederlässt, da gibt es den A. i. schon; er dominiert flächenweit die Alltagskultur, die Lebensweise, die Verhaltensnormen seines Nutzung-Gebietes. Zudem sind die Eigenschaften des A. i. durchaus mit den Eigenschaften des Avis opportunis (vgl. auch Avis assimilationis) zu vergleichen. Es ist ein weit verbreiteter und durch Medien, Moden u. ä. immer wieder hergestellter Irrtum, dass die von uns beobachteten Vögel urbane Geschöpfe sind, ja es ist fatal zu glauben (von Politikern, Ökonomen, Journalisten, Zeitdiagnostikern aller Art und Provenienz u. a.), der Avis germanis würde in seinem Gesamtcharakter am ehesten in seinen grossstädtischen Bewohnern gespiegelt. Dafür gibt es in Deutschland zu wenige Grossstädte; und diese Grossstädte sind grosse Kleinstädte. (Weitere Ausführungen zu diesem Thema findet der interessierte Leser/die interessierte Leserin in Prof. Tütenholz' Geschichts-Essay: “Die Kommune voller Nackedeis und ihre Folgen. Über die Fatal-Interpretationen der 1968er Bewegung“ – Anm. d. Hsg.)
Der Avis immobilus lebt, denkt und handelt, als wäre ihm eingeschrieben, als genügte ihm, was der japanische Dichter Issa (1763-1827) im Haiku schrieb:
Im Weltgetriebe
Auch so ein kleiner Vogel
Sein Nest sich baute.
Wir können die älteren Vertreter des noch jugendlichen A. i. als „fortgeschrittene Nesthocker“ (auch: Nestlinge) bezeichnen; sie sind nicht nur wie jeder Vogel (zumeist) nackt geboren „und unfähig zur artgemässen Fortbewegung“ (Lexikon der Biologie), sie benötigen „mindestens einige Tage, meistens länger“ den „Schutz eines Nestes“ (ebenda) Es gibt den „fortgeschrittenen Nesthocker“ heute noch bzw. heute ziemlich häufig wieder. Als Begriff wird er in neuerer Zeit in der Psychologie und in der Soziologie gebraucht und benennt eine „heterogene Gruppe junger Erwachsener, die, als historisch neues Phänomen der westlichen Industrienationen, dauerhaft in der elterlichen Wohnung verbleiben und keinen oder auffallend spät einen eigenen Lebensbereich aufbauen. Für eine Gruppe dieser jungen Erwachsenen wird als Ursache des Nesthocker-Phänomens zum einen ein nicht stattgefundener Ablösungsprozess von den Eltern angesehen, wobei oft ein nicht altersgemässes Sexualverhalten zu beobachten ist. Zum anderen können ökonomische Gründe Anlass für dieses Verhalten sein – meist verbunden mit einem recht partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Eltern und Kind, wobei sich eine bessere finanzielle Situation durch den Verbleib im Elternhaus ergibt – gegebenenfalls für beide Parteien. Auch äussere Zwänge, wie Wohnungsmangel oder Arbeitsplatzverlust, können eine Rolle spielen.“ (ebda)
Den Avis adventus können wir auf dieser Betrachtungs-Ebene als Nestflüchter (auch: Platzflüchter) ansehen. Sie kommen „derart weit entwickelt zur Welt, dass sie kurz nach der Geburt oder dem Eischlupf dem Elterntier nachfolgen können“ (Lexikon der Biologie). Das jedenfalls behaupten die stolzen Eltern gern von ihrem ausserordentlich gut gelungenen Nachwuchs. Die Jungen schlüpfen gewissermassen als „verkleinerte Abbilder der adulten Tiere“ (ebda).
Wir stellen abschliessend und zurückkehrend zum Thema fest: Der Avis adventus, zumal in jungen Jahren, verfügt über die physischen und psychischen Fähigkeiten der Mobilität und der Flexibilität. Ihm muss nicht beigebracht werden (Schulungen, Weiterbildungsmassnahmen, Jobagenturen u. a.), dass mobil und flexibel zu sein „zwei der am häufigsten geforderten Eigenschaften unserer derzeitigen Geschäftswelt“ sind; und dass das nicht „weiter verwunderlich (ist), betrachten wir die Technisierung nicht nur der Arbeits- sondern auch der Alltagswelt durch Industrialisierung, Automatisierung, Computerisierung“, muss dem A. ad. nicht gesagt werden. Er hat schon als Embryo, folgend als Kleinkind, folgend als Lernender und als Teenager den Sound der Mobiltelefone, Tastaturen, Mouse-Clicks von derlei Anforderungen (Herausforderungen) gehört. Er weiss: „Der immense Fortschritt bei der räumlichen Entfaltung und technischen Effizienz der den Erdball umspannenden Transport- und Kommunikationswege bringt früher ferne Dinge mitten in unser Leben (von der Information über die Ware bis zur Person) und beschleunigt zugleich den Fluss von Informationen, Waren und die Abfolge von Ereignissen.“ Und wenn es weiter in der von uns hier angeführten Schrift zur „Ausbildung im Öffentlichen Dienst“ (Projekt des DBW und der HUK Coburg) lapidar heisst:
„Gegen diese beschleunigte, durchökonomisierte Lebenswelt gibt es berechtigte Einwände“ -, so wird dem Avis adventus im nächsten Satz erklärt: „Nichtsdestotrotz zwingt sie den Einzelnen ebenso wie Gruppen und Institutionen sich fortwährend auf neue Sachverhalte einzustellen.“ Das ist die nüchterne Sprache der Wirtschaft und Ökonomie; das ist das Zwitschern, das der Avis adventus versteht, ohne beunruhigt zu sein, panisch oder hysterisch zu werden. Wohin immer es den Vogel verschlägt, er wird im Grossen und Ganzen unter den Konditionen der kapitalistischen Warenproduktion tätig und erfolgreich sein, weil er über sie Bescheid weiss und sie nicht revolutionär ändern, sondern nur fachlich ausnutzen will. Letztlich will jeder A. ad. das, was jeder Vogel will: ein Nest bauen, eventuell einen Partner/eine Partnerin binden, vielleicht ein Ei ausbrüten, eine Familie gründen und für das Alter vorsorgen.
Ob der Avis adventus, der seinen Platz in der Fremde gefunden hat, je wieder endgültig heimkehrt, etwa in das Gebiet der Plothener Teiche in die Watt- und Meeresflächen und Salzwiesen des Wattenmeers, in den Schutz fragmentarischer keltisch/römischer Befestigungsanlagen im Hunsrücker Hochwald, an das Ufer des Jabelschen Sees -, das steht in den Sternen und wird der innere Lebens-Kompass der einzelnen Vertreter des A. ad. weisen. Warum sollte er, wenn er einen sicheren Nistplatz gefunden hat, für sich und seine Brut, zurückkehren in eine in die Vergangenheit gerückte Heimat, wenn der Planet Erde seine Heimat geworden ist?
Die Sentimentalität des Provenienz-Erinnerns ist ihm on the tours in the air abhandengekommen; dass es einzelne Rückkehrer und auch Wellen der Rückkehr gibt, erlaubt u. E. nicht von einem typischen Verhalten des Avis adventus zu sprechen. Der so genannte „Sonnenkompass“ (vgl. „Die Sonnenorientierung der Vögel. II. Entwicklung des Sonnenkompass und sein Stellenwert im Orientierungssystem“, Januar 1981) ist ausser Kraft gesetzt. Die elektronischen Möglichkeiten navigieren den Avis adventus durchs Leben. Seine Flugrichtungen plant er flexibel und mobil.
Sein Nachwuchs wird, wo er lebt, mehrsprachig aufwachsen. Sein Nachwuchs wird weltweit den Unterschied zwischen Einheimischen und Fremden (indigenae advenaeque) verwischen und schliesslich verschwinden lassen. Es wird ein Geschlecht von Menschen entstehen, die von Geburt an Ihresgleichen als IhresGLEICHEN erlebt, behandelt und denkt. Hoffnung gehört u. E. beim Betrachten der Vogel-Welt dazu: zum Wunsch, dem Planeten mögen alle Vögel erhalten bleiben, alle Vögel mögen sich in einer zukunftsfriedlichen Einheit und Übereinstimmung finden und binden.
Zusatz: Es gibt eine Jugendpolitik der Europäischen Union. Zu ihr „ gehören vor allem die Bereiche Beteiligung, Jugendinformation, Freiwilligenarbeit und Wissen über Jugendliche. Schlüsselthemen sind auch Mobilität, Beschäftigung und nicht-formales Lernen. Wichtigstes Verfahren ist die Offene Methode der Koordinierung.“ (Wikipedia) Im November 2009 hat der Rat eine Entschliessung zu einem „erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa“ für den Zeitraum 2010-2018 angenommen (ABl. C 311 vom 19.12.2009, S. 1-11). Seine zwei übergeordneten Ziele sind die Schaffung von mehr Möglichkeiten und mehr Chancengleichheit für alle jungen Menschen (lies hier und im Folgenden: Vögel – d. A.) im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt und die Förderung des gesellschaftlichen Engagements, der sozialen Eingliederung und der Solidarität aller jungen Menschen. … Die Arbeit erfolgt in Arbeitszyklen von drei Jahren. Für den laufenden Zyklus … hat der Rat sechs zentrale Ziele beschlossen: 1) verbesserte soziale Eingliederung aller jungen Menschen, 2) stärkere Teilhabe aller jungen Menschen am demokratischen und bürgerlichen Leben in Europa, 3) einfacherer Übergang junger Menschen vom Jugend- ins Erwachsenenalter, insbesondere was die Integration in den Arbeitsmarkt anbelangt, 4) Förderung der Gesundheit und des Wohlergehens junger Menschen, auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit, 5) Beiträge zum Umgang mit den Herausforderungen und Chancen des digitalen Zeitalters in Bezug auf Jugendpolitik, Jugendarbeit und junge Menschen, 6) Beiträge zum Umgang mit den Chancen und Herausforderungen angesichts der wachsenden Zahl junger Migranten und Flüchtlinge in der EU.
Avis fatalis
Der Avis fatalis (lat.: fatalis = verhängnisvoll, verderblich, tödlich) ist ein unscheinbarer, zurückhaltender, scheuer, autoaggresiver Vogel; das Netto-Gewicht seines Körpers wiegt leichter als die Last seines Lebens. Er trägt schwer an seinem Schicksal, das er, je nach dem Grad an Selbst-Einsicht, zu der er fähig ist, teils den Umständen teils sich selber anlastet. Er fühlt sich gelähmt, obwohl er ein guter Flieger ist -, wenn er nur wollte, wenn er ein Vertrauen zu sich selber hätte. Aber das Wollen ist sein existentielles Problem.Es gibt den Vogel nicht, der als Avis fatalis auf die Welt kommt; zum Avis fatalis wird ein Vogel, wenn er, noch bevor er flügge und gezwungenermassen statt in die Kleinkind-Stube zurück in das zugige Quartier des Erwachsenwerdens und –seins gestossen ist, wenn er sich auf „verlorenem Posten“ im Lebenskampf sieht. Das ist der Fall, wenn ein junger Vogel (folgend der älter und alt werdende Vogel) keine Erfolgserlebnisse hat oder wenn auf ihn Schicksalsschläge niederprasseln, gegen die er weder Schutz noch Wehr hat. Ein Gefühl der Ohnmacht beherrscht ihn. /1/
Inwieweit die fatale Haltung zum Leben, zur Welt, zum Kollegen, zum Nachbarn genetisch bedingt ist, wissen wir nicht; es kann gewiss einen Anteil an Vorbestimmtheit geben, wenngleich der Fatalismus (nicht selten gepaart mit der Misanthropie) als eine weitgehend selbstgemachte Lebens-Philosophie betrachtet werden muss. Der Avis fatalis ist schlicht nicht in der Lage, sich am eigenen Schopfe in der Hoppla-Hopp-Manier eines Baron Münchhausens aus dem Sumpf zu ziehen; zu schweigen davon, dass er auch noch ein Pferd mitzieht, weil er sowieso nicht in der Lage ist, überhaupt ein Wesen mitzuziehen im Sinne: zu motivieren, mitzureissen, voranzugehen.
Natürlich können existentielle Brüche einen vordem vitalen Vogel zum Avis fatalis werden lassen. Dem Neuen, Überraschenden, Anderen sich anzupassen, ist nicht jedervogels Art. Oder er will sich nicht anpassen und bringt einen gewissen juvenilen Trotz zur Verweigerung auf. Dieser Verweigerung kann ihm einwachsen, zur Gewohnheit werden, sodass er immer tiefer in den Sumpf seines Nicht-Handelns, seiner Verweigerung sinkt. Es ist nicht auszuschliessen, dass ein gesellschaftlicher Umbruch wie der des Jahres 1989/1990 einst aktive Vögel zum Avis fatalis werden liessen. Dass jeder seines Glückes Schmied sei, dass jeder einen Marschallstab im Tornister trage – daran glaubt nur, wer mit dem Klammerbeutel gepudert ist und wer bereit ist, die Probe aufs Exempel zu machen. Demnach müsste er schweisstreibend arbeiten oder im Wander-Rucksack kramen. Der Avis fatalis weiss eines sicher: Einen Erfolg zu haben – und ein solcher wäre bereits ein sicherer Arbeitsplatz -, braucht es weniger seine Leistung und seine Fähigkeiten als viel eher das Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort einen Berechtigten/Beförderer/Netzwerker zu treffen.
Sehr typische Äusserungen des Avis fatalis sind: „Es lohnt sich nicht zu protestieren“; „Die oben machen doch, was sie wollen!“; „Es war schon immer so, dass die Kleinen gehängt werden und die Grossen davonkommen!“; „Wer hört denn schon auf mich, niemand hört auf mich, also höre ich auch nicht auf die anderen!“ Etc. pp. Und alle Sätze prallen und flitzen wie Billardkugeln von der Bande seiner Seele hin und her, 24 Stunden lang, Minute um Minute: lohnt nicht, was sie wollen, wer hört, niemand hört; niemand hört, wer hört, was sie wollen, lohnt nicht. …
Es kann triftige Gründe für den Fatalismus bei Vögeln geben. Wenn eine anhaltende Erfolgslosigkeit sich mit einem Hang zu angeborener oder erworbener Handlungsunfähigkeit paart, wenn die Versuche, sich einzubringen ebenso scheitern wie das Angebot, gebraucht zu werden -, dann zieht sich der Vogel zurück. Er versteht die Welt nicht mehr, er differenziert nicht mehr, er verliert auch den letzten Rest von Selbstsicherheit. Wenn alles beliebig ist, und der Avis fatalis empfindet die Beliebigkeit der Dinge, Verhältnisse, Zuständigkeiten beinahe schmerzhaft-körperlich, dann fühlt auch er sich beliebig. Denn er gehört ja dazu; wozu er gehört, die Frage stellt er sich nicht; in der Logik der Beliebigkeit muss niemand diese Frage stellen. Wenn ein Jedes alles ist, dann ist das Alles Jedes.
Der Avis fatalis ist ein Magier der Tarnung; wäre er nicht Vogel, wäre er Chamäleon. Während unserer Forschungen stiessen wir auf eine verwaiste Brutstätte der Ost-Kreischeule /2/. Auch konnten wir Greifvogel-Männchen beobachten, die sich als Weibchen tarnen /3/. Wir erfuhren von Nachtschwalben und acht anderen bodenbrütenden Vogelarten aus Sambia, die lernen, wo sich ihr Federkleid besonders gut in die Umgebung einfügt /4/. Dabei hilft ihnen die seitliche Stellung ihrer Augen. Sie haben dadurch ein sehr breites Sehfeld und können sogar sehen, was hinter ihrem Kopf geschieht – ein Überlebensvorteil, unbedingt. Der Avis fatalis ist ein Überlebenskünstler ohne den Willen, vom Leben mehr zu erwarten als zu überleben.
Dieser Vogel sieht sich in seiner Haltlosigkeit, in der Abwendung von der Politik, in der Abneigung gegen Ämter, in dem eingebildeten oder tatsächlichen Abgelehntwerden durch die Anderen, Mächtigen, Schillernden, Lebensbejahenden gestärkt, wenn er apokalyptische Nachrichten hört. Er ist scharf auf die Meldungen, die apokalyptisch sind; dafür hat er ein Sensorium ausgebildet.
Der Avis fatalis findet reichlich Nahrung. Die Medien, von denen er sich abgewiesen fühlt, die niemals einen wie ihn zum Helden machen würden, füttern ihn gleichzeitig. Nicht nur mit den sogenannten bad news, sondern auch mit glaubhaften Schilderungen der Niederungen, Skandale, Ungeheuerlichkeiten, Durchstechereien, Bereicherung auf der einen, Verarmung auf der anderen Seite. Und: Besonders fatal ist, dass es sich in jedem Fall um einen Einzelfall handelt. Wenn aber alles zum Einzelfall erklärt wird, wenn es keine Zusammenhänge mehr gibt, dann bleiben nur zwei Folgerungen. Erstens: Optimiere dich selbst! Treibe dich zur Vollendung hin, dass du alles Hinderliche, Kleinliche, Schmutzige hinter dir lassen kannst! Du kannst ein Held werden!
Zweitens: Gib auf! Lass den Protest, lass den Widerstand; wie willst du eine Wand aus Pudding durchbrechen? Du hast die Zeit nicht, die Einzelfälle zusammenzubinden, du hast nicht mal die Zeit, die Bücher, die es darüber gibt, zu lesen! Du hast die Lust nicht (mehr), dich mit anderen zu verbünden und zu demonstrieren und zu kämpfen! Mauern aus Teig umstehen dich, Konfetti regnet es in deine Augen, deine Ohren sind verstopft vom süssen Brei!
Der Avis fatalis fühlt sich ohnmächtig. Panikattacken, Ängste, Depressionen – er kann seine eigene Machtlosigkeit nur schwer ertragen. Sein Lied wird schwach und schwächer. Wenn er jemals eine Lebens-Melodie hatte – je älter er wird, desto leiser ist sie zu hören.
Dabei will der Vogel – generell -, wenn er singt, nicht für sich allein singen. Er will Resonanz /5/. Er will auch nicht gezwungen werden (oder sich gezwungen fühlen), schneller fliegen zu müssen, als er fliegen muss. Er fliegt, um Nahrung und einen Partner zu finden. Er fliegt, um den Raum für ein Nest zu finden. Er fliegt um seinetwegen und Seinesgleichen wegen. Einem solchen Fliegen in Freiheit und Lebendigkeit steht der „Beschleunigungstotalitarismus“ /6/ entgegen. Eine Wand, gegen die er immerzu prallen würde, legte er es darauf an, ein Mitbeschleuniger oder ein Mitbeschleunigter zu sein. Dem entzieht sich der Avis fatalis bewusst oder unbewusst, indem er lieber die Flügel faltet, den Kopf einzieht und die Stürme der Zeit resp. der Kassen-Kämpfe über sich hinweg fegen lässt.
Man könnte ihn als aktiven Widerstandskämpfer gegen den „Beschleunigungstotalitarismus“ betrachten -, wenn er überhaupt irgendwie aktiv wäre. Es fällt ihm schwer, morgens aus dem Bett zu kommen; er sieht den Sinn nicht, einen Tag zu beginnen, der nur das bringt, was der gestrige Tag brachte: nichts. Er kommt nicht hinterher, seinen Haushalt in Sauberkeit und Ordnung zu halten; wozu schrubben, sortieren, putzen, für wen, wenn ringsum alles schrubbt und putzt bzw. in der Gegend, in der er lebt (in seinem Block, in seiner Siedlung, in seinem Ort) -, alles matt, staubig, unrasiert, haltlos ist.
Er schaut aus dem Fenster, das Wetter ist novembermürbe, schnellt zieht er sich zurück. Daheim ist es immerhin warm und trocken, im Fernsehen bieten sie „Rote Rosen“, Kochsendungen, Krimis von Ahrenshoop bis nach Villingen-Schwenningen und Quizsendungen an. Wenn dem Avis fatalis nach Bewegung ist, dann schaut er sich ein aktuelles Fussballspiel, Biathlon-Wettbewerbe oder knappgekleidete Weitspringerinnen an. Seiner Ansicht nach gibt es ausreichend viele Vögel, die sich auf strapaziöse Weise durchs Leben bewegen und darauf aus sind, Sieger zu werden. Er zählt sich nicht dazu, und falls er sich mal zu ihnen gezählt hat -, es ist vorbei und vergessen.
Die Nahrungsgebiete werden für den Avis fatalis knapper. Das Futter der Medien bleibt ihm, aber es wiederholt sich. Weil er sich selber nicht zeigt, zeigt sich ihm die Welt auch nicht. Er geht niemandem entgegen, niemand kommt ihm entgegen. Es geht ihm wie dem Spatzen (Passer domesticus), der sich zurückzieht. /7/
Der Avis fatalis ist unauffällig, vor allem, weil er sich ungern zeigt. Eine besondere Schnabelform hat er nicht: etwa als zöge er eine Schnute (im Menschlichen vergleichbar mit dem SPD-Politiker Ralf Stegner, der freilich u. E. nicht zu der Art des Avis fatalis zählt).
Der Avis fatalis leidet an einem Lebens-Burnout. Wenn ein Vogel keine Resonanz mehr erfährt, wenn Anerkennung versagt wird, wenn Erfolge nicht mehr wahrgenommen oder gefeiert werden -, wenn das Leben eine endlose Kette von tief empfundenen Fehlschlägen ist (oder als solche wahrgenommen wird) -, wenn nicht einmal das Hamsterrad ihn lockt, weil er aus ihm herausgeschleudert werden würde -, dann steigt er gar nicht erst ein, in das Rad nicht, nicht ins Geschäft. Er verharrt in Trance.
Der Avis fatalis hat eine Erfahrung gemacht, die ihn nicht zu dem macht, der er ist, die aber seine Einstellung zum Leben und zur Welt mitprägt. Er hört und liest Deutungen und Beurteilungen seiner Existenz und der Existenz seiner Vorfahr-Generationen, die ihn nach Meinung der Meinungsmacher (Journalisten, Historiker, Politiker) geprägt haben. Seine Erinnerungen werden ihm entfremdet. Er kommt mit seinen Erinnerungen nicht gegen die ihm zugesprochenen Erinnerungen an. Was in Filmen, Essays, Reportagen über ihn erzählt wird, wird zu seiner gewesenen Welt; er passt sich dem Bild, das ihm übergestülpt wird, an. Diese Anpassung macht den Avis fatalis resignativ oder, wenn er immerhin noch nachdenkt, zynisch.
Und so lebt der Avis fatalis /8/ dahin und unter uns. Lässt seine Flügel hängen und wartet ab. Er denkt sich was, oder er denkt sich nichts. Die Gedanken kreisen um ihn herum wie ein Mäusebussard über dem abgeerntetem Feld, das Mäusen vorkommen muss wie eine Rennbahn im gleissenden Licht der Schweinwerfer/Sonne. Oder wie es in einem Haiku heisst:
„Wo soll demnächst ich
Noch hingehn“, denkt so für sich
Die Bohnenranke.“
/1/ Den Prototypen eines Avis fatalis ist der „Mann vom Lande“, der in Franz Kafkas Kürzest-Erzählung „Vor dem Gesetz“ um „Eintritt in das Gesetz“ bittet. Der Türhüter weist ihn ab. Jetzt sei ein Eintritt nicht möglich. Wann dann? Nun, überhaupt sei ein Eintritt möglich, durchaus, „jetzt aber nicht“. Über Tage, Jahre und Jahrzehnte versucht der „Mann vom Lande“ in das Gesetz hineinzukommen. Es ist nicht so, dass der Türhüter ein Unmensch ist. Er hört zu, er fragt, er ist durchaus entgegenkommend und lehnt Geschenke nicht ab – nur, leider, leider, ist der Zugang eben nicht möglich. Ist so. Am Ende ist der Mann alt, schwach, und der Türhüter brüllt ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn.“ Was hat der arme Kerl falsch gemacht, was hat er versäumt, niemand hat es ihm gesagt?! Keine Macht der Welt ist grösser als die Ohnmacht eines Menschen, der nicht erfährt, warum ihn das Schicksal beutelt. Der Avis fatalis hat mit dem kafkaesken Helden eines nicht gemein: Der A. f. gibt vorher auf; bevor er immer und immer wieder den Eingang zu einem Gesetz oder zu einem aktiven Leben oder zu einem Gebrauchtsein erbittet, einfordert, zu kaufen versucht, folgt er dem Drang, ein Ziel zu erreichen, einfach nicht mehr.
/2/ Der U.S.-amerikanischen Kollegin und Kennerin nachtaktiver Vögel Prof. Dr. Dr. Kathelyn Bird-Writer verdanken wir bezüglich des Mimikry-Verhaltens von Vögeln den Hinweis auf die Ost-Kreischeule (Megascops asio oder: Otus asio). Sie versucht sich unsichtbar zu machen, indem ihre pinselförmigen Ohren wie abgebrochene Äste aussehen; tatsächlich befinden sich die Ohren seitlich am Kopf. Ihr Ruf hört sich wie ein Kreischen an; man hört sie häufiger, als man sie sieht.
/3/ Etwa verkleidet sich die männliche Rohrweihe mit einem weiblichen Federkleid. „Diese tierischen „Dragqueens“ tragen nicht nur lebenslang das typisch weibliche Federkleid, sie verhalten sich auch in Revierkämpfen eher weiblich. Das berichtet ein internationales Forscherteam im Fachmagazin ‚Biology Letters'. ‚Bei Vögeln ist ein solches dauerhaft weibliches Aussehen extrem selten', schreiben die Forscher. Normalerweise besitzen die knapp bussardgrossen Rohrweihen-Männchen graue Flügel und Schwanzfedern und schwarze Flügelspitzen. Den etwas grösseren Weibchen fehlen die grauen und schwarzen Federn, sie sind vorwiegend braun, mit einem weisslich-hellgelben Kopf. Damit zeige der Greifvogel die für viele Vogelarten typischen Geschlechtsunterschiede. Das Federkleid der als Weibchen getarnten Rohrweihen-Männchen ähnelt dem der Weibchen sehr stark: Sie sind ebenfalls vorwiegend braun gefärbt und tragen keine grauen Federn an Flügeln und Schwanz. Der helle Kopf ist wie bei den Weibchen deutlich vom restlichen Körper abgesetzt.“(Biology Letters, 2011; DOI: 10.1098/rsbl.2011.0914)
/4/ Polarfüchse und Schneehasen sind weiss, Grashüpfer sind grün, Vipern sind sandfarben, Quallen sind durchscheinend farblos – es ist leicht vor einem einfarbigem Hintergrund „abzutauchen“. Schwieriger ist es, wenn die Umgebung Schatten, wechselnde Konturen, chargierender Farben hat. Einige Angehörige der Nachschwalben (Caprimulgidae) – dämmerungs- und nachtaktive Insektenjäger allesamt – bringen es fertig, ungeschützt auf dem Boden zu brüten. Dafür stimmen sie ihr Äusseres, ihr Federkleid, mit der Umgebung ab. In einem Haufen Laub und Zweigen zwischen Bäumen kann man sie glatt übersehen. Offenbar wissen sie, wie sie aussehen und verhalten sich entsprechend. Ein gleiches Verhalten ist von der Ägäischen Mauereidechse bekannt, die bevorzugt auf Steinen ihrer Hautfärbung ruhen. Tintenfische passen sich nicht nur farblich an – die Weichtiere formen ihre Körper, kneten sich gewissermassen ihrer Umgebung an.
/5/ Auf einer Tagung zum Thema „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ in Jena (14./15.6. 2012) stellte der Soziologe Hartmut Rosa unter dem Titel „Resonanz statt Entfremdung“ zehn Thesen „wider die Steigerungslogik der Moderne“ vor. In der zehnten These, der „Resonanzthese“,heisst es: „….Das zentrale Problem besteht darin, ‚Resonanz' substanziell zu definieren. Über diese Definition verfüge ich derzeit noch nicht, doch lassen sich schon einige ihrer Elemente benennen:
- Anerkennungserfahrungen sind i. d. R. Resonanzerfahrungen, Missachtungserfahrungen lassen sich als Entfremdungserfahrungen reinterpretieren;
- Es gibt aber Resonanzerfahrungen, die über intersubjektive Beziehungen hinausgehen: Moderne Subjekte suchen nach und geraten in ‚Resonanz' bei der Arbeit, in der Natur, in der Kunst, in der Religion. Familien werden von 95 % der Jugendlichen als ‚sichere Resonanzhäfen' konzeptualisiert (erweisen sich aber durch die Dynamisierungsimperative als bedroht);
- Demokratie ist das Instrument der Moderne, sich die Sturkturen der geteilten sozialen Welt ‚anzueignen' oder ‚resonant' zu machen. Politik ‚antwortet' auf die Subjekte – theoretisch. Politikverdrossenheit lässt sich re-interpretieren als Ausdruck des ‚Verstummens' der Politik: Die Kommandobrücken antworten nicht mehr.
- Resonanzerfahrungen sind identitätskonstituierende Erfahrungen de Berührt oder Ergriffenseins. Als solche haben sie eine emotionale Qualität. …
- Die anthropologische Angewiesenheit auf Resonanzerfahrungen zeigt sich u. a. in der Institution des ‚sozialen Todes' bei sogenanntn ‚archaischen Kulturen', die Mitglieder durch Resonanzverweigerung töten. Vielleicht tut das die spätmoderne Kultur auch …
/7/ Wir verweisen auf den ungedruckten Band „Grüneres Grün als das Grün der Platane. Nachrichten aus der Schwirrwelt“, in dem Johannes Tütenholz Gedichte und Betrachtungen über Vögel versammelte. U. a. findet sich unter dem Titel „Spatz in Frankfurt am Main“:
Sei gegrüsst, mein kleiner fetter Freund
Aus Berlin, sag, kommst du aus Berlin?
Sah bis heute nicht dich und nicht deinesgleichen,
Tauben ja, genug, und Möwen hört ich schrein,
Aber Spatzen sah und hörte ich noch nicht am Main.
In einem Gespräch erzählte mir Tütenholz von seiner Verwunderung, dass dieser gesellige, lebensfrohe Vogel, der von früh bis spät ununterbrochen beschäftigt zu sein scheint, in Frankfurt am Main nicht zuhause ist. Jedenfalls sei ihm, der vier Jahre in der Stadt lebte, nie ein Vertreter dieses Sperlingvogels begegnet. Vielleicht schämt er sich, in Erscheinung zu treten. Er hat seit Alfred Brehms Verdikt, er sei „erbärmlich, unerträglich, schädlich“, nicht das beste Image. Aktuell steht der Haussperling auf der Roten Liste, der „Vorwarnliste“ für vom Aussterben bedrohte Tierarten. In China wurde er 1958 zur Plage erklärt; infolge seiner Verfolgung starben Hunderttausende von ihnen und – Ungeziefer vermehrte sich explosionsartig. Als „Allerweltvogel“ setzt er sich immer wieder durch und ist nicht totzukriegen. Und er hat seinen Ehrentag: Am 20. März wird jedes Jahr der Weltspatzentag begangen. Ins Leben gerufen hat den "world sparrow day" die indische Naturschutzorganisation "Nature Forever Society" 2010. Seither macht der Tag jedes Jahr auf den Rückgang der Spatzen aufmerksam. Viele Naturschutzorganisationen haben sich der Initiative angeschlossen.
/8/ In frühen Aufzeichnungen Tütenholzens fand ich eine seiner chaotischen Notizen, die vielleicht der erste Hinweis auf seine ornithologische Neugierde ist. Aus einer Zeit stammend, in der er noch nicht an das Verfassen eines „Ossariums“ dachte. Trotzdem sind Kratzspuren eines „ordnenden, zuordnenden, einordnenden Geistes“ zu sehen; ebenso wie Kratzspuren eines irrlichternden Verstandes:
Avis aptus
Als ich meinen Freunden von der Begegnung mit einem Avis aptus (lat. geeignet, passend), schoben sie meine Beobachtung auf die Nachwirkung des letzten Glases Grauburgunder aus der Pfalz. Nun, dafür sind Freunde, Bekannte, Kollegen da: dass sie bremsen, spotten, sticheln, ein bisschen mobben. „Vielleicht“, kam ich den Freunden entgegen, „passt besser noch Avis apathus?!“„Ach was!“ Ihr Gelächter, besonders das unverfroren-röhrende meines Freundes Karlsbad, werde ich nicht vergessen. „Du kannst den Aptus nicht Apathus nennen! Wenn der Aptus auch zur Apathie neigt – Apathie ist ein griechisches Wort und bedeutet so viel wie Teilnahmslosigkeit! Der Aptus ist nicht teilnahmslos! Sein Problem ist eher das einer gesteigerten Anteilnahme, einer krankhaften Parteinahme, eines orientierungslosen Allesaufsichbeziehens – der Vogel ist eine einzige Wunde, in der alles und jedes herumstochert! Und wählt er nicht oft den Freitod als Ausweg?“
Das war starker Tobal. Es gibt keine statistischen Angaben über den Anteil der Aves aptus (vielleicht sollte ich ihn Avis fatalis nennen) an der Gesamtzahl der Selbstmörder. Karlsbad, ein wirklich guter Freund, übertrieb gern und warf mit Behauptungen um sich wie ein Spatz mit dem Sand, in dem er gern badet; Karlsbad war ein rechter Dreckspatz!
Allerdings ging mir seine Einwendung nicht aus dem Kopf. Für den Passling – so deutschte ich den Avis aptus (Avis fatalis – gefällt mir immer besser; passender?) ein – ist „das Leben gelaufen“. Er könnte es sich demnach auch nehmen, ohne einen Verlust zu spüren. Der Suizid könnte ein letzter Energieausbruch sein. Als wollte er sagen: Ihr habt euch alle in mir getäuscht! Wenn ich wollte, hätte ich in meinem Leben Bäume ausgerissen! (Was für einen Vogel ein Kraftakt der ungewöhnlichsten Art wäre.) Ja, als wollte er mit Friedrich Schiller singen: „Ich will's mit meiner schwachen Kraft versuchen.“ …
Avis influens
Der Avis influens (lat. influere = eindringen, zuströmen; auch: sich einschleichen, sich einschmeicheln) tritt als unterscheidbarer Vogel erst seit kurzem auf; wir beobachten ihn etwa seit dem fünften Jahr nach dem Jahrtausendwechsel und stellten seine baldige Vermehrung und seine schnelle Verbreitung fest /1/. Etwa um 2010 sprach noch niemand vom Avis influens, obwohl er um diese Zeit bereits erschienen war; er wurde in seiner modifizierten Art als glamouröser, professionell-narzisstischer Rote-Teppich-Star wahrgenommen. Den Ars influens, den wir untersuchen, trat noch nicht en masse und nicht massenhaft wirksam auf, war aber schon präsent in eigenen Blogs, auf Webseiten, in denen er aus dem Privatleben zwitscherte, das Nähkästchen klappern liess, von Kummer und Freude in Liebesdingen krähte, sich plusterte und mit Duftstoffen balsamierte, im Marken- oder Selbstmade-Fummel /2/.Als Influencer fliegt er seitdem um die Welt: Er nutzt die elektronischen Übermittlungs-Wege, er kann in (fast) Jetztzeit fast überall auf dem Planeten Erde – ohnehin nur eine Bühne mit wechselnden Kulissen und Kostümen, mit Knallchargen und mit nuschelnden Souffleuren? - auftreten. Überall dort, wo sich so genannte soziale Netzwerke spannen, also auch in Ostdeutschland, ist er zu finden, taucht er auf, zeigt er sich im Feder-Schmuck, posiert vor berühmten Bauwerken, schnattert von Wohldüften und -geschmack. Facebook, Google, Twitter, Instagram, Pinterest, Flickr, Snapchat, Youtube, Vimeo, Tumblr, WahtsApp, XING sind die Übertragungs-Maschinen, auf denen er abhebt, die ihm die Luft zum Leben geben, aus denen er Nahrung saugt, in denen er seinen Follower genannten Nach-Züglern sich selber als Appetit-Happen bietet.
Der von uns gewählte, aus dem Lateinischen stammende Arten-Name darf als altmodisch (aber gültig?) gelten: Der Influencer leitet sich im modernen Gebrauch vom Englischen to influence = beeinflussen ab. Dennoch betrachten wir die Wirkungs-Weisen des Avis influens gern in der von uns vorgeschlagenen Bedeutung, weil er wesentlich in die Lebens-Bereiche anderer Vögel eindringt, sich einschleicht, auch einschmeichelt und keinen Hehl aus seinen manipulativen Absichten macht. Wie ein Bach in einen Fluss, wie ein Fluss in ein Meer so strömen die Äusserungen und die Habitate des Avis influens durch die elektronischen Venen der Kontinente und verbinden ihn mit seinen Adressaten. „Als Influencer werden Vögel bezeichnet, die aufgrund ihrer starken Präsenz und ihres hohen Ansehens in einem oder mehreren sozialen Netzwerken für Werbung und Vermarktung in Frage kommen.“ (nach: WIKIPEDIA)
Wir unterscheiden zwischen drei Unterarten des Avis influens:
Es gibt die Aves key influens (engl. Key = Schlüssel). Bei ihm handelt es sich um Vögel, die als Experten, Ereignis-Interpreten und gern als Moralisten auftreten. Sie sind sich ihrer Wirksamkeit (selbst)sicher; indess verliert sich ihre Wirkung im Ungewissen. Was sie in den Köpfen ihrer Verbraucher anrichten, ist schwer messbar; etwa lassen Wahlergebnisse in parlamentarischen Demokratien niemals eineindeutig Rückschlüsse auf bestimmte Blogs, Fanzines, Online-Magazine oder Social-Media-Profils zu. Als sicher gilt uns, dass mit ihrer Schwarmdichte auch ihre Bewusstseins-Macht zunimmt. Wie aus dem ersten erfundenen Otto-Verbrennungsmotor die Automobil-Flut der Neuzeit wurde, so vermehren sich die ersten Piepmätze in den sozialen Medien zu Schwärmen lauthals lärmender Vögel; wir möchten sie mit dem Grauen Kranich (Grus grus) vergleichen, der mit Trompetenrufen auf sich aufmerksam macht und sich – obgleich ein scheues Tier – selbst in den Brutgebieten durch seine Stimme verrät. So wie eines Tages, es ist abzusehen, der Otto-Motor nur noch im Museum für Technik zu sehen sein wird, so werden eines Tages auch die Aves key influens in ihrer heutigen Erscheinungsform verschwinden und als Pappkameraden im Museum für Kommunikation stehen. Das vermuten wir in Erwägung und Betrachtung der Tatsache, dass Arten unaufhörlich entstehen und aussterben.
Über den Avis social influens (engl. social = gesellschaftlich) schrieben wir eingangs bereits. Er ist, fortschreitend und unaufhaltbar, ein (vorläufiges) Erfolgs-Ergebnis der Evolution. Er selbst ist ein Konsument, der andere zu Konsumenten machen will; als Ratgeber, Tester, Vorkoster, Model oder Hobby-Sportler u. ä. tritt er in der Regel mit höflichen Manieren und in angenehmem Äusseren auf. Um den Konsum-Influencer herum (es gibt noch die Species des Spontan-Influencers: Berühmte Sports-, Sanges-, Schauspiel-, Politik-Vögel posten sich und ihr Treiben situativ aus der Welt des Promi-Geflügels) hat sich das so genannte Influencer-Marketing entwickelt. Aus den Influencern heraus, zu den Influencern hin, über den Influencer hinaus, zu den Konsumenten aller Länder hin – Menschen machen ihren Alltag öffentlich und werden dafür von Firmen bezahlt. Sie vertreten eine Marke und werden selbst zur Marke. “A brand is no longer what we tell the consumer it is – it is what consumers tell each other it is.“ (Scott Cook, Mitbegründer von Intuit, 2015)
Die Aves social influens, sofern sie als Species der Fremd- und Eigenwerbung auftreten, werden auch Testimonials genannt. Als Zeugen eines Produktes sind sie in nahezu perfekter Gestalt Werbeträger. Halb Vogel wie du und ich, halb „Kunst“produkt: Avatare des Kapitalismus, wie er sich kernwesentlich in der Werbung enthüllt. Um ein Produkt zur Ware werden zu lassen, braucht es die Aufmerksamkeit eines Käufers (zum Thema „Aufmerksamkeit“ weiter unten). Um die Aufmerksamkeit des Käufers zu erringen, muss sich der Verkäufer möglichst wohl fühlen mit dem Produkt seiner Wahl. Es genügt nicht, sich nackt auf einer Spülmaschine zu räkeln; schnell ist eine Darbietung des Influencers albern, wenn es ihm nicht gelingt, glaubhaft und authentisch „rüberzukommen“. Der Avis influens fliegt voran und hofft auf den Schwarm, der ihm folgt. Damit ist er interessant für Firmen, damit landet er in der Werbung. Werbekapitalistisch betrachtet ist dieser Vorturner die neueste Blüte der Werbung und lässt Farbdruck, Fotografie, Radio und Fernsehen als Werbeträger hinter sich. Der frühe Vogel fängt den Wurm, der possierlich-geschickte Avis influens fängt das Honorar.
Die dritte Unterart des Avis influens ist der Avis peer influens (engl. peer = Kollege); wir erwähnen sie der Vollständigkeit halber. Über sein Verhalten (inklusive Auftreten), sein Aussehen, seine Absichten und Vorgehensweisen ist uns zu wenig bekannt; so wenig, dass wir es vorziehen, diesen Vogel in unserer Studie „aussen vor“ zu lassen. Wir wissen, dass zu seiner Familie Mitarbeiter und Geschäftspartner eines Unternehmens gehören. Personen, die in gewissen Verbindungen mit einem Unternehmen stehen und durch ihre Persönlichkeit und Erfahrungen Einfluss auf die Kaufentscheidungen anderer Vögel haben. Es könnte sich demnach in den Jahren 1990 ff bei den Versicherungsvertretern, Grundstücksmaklern, Bankenleuten, Autoverkäufern, die durch die Fluren, Dörfer und Städte der verendenden D. D. R. streiften und nach Kunden, Standorten und Kauf-Tölpeln (nicht zu verwechseln mit der Art der Tölpel, Sulidae, deren unbeholfen wirkender Gang auf dem Festland über ihre ausgezeichneten Segelflieger-Fähigkeiten hinwegtäuscht) ausspähten - um Aves peer influens gehandelt haben; wenngleich der Begriff Kollege (für peer) zu Zeiten der sozialistischen Planwirtschaft eher positiv konnotiert war und uns nicht passend erscheint für Vertreter der Eigensucht.
Wenn wir eingangs (und auch im Folgenden) schrieben, dass der Avis influens eine Mischung aus Paradiesvogel /3/, Narzisst, Kalkulator, Model u. ä. erst seit einigen Jahren ein Hauch von Glamour, Geheimnis und Geld umgibt, sind seine Vorfahren seit Anbeginn der technisch reproduzierbaren Kunst bekannt: Aus Fotografien und aus dem Kino traten jene Wesen in die Welt, denen die Träume und Wünsche der Konsumenten nachflogen, die all das verkörperten und anboten, was dem Gemeinen Vogel (Avis vulgaris) niemals im Leben zuteilwerden würde. Eine geheimnisvolle Existenz fernab der mehrheitlichen Lebenswirklichkeit, märchenhafte Gestalten unter sagenhaften Gestalten zwischen legendären Gütern – unnahbar und in knappen eigenen Ressourcen nachahmbar. Diese Beeinflussung hat sich im Avis influens, den wir beschreiben, umgekehrt. Aus der glamourösen Unnahbarkeit ist eine atemspürende Nähe geworden. Das Unerreichbare ist dem Versprechen auf ein To-do-it-jederzeit-und-jederlei geworden.
Der heutige Avis influens sagt mit jedem Lidstrich, mit jeder skurrilen Tanzfigur, mit jedem Foto mit einem Berber-Affen auf der Schulter: All das kannst du auch haben, all das kannst du auch sein, all das kannst du auch machen. Sie mich an! Ich bin wie du! Der Unterscheid zwischen mir und dir ist: Ich habe eine Idee, ich bemühe mich jeden Tag um eine Idee, ich präsentiere diese Idee, indem ich mich präsentiere! Diese Karriere um das eigene Ich! Ist ein Fulltime-Job! Ist ein Traumjob für den Jungvogel.
Es handelt sich hierbei um eine ähnliche Haltung und Einstellung zu Leistung und Leben wie bei den Vögeln, die über Casting-Shows zu Ruhm und Reichtum gelangen wollen. Die Illusion, dass es keiner Anstrengungen (etwa in der Schule) bedarf, wird gestützt von Vertretern der Prominenz-Vögel. Es gehört zu deren Lautgebungen, ihre eigenen äusserst mangelhaften Leistungen in der Schule - besonders in lernintensiveren Fächern der Naturwissenschaften oder der Geschichte – triumphal-lächelnd und cremig- seufzend hinaus zu posaunen. Sie kakeln gern das Lied mit dem ungefähren Text: Seht, was aus mir geworden ist! Als Schüler faul und miese Noten! Doch jetzt mach ich das grosse Geld und bin der Grösste unter den Idioten! (Über die psychologischen Zusammenhänge zwischen schlechten Vorbildern und schlechten Leistungen bei Jungvögeln bedarf es u. E. gründlicher Untersuchungen; möglicherweise ist es ratsam, Verantwortliche zu einer gewissen Selbstzensur zu raten. Wenn es denn ihrem narzisstischen Wesen entspricht, sich selber wegen ihrer Höhenflüge trotz mangelhafter Bildung zu spreizen, dann sollte ihnen wenigstens, nahegebracht werden, über ihre Wirkung auf heranwachsende Vögel ein wenig nachzudenken. Es muss kein tiefgehendes Nachdenken sein.)
Einig sind sich die meisten Ornithologen, dass es dem Avis influens auch um Aufmerksamkeit und deren jüngeren Geschwistern Respekt und Resonanz geht. Wenn Aufmerksamkeit „eine der wichtigsten Währungen im Zeitalter des Internets“ (Zitat: Timothy Garton Ash nach dem amerikanischen Rechtswissenschaftler Tim Wu), dann ist das Streben nach ihnen auch ein Streben nach einer Rück-Zahlung: Der Avis social influens braucht ein Echo, er ist ein Vogel, der lieblich singt und geliebt, mindestens respektiert werden möchte.
Jeder Vogel will Resonanz. Wenn er sich zeigt, wenn er sich anbietet, wenn er freiwillige Beute im Netz ist - antwortet die Vogel-Welt oder bleibt sie stumm? Verhallt das Lied des Singenden oder kommt aus den Tiefen des Netzes eine Antwort für ihn? Er zerschmettert seine Lunge im Lied von Freude, Liebe, Sehnsucht, Schönheit und hofft auf lindernde Resonanz. So oberflächlich er aufzutreten scheint – es ist seine Würde, die er preisgibt. Der Avis social influens zeigt uns jenen dritten Teil der menschlichen Seele, den Platon Thymos nannte und der in der Interpretation des Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel u. a. das Streben der Seele nach Anerkennung der Leistung durch andere Seelen umfasst.
Der A. s. i. ist, auch wenn er es nicht weiss, ein Revolutionär. Er will „gleichen Respekt und gleiche Sorge“ (Ronald Dworkin). Er fliegt voran, er testet, er singt vor, er ist mutig. Denn wofür plagt er sich in seinem Selbstexperiment mit ungewissem Erfolg -, wenn nicht um Aufmerksamkeit, um Resonanz, um einen Rück-Ruf: Ich habe dich gesehen, ich habe dich gehört, ich finde dich toll, ich will sein wie du, ich will das gleiche Hemd tragen, das gleiche Parfüm benutzen, ich hebe die „Ungleichheit des Respekts, die Ungleichheit der Aufmerksamkeit auf“ (Tim Wu), indem ich Respekt und Aufmerksamkeit für jeden verlange. Dass möglicherweise Geld rumkommt beim Gesang des A. s. i. ist praktisch, ist angenehm, entspringt und entspricht dem markigen Kern des Kapitalismus; wo und womit immer Geld gemacht werden kann, findet sich ein Vogel mitsamt Nest als Lieferant.
Wenn alle Vögel gleich wären, dann gäbe es den Avis influens nicht. Er entstand, wie jede Art der Evolution, aus der Anpassung an besondere Umstände, in besonderen Milieus, unter besonderen Bedingungen. Eine Ungleichheit an Aufmerksamkeit und Respekt bringt jemanden hervor, der Aufmerksamkeit und Respekt einfordert; aus jeder Ungleichheit entspringt das Revolutionäre; wir können den Avis influens tatsächlich als einen Banner- und Brand-Träger des Aufmerksammachens und des Respekteinforderns einstufen.
In jüngster Zeit beobachteten wir Vögel beobachtet, deren genaue Zuordnung noch aussteht. Sie stolzieren auf den Kanten von Hochhäusern, sie posieren vor den schiefen Türmen und auf den Steilküsten der Meere, sie postieren sich auf Märkten und Feiern und – sie fertigen so genannte Selfies an, die sie sofort in die Welt klicken. (Im Selfie-Machen lebt die ursprüngliche Idee der Instagram-Plattform: instant, sofort, Schnappschüsse hochzuladen und mitzuteilen.) Es ist dies kein ganz ungefährliches Gebaren. Es häufen sich die Nachrichten von Selfisten, die von Klippen, über Dachränder, von Brücken in den Tod stürzen. Obwohl sie die Fotoapparate an ausfahrbaren Stangen, so genannte Selfiesticks oder Teleskopstäben befestigen, ist der Abstand zur Gefahr offensichtlich kürzer (und nicht einsehbar) als der Abstand zur Linse. Ob es sich hierbei um Kommunikations-Weisen des Avis social influens handelt, muss zukünftige Forschung erweisen.
Wir nehmen an, dass die Zahl der Aves influens in den kommenden Jahren anwachsen wird. Zu mächtig ist die Verlockung, mit dieser Art der Selbst- und Überhauptvermarktung Aufmerksamkeit und Geld zu erlangen. Das Federkleid färben und zu spreizen, auf zierlichen Füssen durch die Stube trippeln, auf Seine-Brücken und in Flugzeug-Sesseln rekeln, Parfüms unter Achseln und zwischen die Beine sprühen - dem narzisstischen Vogel gehört die Zukunft der digitalen Welt. Und wenn eines Tages die Erde vom Weltall verschluckt wird, dann bleibt ein farbenprächtiges Selbst-Foto übrig: angefertigt von Gott, in dessen Vollbart der brennende Erdball versinkt und der nur müde dazu lächelt.
Bis dahin sind der Phantasien des Avis influens weder die Grenzen der Scham noch die Grenzen des Geschmacks gesetzt. Keine Mauer könnte hoch und intransparent genug sein, um die Öffentlichkeit von den Bildern des A. in. zu trennen. Zur Selbstvermarktung der infantilen und juvenilen Vögel tragen zunehmend auch deren Eltern bei. Die Fülle von Darstellungen immer jüngerer Vögel nimmt zu; mit Erlaubnis der Mütter- und/oder Väter-Vögel, die mit dem längeren Löffel am Tisch mit der Markt-Torte sitzen, wird der Avis social infans influens auf die Flugbahn zum Star geschickt.
Und es wird den Vogel geben, der seinen Lidstrich für bedeutender hält als die kommenden Tsunamis oder den aktuellen Genozid weit hinten in der Welt. Es wird diesen Vogel geben, weil es jene gibt, die ihm folgen, die ihm nachfliegen und nach jedem Brosamen picken, den der Avis influens fallen lässt. Es wird den Avis influens vermehrt auch in den ostelbischen Regionen und zwischen Zittau und Ahrenshoop geben; er wird sich aus den grösseren Städten Deutschlands auch in die ländlichen Gebiete verbreiten. Überhaupt, scheint uns, sind noch viele Sujets zu selten oder gar nicht vertreten. Etwa das Melken von Kühen, das Ausmisten eines Stalls, das Aufblühen einer Sonnenblume, eine nachtleere Chaussee, gesäumt von sturmgebeutelten Apfelbäumen am Strassenrand, die selbst ausgeführte Blinddarmoperation, die Krume Lehm zwischen den Zehen, mit der aus einem Weidenzweig selbstgebauten Rute im murmelnden Bach angeln, das Bett im Heu, der Regenguss, spielend mit langen Kleidern und nackten Knien – sind wir nicht dabei, uns die Welt zu basteln, wie sie uns gefällt und auf ein Farbfoto oder in einen kurzen Video-Film passt?
Zum Schluss kommend noch dies:
Wir stiessen bei unseren Forschungen über des Avis influens auf den Begriff der Conversion Narratives. Damit wird in den USA ein Teil der Kultur bezeichnet, die im 17. Jahrhundert entstand: Ein Gläubiger schildert vor der versammelten Gemeinde in der Kirche seinen persönlichen Leidensweg, seine Schuld und seinen Weg zu Licht und Erlösung. Er kehrt sein Innerstes nach aussen, der Eule gleich, die ihr Unverdautes als Gewölle von sich gibt (nur dass es sich beim Puritaner im Raum der Kirche um „geistiges Gewölle“ handelt). Er tut dies, um zu bereuen und belohnt zu werden; er wird im Gegenzug als vollwertiges Mitglied des Klein-Schwarms (Gemeinde) anerkannt und aufgenommen; ihm wird vergeben.
Beispielhaft fand diese Zeremonie in der Neuzeit mit einem amerikanischen Präsidentenvogel namens Bill Clinton statt, der in der öffentlichen Verhandlung seines Piepmatzes zerknittert vor dem Allgemein-Schwarm (Nation) einen seiner Seitensprünge gestand und erklärte, er würde sein Vergehen mit seiner Familie und mit Gott klären und alles daran setzen, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Der Universal-Schwarm (die Welt) sah staunend und spöttisch zu, die Nation verzieh, der mächtigste Weisskopfadler der Welt entflog dem Käfig der Beschuldigung und Beklagung und blieb im höchsten Horst des Landes, im Amt.
Dieser Ausflug ins Religiös-Zeitgeschichtliche mag wie ein Umweg erscheinen, wollten wir doch hier den Avis influens betrachten. Allerdings sind wir der Auffassung, dass es sich beim Influenzieren auch um ein Ritual des Innersten-nach-Aussen-Kehren handelt. (Insonah wir diesen Vorgang als Zurschaustellung der Privatheit, als Darstellung einer gewissen Geheimnislosigkeit und damit Uninteressantheit sehen können; vom Innersten, diesem Chaos, diesem Tsunami an Schuld, Leidenschaften, existentiellen Gefühlen, wollen wir im Zusammenhang mit dem Avis influens nicht sprechen; diese komplexe Emotions-Lage existiert in ihm nicht.) Eher kehrt sich das Äussere zum Äussersten, nämlich in die Vieläugigkeit der Öffentlichkeit.
Der Avis Influens macht seine Privatheit öffentlich (jedenfalls behauptet er es, und je authentischer er ist, desto glaubhafter ist er). Er verzichtet auf die „Kultur der Privatheit“, die ja auch eine „Kultur des Geheimnisses“ ist. Die Psychologen sagen, dass Geheimnisse wahren soll, wer erwachsen werden will. Der junge Vogel, der alles zeigt, was er hat, verliert die Kraft zur Individualität; er gibt den Käfig auf, der immerhin einen Nutzen hat: In ihm ist er geschützt, in ihm könnte er seine Persönlichkeit reifen lassen. Sein Federkleid könnte sich ausbilden, Schnabel und Krallen sich schärfen, er könnte zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangen, ohne süchtig zu gefallen.
Was macht der Avis influens wesentlich? Er biedert sich an. Er orientiert sich an der „äusserlichen Einheit der Vielen“. Die Ausrichtung nach dem Grossen Schwarm führt nicht zu einer Geborgenheit, sondern zu einem Ausschluss: Er vereinzelt sich, die Besonderheit, die er beansprucht und propagiert, ist hohles Geschwätz, die aktuelle Aufmerksamkeit, die er von Vögeln seinesgleichen erfährt, ist vorübergehend, rasch vorbei und entlässt ihn in die Leere des Welt-Raums. Er landet, wie es Alexis de Tocqueville in dem Buch „De la démocracie en Amérique“ schrieb, „in der Einsamkeit seines eigenen Herzens“. Nirgendwo ist es kälter und leerer als dort, nicht mal im Welt-All. Den Avis influens treibt das Bedürfnis, im Zentrum anderer Vögel zu stehen; er will jemandem wichtig sein, auch wenn er ihn nicht kennt. Er ist über den gesamten Planeten Erde verbreitet und also nicht spezifisch ostdeutsch oder - noch nicht in ostdeutscher Alltags und –Konsumkultur eingewachsen? /4/. Aber es wird. Allerdings haben wir Kenntnis, dass an zwei privaten Hochschulen an Dissertationen diesbezüglich gearbeitet wird. An der Hochschule Minimedia forscht eine Gruppe einstiger Castings-Entenvögel am Thema „Der Regenwurm und seine digitale Material-Vermarktung in der Elbregion zwischen Boizenburg und Manmuss“; an der Hochschule Sciencefake arbeitet ein hochgescheiter Trompeterschwan über „Die Aqua-Influenzer von Mönkebude unter Berücksichtigung der Gezeitenwirkung auf das Oderhaff“.
/1/ Wir erinnern uns: Der vorliegende Text wurde 2015 verfasst. Heute, drei, vier Jahre später wissen wir Weiteres. Etwa sind Influencer zu Prominenten geworden; etwa ist das Zwillingspärchen Lisa und Lena „durch die Decke geschossen“. D. h. sie sind auch in so altmodischen Medien wie „Television“ gern als Gäste bei Quiz- und Unterhaltungsshows zu betrachten. Auch bei Preisverleihungen, auf denen bizarre Nachbildungen von Rehen oder Hennen vergeben werden. 2015 bewerten etwa 15,9 Millionen Online-Nutzer in sozialen Netzwerken Produkte; 30 Prozent davon zählen zu den Influncern, die einen messbaren Einfluss auf andere Nutzer ausüben. (Angaben nach einer Studie der Werbeagentur webguerillas in Zusammenarbeit mit der Hochschule Macromedia).
/2/ „Den Vogel erkennt man an seinen Federn“ (Alfred Brehm) - Als ein Beispiel verweisen wir auf die erfolgreicher Influenzerin Masha Sedgwick (Mode, Beauty, Reisen), die in einem Artikel in der F. A. Z. vom 8./9. Dezember 2018 über ihren Werdegang von der Freelancerin, die sich um alles selber kümmern musste, zur Influenzerin mit 200.000 Followern und damit zu einer Unternehmerin ihrer selbst entwickelte. Ihre Arbeit werde unterschätzt, „das Vorurteil ist natürlich, dass man den ganzen Tag Kaffee trinkt und sich den schönen Dingen widmet. Dabei besteht mein Job aus völlig unaufgeregten Prozessen.“ Und: „Natürlich gibt mir der Beruf viele traumhafte Möglichkeiten, Insgesamt hat mein Leben aber wenig mit gemütlichem Kaffeetrinken zu tun, wie das Leben jedes anderen Selbständigen.“
/3/ Paradiesvögel (Paradiseidae): etwa 100 Arten umfassende Familie farbenprächtiger Vögel; sind den Rabenvögeln verwandt; ihre Nahrung ist in der Regel gemischt: sowohl Früchte und Sämereien wie auch Insekten, kleinere Wirbeltiere und Vogeleier; seit alters her ihrer Schönheit und des wundervollen Glanzes der Federn wegen verfolgt; durch die Eroberung von Neuguinea und der umliegenden Inseln (Heimat der P.) durch europäische Mächte wurde der Abschuss von P. von Jahr zu Jahr gesteigert; allein aus dem deutschen Schutzgebiet Kaiser-Wilhelm-Land wurden 1910 nicht weniger als 5.706 Bälge im Wert von 171.000 Mark ausgeführt, im folgenden Jahr waren es 7.376 Stück, obwohl seit 1892 eine Schonzeit bestand; „Schuld“ daran war die Mode, die die Hüte der europäischen Damen mit „fremden Federn“ schmückte (aus: Das Tierreich. Nach Brehm. URANIA-Verlag, Verlag für populärwissenschaftliche Literatur Leipzig, 1963)
/4/ „Anlässlich des Tags der deutschen Einheit am 3. Oktober 2018 hat sich das Verbraucherportal Wintotal.de angeschaut, aus welchen Bundesländern die Influencer auf Instagram eigentlich kommen. Der Blick auf die 50 erfolgreichsten Instagrammer zeigt: Kein einziger deutscher Top-Influencer ist in einem der Bundesländer im Osten der Republik geboren, die 1989 der damaligen BRD beitraten. Zu den Unterschieden hinsichtlich Altersstruktur der Einwohner, Lohn und Wirtschaftskraft kommt also nun noch eine digitale Diskrepanz dazu. Der Beruf des Social-Media-Stars ist ein Beruf junger "Wessis", exklusive der kleinsten Länder Bremen und Saarland. "Wir hatten durchaus damit gerechnet, dass weniger Top-Instagrammer aus dem Osten kommen, – schliesslich hat Ostdeutschland auch deutlich weniger Einwohner als die alten Bundesländer. Dass aber unter den Top 50 der Instagrammer kein einziger Influencer in Ostdeutschland geboren wurde, hat uns dann doch Ein Grund könnte die schlechtere Internetversorgung im Osten sein. Und auch einen positiven Apsekt gewinnt Rossa dem Ergebnis der Auswertung ab: "Wer dem Influencer-Phänomen gegenüber eher kritisch eingestellt ist, kann das Ergebnis auch schmeichelhafter interpretieren: Vielleicht sind die Ostdeutschen einfach weniger oberflächlich und selbstverliebt." -Ostdeutsche seien – möglicherweise – in der Influencerwelt „genauso unterrepräsentiert wie in den Cheftagen in ihren eigenen Bundesländern“; „in der eigenen Liste hat wintotal.de jedenfalls wirklich nur Wessis aufgelistet“. (Quelle: google, W&V Redaktion, 2.10.2018)
Dazu kurze Zitate aus Gesprächen mit drei ostdeutschen Influencern:
Kimi Peri, 23, Fashion Blogger, Model, Magdeburg:
Glaubst du, dass Influencer aus Ostdeutschland es schwerer haben?
Vielleicht liegt es daran, dass es hier viel mehr alternative Influencer gibt, in Westdeutschland sind mehr diese "typisch deutschen" blonden Mädchen. Ich bin zum Beispiel viel zu alternativ für viele deutsche Marken. Vielleicht würde das mit einem Management besser gehen, aber da habe ich gerade noch keine Lust drauf. Ich habe Follower auf der ganzen Welt, vor allem in den USA. Ich schreibe ja auch auf Englisch, deshalb wissen viele meiner Follower gar nicht, dass ich Deutsche bin.
Du bist in Magdeburg geboren, in Rostock aufgewachsen und lebst jetzt in Leipzig. Was bedeutet es für dich, Ostdeutsche zu sein?
Ich bin da eigentlich stolz drauf. Ich mache da jetzt nicht so einen grossen Unterschied, aber ich fühle mich hier einfach wohler. Leipzig ist eine sehr weltoffene Stadt, es ist kreativ, es gibt viel Kultur hier, und die Menschen sind irgendwie sozialer. Ich war noch gar nicht so oft in Westdeutschland, aber wenn ich da war, fand ich das oft sehr schicki-micki. Ich hatte das Gefühl, da geht es immer viel um Geld.
Die Ost Boys, Macher von "Deutschlands asozialster Webserie", Berlin-Marzahn:
Habt ihr von dieser Studie über ostdeutsche Influencer gehört?
Slavik: Was ist das für eine Studie, wo gab's die? Haben wir nichts von gehört. Wir können auch unsere eigene Studie vorm Polenmarkt erstellen! Da wären wir dann die Nummer 1 der Influencer.
Fühlt ihr euch als Russlanddeutsche näher an Ost- oder Westdeutschland?
Slavik: Ich mag am liebsten Berlin-Marzahn, also Ostdeutschland. Für mich ist der Osten Beste.
Wadik: Ich auch. Aber ich finde geil, wenn du in Marzahn wohnst, aber ab und zu zum Ku'damm fährst. Ist immer ein geiler Kontrast, der schon hier in Berlin deutlich wird. Der Plattenbau im Osten gegen die reiche Shoppingmeile im Westen.
Slavik: Ja, es ist geil, wenn man im Osten wohnt, aber so viel Geld hat, um kurz in den Westen rüberzufahren, Richtung Ku'damm, um im Starbucks zu chillen.
Wadik: Schreib nicht Starbucks, sonst denken die Leute, wir sind Hipster!
Slavik: Na ja, Starbucks ist Luxus. Das gibt's im Osten in Marzahn nicht.
Sind die Leute im Osten härter?
Slavik: Wenn man das jetzt auf Berlin bezieht, kann man das schon sagen. Die Leute im Osten haben keine Kohle, müssen anderes Business machen und deshalb sind die auch schlechter gelaunt.
Wadik: Im Westen wollen alle nett sein und so tun, als hätten sich alle lieb, so wie im Prenzlauer Berg. Im Osten sind alle viel direkter und leben ihre Aggressionen mehr aus.
Habt ihr noch einen … Gedanken über Ost-Influencer und West-Influencer?
Wadik: Ich bin seit sieben Jahren in Deutschland und ich habe nicht dieses innere Koordinationssystem, von wegen Ost- und Westdeutschland. Das interessiert mich nicht so richtig.
Slavik: Meine Botschaft: Bleibt alle stabil.
Max Muench, Landschaftsfotograf, Chemnitz: Max, warum gibt es so wenige ostdeutsche Influencer?
Ist das so? Obwohl, wenn ich überlege – in meinem Team, den "German Roamers", bin ich auch der einzige. Tatsache. Vielleicht zählt am Ende die Qualität, nicht die Quantität!
Woran könnte das liegen?
Weisst du, in Sachsen gibt es viele krasse Menschen, die coole Sachen machen. Aber die haben in Sachsen nicht unbedingt die Chance zu wachsen. In Chemnitz sind Maschinenbau und Handwerk gross, aber es gibt keinen richtigen Wohlfühl-Pflaster für Influencer – es gibt wenig schicke Cafés oder Hipster-Gegenden. Leipzig oder die Dresdner Neustadt sind da schon anders.
Du hängst doch nie in Hipster-Cafés ab, oder?
Ich bin aber auch nicht der typische Influencer, der vor der Kamera steht, sondern ich benutze meine Fotos als Medium. Dafür reise ich um die Welt.
Du postest aber auch viele Fotos aus deiner Heimat, oder?
Ich zeige gern, dass ich aus Sachsen komme. Auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt: Die Mehrheit der Menschen ist nicht so, wie das in den Medien dargestellt wird. Und die Landschaft hat damit schon mal gar nichts zu tun – die war vor den Idioten schon da.
Und die willst du den Menschen zeigen?
Ich will zeigen, dass es sich lohnt, nach Sachsen zu kommen. Und ich will den Sachsen zeigen: Hey, hier sind Touristen, baut mal euren Service aus! Seid mal freundlich zu denen! Dann gewöhnen sich auch die Sachsen an neue Menschen – und werden hoffentlich ein bisschen weltoffener.
Avis contens
Der Avis contens (lat. sontento= zufrieden, sich begnügend) wird auch Avis parvo beatus (lat. parvo = wenig; parvo beatus = mit wenigem zufrieden, innerlich zufrieden) genannt. Etliche Ornithologen ordnen den A. c. der Art Avis fatalis (sic!) zu. Unserer Beobachtung und Meinung nach gibt es trotz ähnlicher Verhaltens-, Ausdrucks- und Erscheinungsweisen einen wesentlichen Unterschied: Der Ars fatalis ist ein zutiefst mit sich und mit den Umständen unzufriedener Vogel, während der Avis contens mit sich und mit den Umständen im Reinen ist. Beide Vögel verhalten sich zwar ähnlich passiv. Die Passivität des A. c. ist jedoch eine fröhliche, stimmige, einverstandene. Die Passivität des A. f. ist eine mürrische, abweisende, misanthropische.Ein weiterer Unterschied, ehe wir näher auf den Avis contens eingehen: Der Avis fatalis ist als solcher nicht geboren, sondern zu dem geworden, der er (zu seinem eigenen Unvergnügen) ist. Der Avis contens ist, genetische Untersuchungen stehen freilich aus, allem Anschein nach ein erblich bedingt-bestimmt gemütvoller Vogel. Er zeichnet sich, kaum ist die Schale seines Geburts-Eis durchbrochen (wohl schon vorher; doch was im Fruchtwasser schwimmt, bleibt fernhinwirkend ein Geheimnis; jedes Junggeborene ist einem Überraschungs-Ei entsprungen; unserer Ansicht nach gehört das zu den wohligen Geheimnissen des Lebendigseins) -, durch ein sonniges Gemüt aus. Vielleicht liegt es an der Zusammensetzung der Luft in der Luft-Blase, in der das Küken noch im Ei das Atmen erlernt.
Auf dem Rücken des A. c. könne man, sagt der Volksmund, Holzscheite spalten. Mit ihm könne man Pferde stehlen; er würde, in einer Bande von Bankräubern die Rolle des Chauffeurs und Schmieren-Stehers prächtig-ruhig ausfüllen; von ihm heisst es, er habe eine Arsch-Ruhe.
Seine Ehrgeizlosigkeit, seine Es-ist-wie-es-ist-Haltung (verbunden mit der Auffassung, es könnte schliesslich auch schlimmer sein) macht ihn einerseits zu einem gern gesehen Gast. Andererseits reizt er andere Vögel, die aktiv bis hysterisch auf Veränderung und Parteinahme und Stellungnahme drängen, aufs Blut und zur Weissglut. Der Avis contens bewahrt kaltes Blut, wartet ab, er sitzt am Ufer, er weiss (tief innerlich-gewiss), dass es nur eine Frage der Zeit ist, und die Leichen der Feinde treiben im Fluss an ihm vorbei.
Hat er überhaupt natürliche Feinde? Schwer zu sagen. Fragt man ihn, antwortet der A. c. mit einem stummen, weise wirkenden, durchaus überzeugendem Kopfnicken, mit dem er seine Haltung bestätigt: Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wurde. Das kann man souverän nennen; das kann man auch arschlos nennen, eine Spur an Geducktheit ist dabei, ja der Unterwüfigkeit? [1]
Seine seelische, mentale Robustheit erlaubt ihm, Widrigkeiten des Lebens schadlos zu überstehen. Wird ihm auf die linke Wange (Regio buccalis) gehauen, hält er seine rechte Wange hin. Verlässt ihn eine Liebe, runzelt er die Stirn (Regio frontalis) und weiss, es kommt eine nächste. Will ihm jemand an die Kehle (Regio guralis) zieht er Kopf und Kinn ein und versperrt dem Messer den Zugang. Privates Unglück (Scheidungen, Todesfälle in der Familie u. ä.) machen ihn betroffen, aber nicht flugunfähig.
Findet um ihn herum eine Revolution statt (Putsch, Wende, Finanzkrise u. ä.), nimmt er es zur Kenntnis und weiss über einer Stulle mit Leberwurst, einer Vinylplatte mit der Musik von Chuck Berry und der zweiten Flasche Bier, dass die Welt noch lange nicht untergeht. Nicht, solange er lebt; wenn sie untergeht, während er lebt, wird er es zur Kenntnis nehmen, mehr zu tun gibt es dann sowieso nicht. Es könnte sogar sein, dass der Planet Erde letztlich nur aus Leberwurst, Bier und Vinyl besteht. Mehr an Philosophie braucht es im kurzen Leben nicht.
Man sollte den Avis contens nicht unterschätzen. Er ist ein genau beobachtender, schlauer Vogel. Er wittert die Gefahr, der er aus dem Wege geht, ehe sie gefährlich wird. Er lässt sich nicht auf die Wange schlagen, er lässt sich nicht an die Kehle gehen. Es mögen sich Zeiten und Machtverhältnisse ändern – er ist sich sicher: Zeiten und Machtverhältnisse ändern sich im Grunde ganz und gar nicht. Jede Flasche lässt sich immer öffnen; jeder Menschen-Körper ist nah am anderen ein warmer Leib; jeder Wind ist ein Wind und geht vorüber. Der A. c. ist ein Vogel, der genau beobachtet und sich nicht einmischt. Wozu auch? Es kommt, wie es kommt; live is life; c'est la vie; et kütt wie et kütt; macht euern Scheiss alleine; kommst du heute nicht, kommst du morgen …
Der Avis contens ist ohne Rätsel, ohne Geheimnisse, er ist - ein bisschen langweilig.
Andererseits ist er zuverlässig, kameradschaftlich, hilfsbereit. Er ist unter den Vögeln beliebt. Er nervt nicht, er ist gescheit und ein wenig lebensfremd; es ist dies eine Lebensfremdheit, die weder ihn noch andere in Lebensgefahr bringt. Gerät einer seiner Familienangehörigen in bedrohliche Lage, wird er zum Helden und sträubt sein Gefieder. Wider Willen, weil er im Grunde seines Herzens ein Held nicht sein will und Helden lächerlich findet. (Dass ein Vaterland, das Helden braucht, arm dran sei, ist eine Grundüberzeugung des A. c.) Aber was sein muss, muss sein. Die Butter vom Brot nehmen – dann doch nicht, nicht mit ihm.
Das sind einige seiner liebenswerten Eigenschaften: Er ist pragmatisch, er findet Narzissmus albern, er ist uneitel und fragt sich, ob Orden und Medaillen an einem Hemd nicht unerfreulich viele Löcher machen und ob das Material für Denkmäler nicht nützlicher gebraucht werden können für den Bau von Wohnungen, Maschinen, Brücken etc.
Der A. c. gehört zum Heer der Anständigen. Wir begreifen Anstand als ein Regelwerk für geordneten Verhaltens zwischen Menschen. Dass dieses Reglement gelegentlich durchbrochen wird – es braucht auch den Aufstand der Anständigen, auch wenn die Aufständigen im Moment des Aufstehens von den anderen Anständigen nicht als Anständige erkannt werden -, berührt den Avis contens nicht. Er bleibt der Konservative. Er bleibt der Beharrende. Er kann warten. Er kann den Kopf einziehen, die Augen schliessen, den Sturm in den Wipfeln vorüberziehen lassen; er wird den Kopf wieder herausstecken, wird die Augen öffnen, den Schnabel halten und – weiterleben wie zuvor.
Der Avis contens ist zweifelsfrei ein Organismus der Beständigkeit, des Überlebens, des Weitermachens, ohne dass er jemals vornweg flöge oder hinterher flatterte; er ist mittendrin, tut Gutes für sich und für seine Familie, ist abgeklärt genug, Regierungen kommen und gehen zu sehen, wen er wählt, wen er favorisiert, bleibt sein Geheimnis. (Also hat er doch eines: Sein Wahlverhalten ist ein Geheimnis und bringt die Strategen in so genannten Volksparteien zur Verzweiflung; wenn jede Stimme zählt, für wen zwitschert der A. c. im Dämmerlicht einer Wahlkabine?)
Als sicher gilt, dass er in den Zeiten der D. D. R. gewählt hat, was die meisten wählten: das Regime, dem er schmunzelnd beim Untergehen zuschaute, kein Ton der Begeisterung entrang sich seiner Kehle, wie auch kein Ton des Widerstandes aus seinem Inneren nach draussen drang. Es war wie es war, es ist wie es ist, es wird sein wie es sein wird. Wer könnte wiedersprechen? Der Ast, auf dem Avis contens sitzt, genügt ihm als Raum; einen höheren Ast, eine Nähe zum Himmel benötigt er nicht.
In einer Schwarm-Gemeinschaft, in der Konsens angestrebt wird, leistet der Avis contens Hervorragendes, indem er nichts leistet ausser: sanft, sauber und sozial zu existieren. Oder wie es in einem Haiku des japanischen Dichters Gokason heisst: „Beim Gräserkauen
Hat auch das Maul des Pferdes
Noch seinen Rhythmus.“