Konsequenz, Erbe und Konkurrent eines unzufriedenen arabischen Nationalismus Der Islamismus
Gesellschaft
Der Islam hat eine schlechte Presse im freien Westen. Dass die noch im Mittelalter leben und die islamischen Pfaffen tun können, wovon ihre christlichen Kollegen seit 150 Jahren nur noch träumen - Frauen verschleiern, Sünder steinigen, Ketzer verbrennen - gibt der Diskussion Raum, ob nicht "der Islam" an sich schon recht gewaltbereit sei.
Mehr Artikel
12. August 2006
1
0
11 min.
Drucken
Korrektur
2. Islamische Erneuerungsbewegungen hat es - wie bei jeder Religion - immer gegeben. Eine Welt, in der Menschen bei Religion Trost suchen, ist kein schöner Ort.
Wäre sie es, müssten sie keinen Trost suchen. Und der Trost, den Religion spendet, ist mit Demut und Verzicht erkauft, und darum alles andere als ein Beitrag zur Verbesserung der Welt. Also haben immer wieder Leute versucht, durch noch "richtigeren" Glauben mehr Zuspruch und Hilfe von oben zu bekommen.
So hat's der Islam zu einer Spaltung gebracht (Schiiten und Sunniten), einer Reihe von kleineren Abspaltungen (Ismailiten, Aleviten, Drusen) oder aus ihm sind auch neue Religionen (Sikhs, Bahai) entstanden. Während die einen im Rahmen der Religion bleiben (was die Anhänger der traditionellen Form des Glaubens manchmal anders sehen), gibt und gab es also durchaus auch den Übergang, ganz anders zu Allah & Konsorten zu beten. Die Ausbreitung und Durchsetzung solcher religiöser Erneuerungsbewegungen hatte und hat, - wie die Ausbreitung und Durchsetzung von Religionen überhaupt - weniger mit guten Argumenten und überzeugenden Dogmen zu tun, sondern mehr damit, ob sich politische Herrschaften des jeweiligen Götterglaubens annahmen und ihn mit Gewalt durchsetzten - oder ob Klassen oder andere gesellschaftliche Gruppen in dieser Art, mit höheren Mächten zu verkehren, eine geistige Waffe für ihre sonstige Anliegen sahen.
3. Fundamentalisten hat der Islam auch - wie jede Religion. Eben Leute, die die "Rückkehr" zum wahren Glauben predigen, und sich dabei aus recht aktuellen Gründen der "Wiederherstellung" von Sitte und Moral der Vorväter verschreiben, die es so nie gegeben hat und die immer auf das gleiche hinauslaufen: Verzicht, Unterdrückung von abweichenden Positionen, Unterwerfung unter die 'richtige' Herrschaft und Kampfbereitschaft für dieses widerliche Programm.
Und selten ist so ein Programm damit zufrieden, bornierte Privatmeinung zu sein, sondern wird eine politische Bewegung, den Staat auf die "Wieder"-Aufrichtung der Moral zu verpflichten. Im Falle des Islams nennt man das Islamismus. Ausgerechnet in einem Europa, in dem fast jedes Land eine grössere christlich-demokratische Partei hat, erregen solche Bewegungen ziemliche Verwunderung und Besorgnis.
4. Die erste Erscheinungsform des Islamismus war zunächst die panislamische Erneuerungsbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Den verschiedenen Bewegungen ging es um die Wiederherstellung der 'Umma', d.h. der Vereinigung aller Gläubigen des Islam unter einer gemeinsamen politischen Herrschaft.
Von Marokko bis Indonesien hatten sich zwischen 1815 und 1914 Frankreich, Spanien, Grossbritannien, die Niederlande, Russland und Italien islamische Länder einverleibt, als Kolonien angeeignet, sie in 'Protektorate' verwandelt und das immer machtloser werdende Osmanische Reich in Interessenssphären zerlegt. Dies sollte durch den antikolonialen Kampf rückgängig gemacht werden.
5. Besonderen Zulauf hatten die Panislamisten in den arabischsprachigen Ländern. Denn auf den Verfall seiner staatlichen Macht antwortet das Osmanische Reich, der "kranke Mann am Bosporus", wie man damals sagte, nachdem 1908 die 'Jungtürken' in Konstantinopel (heute Istanbul) die Macht übernommen hatten, mit einer verstärkten nationalen Homogenisierungspolitik. Die sollte die Untertanen des Sultans in moderne Bürger eines türkisch dominierten Nationalstaates machen. Mit dieser Turkifizierungspolitik macht sich die 'hohe Pforte' bei ihren arabischen Untertanen aber nicht gerade beliebt und machte ihren Untertanen zudem ihr 'Araber-Sein' erst richtig klar.
Und damit geschah das gleiche wie in den britischen, französischen und italienischen Kolonien: Das Zusammenspiel von nationaler Inanspruchnahme und rassistischer Ausgrenzung schuf abweichenden, in diesem Fall: arabischen Nationalismus, der unter dem Banner des Propheten wahlweise (so trennscharf war man gar nicht immer) alle Araber oder alle Muslime sammeln wollte. Dass das Arabische als Sprache des Koran angeblich allein den Zugang zur göttlichen Wahrheit erlaubt, unterstrich in den Augen der islamischen Aufrührer die Identität von islamischer Erneuerung und arabischem 'Wieder'aufstieg.
Solche Bewegungen setzten Briten und Franzosen im I. Weltkrieg gegen das Osmanische Reich ein (darum geht's bei "Lawrence von Arabien"), während sich die deutsche Aussenpolitik auch um die "Mohammedaner" bemühte, aber weniger Erfolg hatte. Statt der versprochenen Unabhängigkeiten nahmen Frankreich und Grossbritannien nach 1919 die schwere Bürde von Völkerbund-Mandaten auf sich und schufen Syrien, Irak, Libanon, Palästina, Jemen als abhängige Quasi-Kolonien und genehmigten die Gründung Saudi-Arabiens.
6. Gegen die "Türken" wie die christlichen "Kreuzritter" (so nannte man die Kolonialisten in Erinnerung an andere harte Zeiten) und später die Zionisten setzte die "Arabische Bewegung" den Traum von der "Wiedererrichtung" eines arabischen und/oder islamischen Reichs in angeblich alter Schönheit und Grösse. Doch dieser Panislamismus wurde in den 1920er Jahren zunehmend bedeutungslos gegen die neu aufkommenden nationalistischen Bewegungen, die innerhalb der von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen ihre "Befreiungs"kämpfe führten und moderne Nationalstaaten Ägypten, Algerien, Marokko, Libyen, Tunesien, Syrien, Libanon. Irak, Jordanien usw. errichten wollten.
7. Was wiederum nicht geheissen hätte, dass diese nationalen Befreiungsbewegungen in ihrem antikolonialen Kampf auf das kulturelle Unterscheidungsmerkmal Islam gegenüber den christlichen Kolonialisten verzichtet hätten. Als Bestandteil der arabischen Volkskultur und als Moralressource schätzten die Staatsmänner in spe den Glauben an Allah durchaus - als Religion wollten sie ihn hingegen nicht allzu wichtig nehmen. Einerseits weil es viele verschiedene islamische Sekten und auch noch starke christliche Minderheiten gab, die in der Gründungsphase des nationalen Projekts mitmachen sollten; andererseits weil die islamische Religion häufig zur Zementierung traditioneller feudaler Abhängigkeitsverhältnisse benutzt und von den Nationalisten darum als Modernisierungshindernis angesehen wurde.
8. Als sie dann nach dem zweiten Weltkrieg ihr Ideal von Souveränität verwirklicht hatten, soweit die Weltordnung das ihnen zustand, haben die verschiedenen Länder und Bewegungen allesamt weiterhin dem Ideal des Panarabismus gehuldigt.
Das heisst, sie haben sich den Widerspruch geleistet, ihren Nationalismus und nationale Politik als Dienst an einer noch höheren, zu verwirklichenden arabischen Einheit darzustellen. Allerdings haben sie diese mit ihrer Politik dauernd durchkreuzt, was sich an der geringen Lebenszeit der verschiedenen "Vereinigten Arabischen Republik"s-Gründungen zeigte. Die arabischen Staaten haben ihre Konkurrenz untereinander dauernd mit dem Bekenntnis zur arabischen Sache, der Klage um die Zerrissenheit der arabischen Welt und mit der Anklage, alle anderen hätten nur ihr borniertes nationalstaatliches Interesse im Kopf geführt - über alle Wechselfälle ist die gemeinsame Feindschaft zu Israel als angeblicher Grund und Ursache der arabischen Schwäche geblieben.
Doch selbst der gemeinsame Hass auf den "Judenstaat" hat bei den arabischen "Bruderstaaten" nie dazu geführt, dass sie den Kampf der PLO auch nur vorbehaltlos unterstützen (s. das Massaker jordanischer Sicherheitskräfte an Palästinenser im sogenannten "schwarzen September" 1970). Von einer guten Behandlung derjenigen, die in Flüchtlingslager gepfercht auf ihre zukünftige Verwendung als palästinensisches Staatsmaterial harren durften, ganz zu schweigen.
9. In den Ländern, wo die politische Herrschaft, zumeist ein Königshaus, einen Kurs westlicher Orientierung verordnete (Marokko, Jordanien, Saudi-Arabien, Golf-Emirate, bis 1958 Irak) wurde der Islam als Abwehr gegen Demokratisierungsvorstellungen und zur Neutralisierung arabisch-sozialistischer und kommunistischer Umtriebe geschätzt.
So war es auch im nicht-arabischen Afghanistan und Pakistan. In Persien (heute Iran) hingegen sah bis 1979 das Schah-Regime die islamische Geistlichkeit und die Bevölkerung als ein einziges Modernisierungshindernis an. Und selbst die kemalistischen Militärs in der Türkei schätzen den Islam als Moralressource für den Staat.
Ihnen allen war an der Dienstbarkeit der Religion für den Staat gelegen, aber nicht an der Unterwerfung des Staatsprogrammes unter den Islam.
10. Aber auch die "arabisch-sozialistischen Länder" haben sich nie gescheut, den Islam in den Dienst zu nehmen.
(Nasser: "Mohammed war ein Imam des Sozialismus", Baathisten usw.). Dabei bedeutete der 'Sozialismus' genau wie in vielen anderen asiatischen und afrikanischen Staaten nie sehr viel mehr als dass "der wirtschaftliche Reichtum der Nation gehört" (Art. 26 der Verfassung der Baath-Partei). Der Antikapitalismus dieser Länder war immer ein antimaterialistischer, der den Leuten Hingabe und Aufopferung für die Nation predigte; Kapitalismus war gleichbedeutend mit Egoismus und Überbetonung materieller Interessen statt für die "ewige Sendung der arabischen Nation" (Drittes Prinzip der Baath-Partei) zu kämpfen. Wenn man sich überhaupt vom ML inspirieren liess, dann zumeist von Stalins Diktum, Volksfeinde müssten zerschmettert werden und Maos Lobpreisungen revolutionären Heroismus, ansonsten führte man den Klassenkampf gegen 'reaktionäre Elemente' zumeist gegen Leute, die ihren Reichtum nicht hergeben wollten und gegen Minderheiten, die die schöne Homogenität der Nation durch Sonderbewusstsein zu stören schienen.
Und natürlich gegen den "Brückenkopf des Imperialismus", Israel, dessen jüdische Bewohner man in den letzten 40 Jahren durch hartnäckige Propaganda zum Symbol westlicher Gier machte. Mit dem Wegfall des Ostblocks haben sich auch Bewegungen, die vorher vom Islam explizit nichts gehalten haben (PKK, PLO, usw.) auf den Islam als revolutionäre Kraft besonnen.
11. Der Islamismus, der bis weit in die 1970er Jahre eine ziemlich geringe Rolle spielte, ist heute eine von der Türkei bis zum Sudan, von Marokko bis Indonesien weit verbreitete Ideologie, allerdings ohne, dass sich die Beteiligten wirklich einig wären, wer zur Umma gehört, wie sie aussehen soll, ob Sunniten oder Schiiten den Ton angeben sollen, welche Koranschule und ihre Auslegung der Scharia richtig ist und ob es um den ganzen Islam oder vor allem um die Einheit aller Araber gehen soll usw.
Er ist eine Form der nationalistischen Globalisierungskritik, die den Nationalstaat als untauglich zur Verwirklichung der panarabischen und panislamischen Ziele verwirft. Wie fast alle "Pan"-Bewegungen nimmt er vom unzufriedenen Nationalismus seinen Ausgang und sieht die Rettung des Vaterlandes nur noch darin, dass er gerade dieses transzendiert und an seine Stelle eine höhere und machtvollere Einheit setzt. Freilich ohne deswegen darauf zu verzichten, die eigene Nation in die Finger zu bekommen, ihre Politik auf das neue Ziel auszurichten und der jeweiligen nationalen Gesellschaft ein moralisches Erneuerungsprogramm zu verordnen.
12. Unzufriedenen Nationalismus findet man in arabischen (und auch anderen islamischen) Ländern genug. Seit den 1980er Jahren schlagen sich fast aller dieser Staatsführungen damit herum, ihre jeweilige "gemischte Wirtschaft" mit staatlicher Abschottung und gewissen Garantien für das Überleben der Bevölkerung den IWF-Forderungen anzupassen, um weiterhin kreditwürdig zu bleiben. Mit dem Wegfall des Ostblocks ist für alle Länder der Weltmarkt und die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Produktion der Massstab der Politik geworden.
Die "Strukturanpassungsprogramme" bedeuten neue Härten für die ja sowieso nicht gerade mit Reichtum gesegneten Massen in Sachen Lebensmittel (Brotsubvention), Gesundheitssystem, Bildung usw. Nicht nur, weil z.B. die Muslimbrüderschaft versteckt und auch ganz offen Ersatznetzwerke (Schulen, islamische Krankenhäuser, Suppenküchen für die Armen) aufbauen, sondern weil die islamistische Erklärung für die neuen Umstände wie auch die Vorschläge, das Problem zu lösen, so kompatibel mit dem bisherigen Untertanenbewusstsein und der offiziellen Propaganda der jeweiligen Regimes sind, ist der Islamismus am Wachsen; dass er von Marokko bis Malaysia den Antisemitismus im Gepäck hat, hat mit israelischer Politik nichts, mit nationalistischem Antikapitalismus sehr viel zu tun: Gegen Gier, Bereicherung und Materialismus werden die antimaterialistischen Tugenden der Religion gesetzt und für eine Ökonomie nach islamischen Prinzipien mit gerechter Verteilung und Zinsverbot geworben.
Auch diejenigen, die Islamismus angeblich bekämpfen (Ägypten, Türkei, ehemalige Republiken der Sowjetunion mit islamischen Bevölkerungsmehrheiten), betreiben eine Durchsetzung islamischer Moralnormen in der Gesellschaft und bereiten damit dem Islamismus den Boden.
13. Der neue Islamismus ist damit Konsequenz, Erbe und Konkurrent des arabischen Nationalismus. Der islamische Fundamentalismus ist eine Frucht der Unzufriedenheit mit den Ergebnissen dieser Politik und gleichzeitig Erbe der nationalistischen Kapitalismuskritik, die die arabischen Sozialisten unter die Leute gebracht haben - und er bekämpft die übrig gebliebenen Nationalisten und arabischen Sozialisten als Gottlose und Kollaborateure des Westens. Gerade in Bezug auf Frauen - von den arabischen Sozialisten als Modernisierungsreserve emanzipiert - polieren die modernen Islamisten ein Ideal moralischer Erneuerung auf: Hier geht es vor allem um Sittlichkeit und Sexualität einerseits.
Wie das genaue Zusammenspiel sich darstellt zwischen der Vorstellung Allah sei nicht auf der eigenen Seite aufgrund mangelnder Moral, der Vorstellung, dass Sexualität die männlicher Kampfkraft für den Djihad schwächt, und der Befürchtung eine erfüllte Sexualität und Liebe, die ihrer Politik in die Quere kommen kann, würde generell eine Abwendung vom Djihad bewirken, müsste man noch genauer untersuchen.
Wie bei jedem religiösen Fundamentalismus, der der Erneuerung der Nation dienen will, sind die Übergänge zum Faschismus fliessend. Mit dem Koran hat das nichts, mit dem enttäuschten Idealismus arabischer und nicht-arabischer Nationalisten alles zu tun.