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Pädagogik: Die sehr private Erziehung des Kindes

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Zwei zentrale Widersprüche der Pädagogik Die sehr private Erziehung des Kindes

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Gesellschaft

Die Kindererziehung findet im modernen Kapitalismus unter besonderen äusseren Bedingungen statt. In Städten verschwinden unspezifische Freiflächen als für Kinder und Jugendliche attraktive Orte. Der Autoverkehr macht das Spielen von Kindern in der Umgebung der Wohnung oft problematisch.

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Pädagogik: Die sehr private Erziehung des Kindes. Foto: Karin Beate Nøsterud (CC BY 2.5 cropped)

Datum 28. Januar 2014
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Die Verkleinerung der Familien und der Zwang zur Individualisierung als Anbieter von Arbeitskraft sowie die gestiegene räumliche Mobilität verringern die Zahl von Menschen, die unmittelbar im früher grösseren Familiengefüge vor Ort präsent sind und am Wohl des Kindes tätig-praktisch Anteil haben: als ältere Geschwister, als unverheiratete Tanten oder Onkel, als Grosseltern usw. „Jeder Haushalt ist auf die blossen Hauptpersonen reduziert – auf weniger Hauptpersonen. … Da gibt es nur die Hände einer einzigen Frau, um das Baby zu füttern, das Telefon abzunehmen, das Gas unter dem Topf, der überkochen will, abzudrehen, das ältere Kind zu trösten, das ein Spielzeug kaputtgemacht hat, und beide Türen gleichzeitig zu öffnen“, so Margaret Mead (zitiert nach Szszesny-Friedmann 1994, 159, 169). Ein soziales Vakuum für die Kinder und ihre höhere Verletzlichkeit durch Trennungs- und Verlusterlebnisse sind die Folgen.

In modernen kapitalistischen Gesellschaften steigt der Bedarf nach zwischenmenschlicher Gegenwart und Resonanz. Die „Qualifikationen“ der Einfühlung, Rücksicht und Verantwortung für andere werden in steigendem Masse nachgefragt, bilden zugleich bei steigender Spezialisierung, Intensivierung der Arbeit, wachsendem Leistungsdruck und Konkurrenz einen nicht ausreichend nachwachsenden Rohstoff. Die Überforderung der Individuen als „Arbeitskraftunternehmer“ oder als „Planungsbüro“ ihrer eigenen Existenz geht mit einer Belastung mit Entscheidungen, Verantwortungen und Selbstsorge einher. Das Individuum ist von der Moderation der nicht nur verschiedenen, sondern widersprüchlichen Anforderungen absorbiert. Die Fokussierung des Individuums auf sich selbst fördert Narzissmus. Das eigene Handeln aus den Augen anderer zu betrachten, dafür werden bei den Innenarchitekten der eigenen „Identität“ und des eigenen „Lebensstils“ die Energie und der Sinn knapp.

Auch die wachsende Trennung zwischen den Generationen bildet eine Ursache für den mitmenschlichen Kontaktverlust und die gestiegenen Schwierigkeiten, für andere verantwortlich zu handeln. Sicher wird niemand das Mitarbeiten von Kindern und Jugendlichen im agrarisch geprägten Arbeitsleben früherer Jahrhunderte idealisieren. Allerdings hat sich mit der Trennung von Arbeits- und Wohnplatz und mit der Spezialisierung der Arbeiten bei den Kindern und Jugendlichen eine Ahnungs- und Vorstellungslosigkeit davon verbreitet, was ihre Eltern in ihrem Arbeitsleben eigentlich tun, ausser dass sie „arbeiten gehen“. Die verschiedenen Generationen haben im emphatischen und im praktischen Sinne wenig miteinander zu tun.

Zwei zentrale Widersprüche der Erziehung

Die Kindererziehung verwickelt die Eltern in einen Widerspruch: Aus Liebe zu ihren Kindern stellen Eltern diese auf eine Welt ein, die in ihrer kapitalistischen Verfasstheit vielen menschlichen Belangen entgegensteht. Es gehe für die Kinder darum, ihre Chancen zu wahren oder zu verbessern. Das Bewusstsein des Gegensatzes ist durch die Liebe verstellt und die Liebe ist durch den Gegensatz doppelbödig. Kinder wachsen in die Welt hinein im persönlich-zwischenmenschlichen Verhältnis. Eltern haben im Verhältnis zum Kind oder Jugendlichen wenig Möglichkeit, praktisch einen wesentlichen Unterschied zwischen der Welt, so wie sie ist, und eigenen humanen Kriterien für das In-der-Welt-Sein zu machen. Die Eltern erziehen in der notwendigen und unausweichlichen Fiktion, es sei eine menschliche Welt. Natürlich entsteht im Fortgang der Erziehung die Differenzierung zwischen Aussenwelt und Innenwelt. Dies ändert aber nichts an der für Bürger lebensdienlichen Fiktion, die Aussenwelt als Mittel, als Bedingung zur Entfaltung der Innenwelt usw. oder gar selbst als Tummelplatz zur Verwirklichung von Subjektivität wahrzunehmen.

Eltern verwischen unvermeidlich die Differenz zwischen den Einschränkungen und Zumutungen, die das erziehende Individuum dem zu erziehenden Individuum immer aufzulegen hat, und dem Schaden, den das Individuum von der Erziehung zur Einpassung in Strukturen einer von Imperativen der Kapitalakkumulation geprägten Welt nimmt. Unabhängig von der kapitalistischen Gesellschaftsform existiert ein Bezugsproblem von Erziehung. Von ihm sehen jene ab, die der Vorstellung einer letztlich segensreichen Spontanautonomie des Kindes folgen, das schon seine Interessen kenne, aus Erfahrungen lerne und schon selbst zu wissen vermöge, wie es sich positiv entwickele und wie nicht. Viele erlernenswerten Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigen allerdings erst lange Übung. Bei der allmählichem Bemeisterung bleiben „Durststrecken“ nicht aus. All dies schwächt anfängliche Motive dafür, z.B. eine Sprache oder ein Instrument usw. zu lernen. Erst im Nachhinein, nach Bewältigung der Lernaktivität, lässt sich vergegenwärtigen, was diese Fertigkeiten und Fähigkeiten positiv eröffnen.

Vorher handelt es sich um ein abstraktes Bedürfnis, dem keine Fähigkeit und kein tätiges Vermögen entspricht. Alles in den Selbstlauf kindlicher Entwicklung oder des Spiels und der Knabberpädagogik zu überführen, überträgt den Standpunkt des Konsums auf das Lernen. Allerdings ermöglicht die Beanspruchung des wohlverstandenen Wohls des Kindes gegen seine vorfindliche Zufriedenheit allerhand Ideologisierungen, die noch jede Erziehungsmassnahme zu legitimieren verstehen. Der Erziehende bedauert sich dann selbst, wie er sich habe überwinden müssen, um hart zu sein. Diese Härte sei nötig und für den Zögling am besten gewesen. Der Erziehende hofft, dass später die Strenge aus Liebe verstanden werde.

Der innerhalb jeder Erziehung relevante Gegensatz wird gern und oft an jener Stelle geltend gemacht, an der es um eine Erziehung nicht überhaupt oder abstrakt geht, sondern um eine bestimmte Erziehung, die zur Ein- und Anpassung in die modernen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Sie tut auch dem Verhältnis zwischen Kind und Eltern nicht gut: „Zwischen Eltern und Kindern ist das Misslingen wahrscheinlicher als das Gelingen. Denn Eltern sind im Wortsinne Vor-Gesetzte; in der Art, wie sie reden oder schweigen, stecken immer schon, bewusst oder vorbewusst, Machtansprüche ebenso wie Rechtfertigungen: Die Kinder ihrerseits müssen sich losreissen und eigene Erfahrungen sammeln, um aus ihnen ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln. Anders die Grosseltern. Für sie geht es nicht mehr um Macht und um Rechtfertigung. Darum können die Enkel ihnen zuhören, ohne sich gegängelt oder gar gefährdet zu fühlen.“ (Krockow 1991, 72)

Die Verklärung mütterlicher Tätigkeit und Aufmerksamkeit

Im Unterschied zum eigennützigen Bürger, der seine Privatinteressen gleichgültig gegenüber dem Wohlergehen anderer verfolgt, wertet Jessica Benjamin (1982, 447) mütterliche Aufmerksamkeit für das Kind als „Liebe und gegenseitige Anerkennung“, als „Sorge, Pflege und Aufrechterhaltung des Wachstums Anderer“ in einer „Subjekt-Subjekt-Relation“ zum Kind. Carol Gilligan (1984) profiliert eine (ihr als menschlicher geltende) weibliche Moral der Fürsorge und Anteilnahme, der Verantwortung und Bindung – im Unterschied zum „männlichen“ instrumentellem Aktivismus. Komplementär zur gesellschaftlichen Unterbewertung der Leistungen, die viele Mütter erbringen, grassiert eine Idealisierung von mütterlicher Tätigkeit und Aufmerksamkeit. Der Mütter-Kitsch wusste es schon lange: „Nur eine Mutter weiss allein, was lieben heisst und glücklich sein.“

Der Schwierigkeit, das Kind zu verstehen, wird von Müttern, die faktisch durchschnittlich immer noch am meisten mit kleinen Kindern befasst sind, oft überkompensatorisch begegnet. An den kindlichen Regungen kleben dann „Muttiurteile, selbsthaftend, weil bestrichen mit dem dickflüssigen Leim liebender Muttifürsorge“ (Dieckmann 1995, 139). Spätere Therapien zeigen, wie „die geheimen Zeichen (oder wenigstens die Rätsel, ob sie überhaupt existieren) ewiger Vergessenheit“ überantwortet wurden (ebd., 80f.). Die permanente Kommentierung und Interpretation der kindlichen Gefühle durch die Mutter „spaltet die Empfindung jeweils gleich bei ihrem Auftreten vom Kind ab, reisst so Lücken ins Gefühlsleben des Kindes, besetzt die Situation jeweils aufs Angemessenste in Muttis Sinne und trägt so auf Dauer zu der gewünschten Bindung des Kindes an die Mutti bei, das ohne Mutti bald nicht mehr weiss, was es fühlen soll“ (ebd., 55). Ohne Mutter ist alles nichts im familiären Reich.

Wem so eine zentrale Bedeutsamkeit zuwächst, wer wollte sie nicht für eigene Bedürfnisse nutzen? „Meist ist die Mutterliebe eine seltsame Mischung aus Narzissmus, Altruismus, Traum, Aufrichtigkeit, Unaufrichtigkeit, Hingabe und Zynismus.“ (Beauvoir 1968, 497) Zwar isolieren Kinder die mit ihnen hauptsächlich befassten Frauen gesellschaftlich, zugleich erweitern Mütter durch ihre Existenz als hauptsächliche „Bezugsperson“ ihre Ich-Grenzen um die Person des Kindes.

Gegenfixiert auf Mütter-Kitsch fokussiert sich Dieckmann mit bösem Blick auf das Misslingen der Mutter-Kind-Beziehung. Eine Vergegenwärtigung der mütterlichen Leistungen und Aufmerksamkeit in der besonderen Beziehung zum Kind sieht anders aus. Dieckmann stellt sich nicht der Frage, warum die Beziehung zwischen Mutter und Kind durchschnittlich nicht so dramatisch misslingt, wie es nach dem von ihr genüsslich ausgebreiteten Negativklischee zu erwarten wäre. Würden nur „Mutti-Deutungen“ aufs Kind geklebt und keine Regungen des Kindes angemessen wahrgenommen und beantwortet, käme es noch nicht mal zum Neurotiker. Der Psychotiker wäre der Normalfall.

Gegen die Idealisierung von Mütterlichkeit spricht auch der mit ihr in der bürgerlichen Gesellschaft verknüpfte Schuldzusammenhang: „Die Fesseln, die Müttern so gut stehen, weil sie als hingebungsvolle Verpflichtung anerkannt sind, verdecken nur den Willen zur Macht. Als Putzlappen, Krankenschwester, Seelenmülleimer, als Sozial- und Intensivstation für psychische und physische Gebrechen hat sich die Mutti eine Position der Schwäche und Abhängigkeit erwählt, in der sie Tugenden wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Selbstbeschränkung, Treue und Verlässlichkeit, kurz: eine vorbehaltlose Hingabe ausspielt als einen Akt der Vergeltung. Sie erzeugt ein Soll bei den durch ihre Opfer Beschenkten, das diese nie und nimmer abbauen, geschweige denn ihr heimzahlen können; und sie wacht darüber, dass das Defizit erhalten bleibt.

Zu ihrer äusseren Unentbehrlichkeit kommt also für die Kinder der unauflösliche Klebstoff des schlechten Gewissens.“ (Dieckmann 1995, 58) Hier fehlt die Frage, wie es dazu kommt, dass eigenes Tun (der Mutter) von Subjekt wie „Objekt“ dieses Tuns als Opfer für jemanden anderen (das Kind) wahrgenommen werden kann. Selbstverständlich ist es schliesslich nicht, den am eigenen Leben wahrgenommenen tiefen Mangel mit dem Beklagen des Undanks anderer für die eigenen Taten zu verknüpfen. Dieckmann nimmt daran allein den „Krankheitsgewinn“ wahr. Nach dem zugrundeliegenden Problem wird ebenso wenig gefragt wie danach, warum Erfahrungen so verarbeitet werden. Stattdessen firmiert bei Dieckmann der „Wille zur Macht“ als voraussetzungsloser und substanzialistisch seinen Grund in sich selbst findender Vorsatz und als Prinzip individueller Existenz. Mutterschaft gilt dann als eine Teilmenge davon.

Die individuelle Lebensführung avanciert so zum Resultat von Willen und Vorstellung. Ihnen gemäss leben die Menschen ihr Leben nicht in Verarbeitung ihres Seins in der Welt, sondern von innen nach aussen nach Massgabe ihrer autonom „erwählten“ Bedeutungen (z.B. einer Präferenz für „Macht“). Das Begreifen des individuellen In-der-Welt-Seins muss die Subjektform infrage stellen. Letztere verformt und verstellt die Vergegenwärtigung der eigenen Existenz. Die Subjektform als ein wesentlicher Modus der Fremd- und Selbstinterpretation von Individuen im modernen Kapitalismus ist selbst Teil der Misere – und alles andere als der selbstverständliche Horizont, innerhalb dessen die Individuen ihre Existenz begreifen können.

Zur Idealisierung der Elternschaft gehört auch der Egoismus-Verdacht gegen Kinderlose. Er sieht von den (heute eher immateriellen) Diensten des eigenen Kindes für Mutter und/oder Vater ab.

Ein Kind ist die populärste Methode, dem eigenen Leben einen Sinn zu verleihen. Wer sich zu einem Kind entschliesst, braucht sich zumindest während der nächsten zwanzig Jahre nicht mehr zu fragen, wofür er am Leben ist: Er hat für ein Kind zu sorgen, basta. … Ein Kind ist für nichtreligiöse Menschen ein Garant für ein Weiterleben auf Erden. Falls die Menschheit durchhält, ist noch in hundert Jahren anhand vergilbter Fotos festzustellen, dass ein bestimmtes Neugeborenes sein Muttermal vom Urgrossvater hat. Zumindest von Zeit zu Zeit wird also jemand an uns denken.

Ein Kind bedeutet Macht. Welcher Mensch wird je wieder so andächtig unseren Worten lauschen und auf so totale Weise auf uns angewiesen sein? …

Ein Kind ist eine diskrete Möglichkeit, auf unsere Unwiderstehlichkeit hinzuweisen. Jeder kann sehen, dass wir zumindest irgendwann einmal von einem anderen Menschen bis zum Wahnsinn geliebt worden sind. Hätte er sonst ein Kind von uns gewollt? Ein Kind ist die Geisel, mit deren Hilfe wir einen geliebten Menschen auch nach Abklingen seiner Leidenschaft bei uns halten können. Wenn er dann eines Tages nicht mehr mag, mag er vielleicht noch das Kleine? (Vilar 1994, 86ff.)

Und häufig „sind Kinder nur ein vorgeschobener Grund, um bereits die Flinte ins Korn zu werfen, bevor man es überhaupt probiert hat. … Von Eltern, die zum Wohl ihrer Kinder selbst ein verhunztes Leben haben, hört man immer wieder den einen Satz: ‚Ich kann es nicht ändern, ich muss ja meine Kinder grossziehen.' Ich kann die Arbeit, die ich langweilig finde, nicht kündigen, weil ich Kinder habe: eine schöne Ausrede.“ (Maier 2008, 99) Maier ist übrigens wie Dieckmann Mutter zweier Kinder.

Erziehung und Zwischenmenschlichkeit

Eltern-Kind-Verhältnisse sind eine Teilmenge der durch die Trennung zwischen Arbeit und Wohnen und durch den Fortfall von Produktionsaufgaben für die Familie zustandegekommenen herrschenden Zwischenmenschlichkeit im modernen Kapitalismus. Sie geht mit romantischer Partnerwahl sowie Emotionalisierung und Privatisierung des familialen Lebens einher. In dieser Zwischenmenschlichkeit geschieht die Selbstverortung, Bestätigung und Selbstvergewisserung der isolierten und getrennten vereinzelten Einzelnen in deren privaten Beziehung zueinander.

Sie ist das Medium, in dem Menschen ihren persönlichen Wert und Lebenssinn usw. bewähren, beweisen und sich diese Wahrheit zusprechen, beglaubigen oder entziehen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird im Kapitalismus nicht daraufhin durchgearbeitet, dass sie der Ort der Entfaltung menschlicher Sinne und Fähigkeiten im sozialen Bezug der Menschen aufeinander und in ihrer Gestaltung der Gesellschaft ist. Von dieser Weltlosigkeit haben die Bürger kein klares Bewusstsein. Vielmehr erscheint allein die zwischenmenschliche Verarbeitungsform, die aber die Not, auf die sie antwortet, nicht mehr erkennen lässt, sondern allein eine Antwort ohne Frage, also fraglos präsentiert. Alle Not soll dann tendenziell durch die zentralen Mitmenschen gewendet werden.

In der Familie steht das Bestreben im Mittelpunkt, die Zumutungen der Aussenwelt im zwischenmenschlichen Binnenraum subjektiv zu verwinden und auszugleichen. Die Familienmitglieder übernehmen praktisch dafür Verantwortung, etwas von ihnen nicht zu Bewältigendes zu bewältigen und etwas nicht zu Verdauendes zu verdauen. Objektives und Subjektives lässt sich dann nur noch schwer unterscheiden. Das von den Individuen abstrahierende Geschehen des kapitalistischen Reichtums hat Folgen für das Individuum. Subjektive Sinnzusammenhänge sollen diese Folgen imaginär übergreifen. Der Zwischenmenschlichkeit und Familiarität wird in der modernen kapitalistischen Gesellschaft zugetraut, dass sie als „das Organische das Unorganische unmittelbar in seine organische Materie“ (Hegel 9, 485) ziehen. „Der nach aussen gehende Prozess wird so in den … der einfachen Reproduktion aus sich selbst, in das Zusammenschliessen mit sich, verwandelt.“ (Ebd., 480f.) Das Sich-geltend-Machen des Unorganischen im Organischen als dessen Störung und Verkehrung bleibt nicht aus. Gelitten wird dann an Objektivem, das nicht als solches auftritt, sondern in der Gestalt des Subjektiven. Enttäuscht sehen sich Erwartungen an die nächsten Mitmenschen und an die eigene Person.

Zudem müssen Kinder für Selbstheilungsversuche der Eltern herhalten. Das Kind dient als Ersatz für eine andere Person (für einen Elternteil, für den Gatten oder für ein Geschwister) oder für einen Aspekt des eigenen Selbst der jeweiligen Elternfigur oder wird zum Abbild schlechthin oder zum Substitut des idealen Selbst oder der negativen Identität (Richter 1969, 81). Ein Gegensatz entsteht zwischen dem, was das Kind für sich sein muss, und dem, was es für einen Elternteil sein soll. Dem Kind werden so eigene Gegensätze in seinem Empfinden und Erleben mit- und aufgegeben. Diese Gegensätze verringern ihrerseits das eigene Handlungsfeld über das bereits durch die objektiven gesellschaftlichen Widersprüche (in der erwachsenen Lebensweise) eingeschränkte Mass hinaus. Kinder kommen physisch auf die Welt, psychisch aber in eine bestimmte Familie. In ihr herrscht eine partikulare Innenwelt vor. Sie ist in ihrer besonderen Färbung und Materialität, in ihrer Privatheit und Eigentümlichkeit nur schwer in die allgemeine Verkehrssprache übersetzbar und für sie zugänglich.

Die von vielfältigen gesellschaftlichen Widersprüchen überforderten Individuen verarbeiten die individuell nicht zu verarbeitenden Widersprüche mit ihren beschränkten Bordmitteln. Fragile Identitäten, brüchige Biographien und massive Ausblendungen bleiben nicht aus. Kinder haben es mit solchen „Vorbildern“ zu tun. „Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältnis von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus.“ (Nietzsche 1886, 379)

Das Eltern-Kind-Verhältnis ist unter solchen Voraussetzungen auch der Ort massiver Manipulationen und Mystifizierungen. Was dem Kind unstimmig erscheint, lässt sich von der Wahrnehmung in die Einbildung transformieren („Das bildest Du Dir nur ein!“) oder von der Erinnerung einer Wahrnehmung in die Erinnerung eines Traumes („Das musst Du geträumt haben!“) verwandeln. Eltern können auch den Erlebnisinhalt des Kindes bestreiten und ihm statt dessen eigene Erlebnisqualitäten unterschieben („Du bist schon sehr müde und musst nun ins Bett.“) und bei Protest betonen, selbst besser zu wissen, wie der andere sich fühlt, als er selbst.

Dem Kind kann eingeredet werden, die Eltern oder ein Elternteil sage oder tue zwar etwas Verletzendes, meine es aber nicht wirklich so. Insgesamt können Eltern das Kind „glauben machen, seine emotionalen Bedürfnisse würden befriedigt, während sie eindeutig unbefriedigt bleiben; indem man solche Bedürfnisse als unvernünftig, hemmungslos oder egoistisch hinstellt, weil die Eltern nicht in der Lage oder nicht bereit sind, sie zu erfüllen; oder indem man dem Andern einzureden versucht, dass er sich nur einbildet, Bedürfnisse zu haben, sie ‚in Wirklichkeit' aber nicht hat, usw.“ (Laing 1970, 286, s. auch 284). Das Empfinden des Kindes oder Jugendlichen lässt sich als Undank verstehen: „Wie kannst du bloss unglücklich sein. Haben wir dir nicht alles gegeben, was du willst? Wie kannst du nur so undankbar sein, dass du sagst, du bist unglücklich, nach allem, was wir für dich getan haben, nach all den Opfern, die für dich gebracht worden sind?“ (Ebd., 278)

Die Schuld, die das Kind den Eltern gegenüber spürt, hat zu tun mit den Belastungen der Elternschaft unter materialiter kinderfeindlichen Bedingungen und mit dem Verfehlen jener Erwartungen, die Kinder nicht erfüllen können, die die Eltern aber an sie adressieren. All dies überformt und steigert gesellschaftsspezifisch eine in der Eltern-Kind-Beziehung ohnehin existierende Asymmetrie. „Die Eltern (haben) ein tieferes Bewusstsein von dem Zusammenhang mit ihren Kindern als umgekehrt die Kinder von dem Zusammenhang mit ihren Eltern. Und stärker ist das Band der Zugehörigkeit zwischen Verursachendem und Erzeugtem als zwischen dem Gewordenen und seiner Ursache.“ (Aristoteles) Asymmetrisch ist, „dass im Ganzen die Kinder die Eltern weniger lieben als die Eltern die Kinder; denn sie gehen der Selbständigkeit entgegen und erstarken, haben also die Eltern hinter sich, während die Eltern in ihnen die objektive Gegenständlichkeit ihrer Verbindung besitzen“ (Hegel 7, 329).

In der gegenwärtigen Gesellschaft wird im Schuldgefühl gegenüber den Eltern nicht mehr zwischen jenen Belastungen unterschieden, die mit Elternschaft immer verbunden sind, und jenen, die sich aus objektiv kinderfeindlichen Gesellschaftsstrukturen ergeben. Ausgeblendet bleiben auch Verunstaltungen des Eltern-Kind-Verhältnisses, die aus gesellschaftlich konstituierten Subjektivitätsformen resultieren.

Eine wesentliche Folge des problematischen Eltern-Kind-Verhältnisses in der bürgerlichen Gesellschaft ist das Schuldgefühl. Sozialisiert werden so „Menschen, welche von vornherein den Fehler bei sich selbst suchen. … Das in der Familie ausgebildete schlechte Gewissen fängt unendlich viele Energien auf, die sich sonst gegen die beim eigenen Versagen mitsprechenden gesellschaftlichen Zustände richten könnten. … In der Gegenwart vereitelt das zwangsmässige Schuldgefühl als andauernde Opferbereitschaft die Kritik an der Wirklichkeit…“ (Horkheimer 1970, 215) Reaktiv entsteht eine überverallgemeinerte Abwehr gegen latente Schuldgefühle. Sie fördert Abgrenzung und Selbstbezogenheit. Beide beantworten und steigern die zwischenmenschliche Misere. Andere wiederum suchen die Schuld gegenüber ihren Erzeugern bei den eigenen Kindern abzuzahlen. So oder so: Für Fortsetzung ist gesorgt.

Meinhard Creydt
streifzuege.org

Literatur

Beauvoir, Simone de 1968: Das andere Geschlecht, Reinbek bei Hamburg.

Benjamin, Jessica 1982: Die Antinomien des patriarchalischen Denkens. Kritische Theorie und Psychoanalyse, in: Bonss, W.; Honneth, Axel (Hg.): Sozialforschung als Kritik, Frankf./ M.

Dieckmann, Dorothea 1995: Unter Müttern – Eine Schmähschrift, Reinbek bei Hamburg.

Gilligan, Carol 1984: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Theorie Werk-Ausgabe, Frankf./M.

Horkheimer, Max 1970: Autorität und Familie, in: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie, Frankf./M.

Krockow, Christian Graf von 1991: Die Heimkehr zum Luxus, München.

Laing, Ronald D. 1970: Mystifizierung, Konfusion und Konflikt, in: Gregory Bateson; Don D. Jackson, Jay Haley u.a.: Schizophrenie und Familie, Frankf./M.

Nietzsche, Friedrich 1886: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1. Bd., Leibzig.

Maier, Corinne 2008: No kid. 40 Gründe, keine Kinder zu haben, Reinbek bei Hamburg.

Richter, Horst Eberhard 1969: Eltern, Kind und Neurose, Reinbek bei Hamburg.

Szczecsny-Friedmann, Claudia 1994: Die kühle Gesellschaft, München.

Vilar, Esther 1994: Heiraten ist unmoralisch, Bergisch Gladbach.