Corona und Care-Arbeit
In den vergangenen Wochen hat der Feministische Streik Basel viel über die Situation der bezahlten und unbezahlten Care-Arbeit vor und während der Corona-Krise reflektiert. Daraus ist das Careona-Manifest entstanden. Es ist nun veröffentlicht und kann auf der Website des Feministischen Streik runtergeladen werden. Das Wortspiel zeigt wie stark Corona und Care-Arbeit zusammenhängen. Über Corona wurde und wird zuhauf diskutiert – die strukturellen Bedingungen rund um die Care-Arbeit dürfen deshalb nicht aus der Diskussion ausgeklammert werden.Zusatz-Sold vs. Applaus
So unvorhersehbar das Corona-Virus war, so vorhersehbar war, dass der Umgang mit der Corona-Krise und deren Folgen geschlechtsspezifisch ist, denn es sind vor allem TINF*-Personen (trans, intergeschlechtliche, non-binäre Personen und Frauen), die Kranke, ältere Menschen und Kinder zu Hause pflegen, umsorgen und bekochen und die anfallenden Mehraufgaben übernehmen (müssen). Doch nicht nur in der Hausarbeit und der unbezahlten Care-Arbeit zeigt sich die Krise umso stärker, sondern auch in der bezahlten Care-Arbeit und in klassischen sogenannten «Frauen*-Berufen». Die gesellschaftlich unerlässlichen Aufgaben der Angestellten im Einzelhandel, Kitas oder der Pflegefachpersonen werden absolut unzureichend entlohnt.Die Allgemeinheit freut sich, denn es sind Lockerungen zu verzeichnen. Wir haben jedoch keinen Grund zur Freude, sondern sind empört, wenn wir hören, dass die Armee CHF 5.- Zusatz-Sold für die 5'000 Armeeangehörigen im Corona-Einsatz spricht und die abertausenden Care-Arbeitenden sich mit einem Applaus vom Balkon aus abfinden müssen und gleichzeitig ihre Arbeitsbedingungen verschlechtert werden! So machen wir nicht mehr weiter! Wir verlangen eine grundlegende Umverteilung von Macht, Geld, Zeit und Raum!
CAREONA MANIFEST
Unsere Arbeit ist verdammt viel wert – ohne uns steht alles still! Diese Aussage vom feministischen Streik 2019 ist heute in Zeiten der Corona Pandemie gültiger und aktueller denn je.Frauen, Inter-, Trans- und non-binäre Menschen leisten die unbezahlte Sorgearbeit zu Hause und sie arbeiten mehrheitlich in unterbezahlten Tätigkeiten wie dem Detailhandel und den sogenannt « sozialen Berufen ». Ob im eigenen Haushalt oder im Spital, im Altersheim, in der Kita, im Detailhandel – diese Arbeit wird zu 80 % von Frauen1, davon zahlreich von migrierten Frauen*, von Grenzgänger*innen, von Frauen* ohne geregelten Aufenthaltsstatus erledigt.
Ohne diese Sorge- und Versorgungsarbeit würde das Gesundheitswesen und folglich auch die Wirtschaft schlichtweg zusammenbrechen. Das wurde vielen Menschen in der Corona-Krise bewusst.
Die Haus- und Sorgearbeit2 wird überall auf der Welt tagtäglich hauptsächlich von weiblich sozialisierten Menschen geleistet und das unbezahlt und unsichtbar. Ohne diese Arbeit könnten wir alle nicht am nächsten Tag zur Erwerbsarbeit gehen, das jetzige Wirtschaftssystem würde in sich zusammenbrechen: ohne Kochen kein Essen, ohne Reinigung und Pflege kein Wohlbefinden und ohne Zuwendung keine Beziehung. Diese reproduktive und soziale Arbeit, die unbezahlt geleistet wird, wird von der Gesellschaft als „natürlich“ angesehen und von der Wirtschaft als „wertlos“ taxiert.
Doch weil von unserer geleisteten Care-Arbeit (bezahlt wie unbezahlt) nicht nur unser eigenes Wohlbefinden, sondern auch das unserer Familie oder der von uns beruflich betreuten Menschen (meist vulnerable wie Kinder, psychisch oder physisch kranke Menschen oder Armutsbetroffene usw.) abhängt, machen wir unermüdlich weiter.
Das gesellschaftliche Modell - das allerdings nie der Realität der Mehrheit der Menschen entsprach - war lange orientiert am Ideal eines Vollzeit-arbeitenden Mannes mit Alleinernährer-Lohn und einer Frau, die als unbezahlte Dienstleistung die Hausarbeit erledigte.
Auch das alte Rentenmodell zielte darauf ab und brachte dadurch die Frau* in eine ökonomische Abhängigkeit zum Mann*.
Seit den 1970ern gehen einerseits Frauen* zunehmend einer Erwerbsarbeit nach, andererseits sind sie nach wie vor für die grosse Mehrheit der Haus- und Sorgearbeit zuständig, wodurch sie einen doppelten Arbeitsalltag haben, weil keine Anpassungen der Geschlechterrollen oder Arbeitsorganisation stattgefunden hat. Der daraus resultierende Stress und die Arbeitsüberlastung schädigen die Gesundheit der Frauen*: Überlastungserscheinungen, Burnout, innere Erschöpfung können Folgeerkrankungen hervorrufen wie Depressionen, Übergewicht, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen sowie Atemwegserkrankungen.
Die neoliberale Sparpolitik der 1990er Jahre hat dazu geführt, dass im Care-Bereich immer offensichtlicher die Problematik: Profit versus Betreuung und gesundheitliche Versorgung erkennbar wurde. Die aktuelle Politik der Steuersenkungen, Privatisierungen und Budget-kürzungen zielt noch jetzt auf weiteren Abbau statt auf Ausbau der sozialen Leistungen, der Sozialen Arbeit, des Gesundheitswesens und der Kinderbetreuung [1] 3.
Die Folge: äusserst prekäre Arbeitsbedingungen und Missstände in der ausserhäuslichen Betreuung (Personalmangel, Fallpauschalen-System in den Spitälern, Zeitmanagement bei der Alten- und Patient*innenversorgung, Platzmangel in den Frauenhäusern, Unterfinanzierung, Spardruck u.a. mehr). Nicht vergessen dürfen wir dabei die Menschen, insbesondere die Frauen*, die wegen ihrer Migration, Flucht oder Papierlosigkeit nur eingeschränkte, prekäre Möglichkeiten und Rechte haben und somit auf Unterstützung angewiesen sind. Gesundheitsversorgung wird zum Kostenfaktor und Gesundheit zur Ware, mit der Profit gemacht werden soll. Das war schon vor der Corona-Krise so, jetzt wird es umso sichtbarer, doch wir lassen uns das nicht weiter gefallen.
Corona-Krise verschärft die Situation
So unvorhersehbar das Corona-Virus war, so vorhersehbar war, dass der Umgang mit der Corona-Krise und deren Folgen geschlechtsspezifisch ist, denn es sind vor allem Frauen*, die Kranke, ältere Menschen und Kinder zu Hause pflegen, umsorgen und bekochen und die anfallenden Mehraufgaben übernehmen (müssen).Doch nicht nur in der Hausarbeit und der unbezahlten Care-Arbeit zeigt sich die Krise umso stärker, sondern auch in der bezahlten Care-Arbeit und in klassischen sogenannten «Frauen*-Berufen».
Die gesellschaftlich unerlässlichen Aufgaben der Angestellten im Einzelhandel, Kitas oder der Pflegefachpersonen werden absolut unzureichend entlohnt. Genau diese Berufsgruppen sind jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie noch mehr am Limit, ihre Arbeitsbedin-gungen werden verschärft, wie beispielsweise erhöhte Arbeitszeiten, vorgeschriebene Einschränkungen in sozialen Kontakten oder unzureichender Schutz vor Ansteckung [2] & [3].
Ohne ausländische Pflegekräfte wäre das schweizerische Gesundheitssystem in dieser Corona-Zeit völlig zusammengebrochen. Tausende von Grenzgänger*innen arbeiten tagtäglich in Spitälern in der Pflege aber auch in der Reinigung. Ebenso unverzichtbar und zudem unsichtbar sind die zahlreichen 24-Stunden Pflegerinnen, mehrheitlich aus osteuropäischen Ländern, welche rund um die Uhr (alte) Menschen in Schweizer Privathaushalten zu meist miserablen Bedingungen betreuen [4].
Nicht nur die geringe Wertschätzung der Care-Arbeit und die Verschärfung von prekären Situationen im Berufsalltag von Frauen sind empörend. Frauen sind in dieser speziellen Situation durch Quarantäne-Massnahmen auch einem erhöhten Risiko von häuslicher Gewalt ausgesetzt [5]. Auch in der Schweiz haben solche Fälle bereits zugenommen [6].
Für die einen ist das Eigenheim kein sicherer Ort mehr, während die anderen gar kein Eigenheim haben, weil es finanziell einfach nicht möglich ist. Gerade in der Corona-Zeit wird uns allen deutlich vorgeführt, wie wichtig eine eigene Wohnung bzw. ein sicherer Raum für den Rückzug ist. «Stayathome» geht nicht ohne Zuhause [7]. Menschen ohne eigene Wohnung oder welche in Asylunterkünften leben müssen, haben nicht viele Möglichkeiten sich an die Anweisungen vom BAG zu halten. Wegen der Angst vor einer Ansteckung geht selbst die Möglichkeit verloren, einmal bei Bekannten oder bei Freund*innen zu übernachten. In Asylunterkünften sind die Menschen den Anweisungen der Behörden ausgeliefert und haben kaum Möglichkeiten sich autonom zu bewegen und gegen das Virus zu schützen [8] & [9].
Die aktuelle Sondersituation katapultiert uns aus unseren gewohnten Strukturen. Wir wurden gezwungen, einen Schritt zurückzutreten - und jetzt wird deutlich sichtbar, wo der Missstand liegt:
- die Luftfahrt mit 1,875 Milliarden [10]
- die Armee mit CHF 5.- Zusatz-Sold für die 5000 Armeeangehöre im Corona-Einsatz [11]
- die Fleischwirtschaft mit 6,1 Millionen [12]
- die Care-Arbeitenden mit Applaus!
Forderungen
Wir sind nicht mehr bereit das aktuelle System mit seiner Verteilung von Macht, Geld, Zeit und Raum zu akzeptieren, sondern fordern eine solidarische, basisdemokratische, ökologische, diskriminierungsfreie und umsorgende Gesellschaft ohne Maximierung von Profiten.Umverteilung von Macht
1. Der Care-Bereich soll sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Der Care-Bereich darf nicht nach kommerziellen Prinzipien der Wirtschaftlichkeit wie die Güterproduktion funktionieren! Menschen sind keine Waren!2. Wir fordern den Einbezug der Kompetenzen der Arbeitenden durch ein Mitbestim-mungsrecht zur Art und Weise, wie betreut, gepflegt, unterrichtet und gereinigt wird.
3. Gesellschaftlich unerlässliche Infrastrukturen wie Spitäler, Pflegeheime, Kitas müssen als Service Public organisiert sein und als bedürfnisorientierte Dienstleistungen allen zur Verfügung stehen.
4. Keine Toleranz gegenüber physischer und struktureller Gewalt aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe oder der Sexualität.
5. Dort wo Menschen leben und arbeiten, muss ihr Aufenthalt gesichert und ihre politischen Rechte müssen garantiert sein. Ein ernstgemeinter Applaus fordert daher die dringende Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse von Care-Arbeitenden, u.a. mit geregeltem, unabhängigem, gesichertem und auch verbessertem Aufenthalts- oder Bürgerrecht und die Garantie der politischen Teilnahme.
Umverteilung von Geld
1. Wir fordern die ausreichende staatliche Finanzierung und den Ausbau des ausserhäuslichen Gesundheits-, Bildungs-, Sozial- und Betreuungswesens als Service Public (Frauenhäuser, Kitas usw.)! Es braucht mehr Geld für mehr Personal, mehr Lohn (nicht nur als Pandemiezulage) und bessere Infrastrukturen.2. Wir fordern eine Bedarfsfinanzierung anstelle von Fallpauschalen und Betreuungsschlüsseln im Gesundheits-, Bildungs-, Sozial-, Migrations- und Betreuungswesen.
3. Wir fordern Betreuungsgutschriften in den BVG-Renten analog zur AHV, weil wir u. a. wegen der Sorgearbeit auf Vollzeitarbeit verzichten müssen und/oder wollen.
4. Wir fordern die öffentliche Finanzierung von ausreichend Plätzen und Personal in Frauenhäusern entsprechend der Istanbul-Konvention und die Verschärfung des Wegweisungsrechts bei häuslicher Gewalt.
5. Die Finanzierung muss durch eine Umverteilung der Einkommen, Vermögen und des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums erfolgen.
Umverteilung von Zeit
1. Wir fordern eine gerechte und substantielle Reduktion der Erwerbsarbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn. Familiäre und soziale Verantwortung fordert eine zeitliche Entlastung bei der Erwerbsarbeit. Dies dient unserer Gesundheit, einem besseren Leben und einer gerechteren Verteilung der häuslichen und sozialen Arbeit.2. Solidarische und selbstbestimmte Aufteilung der Care-Arbeit: Statt die Care-Arbeit dem privaten Rahmen der Kleinfamilie zuzuordnen, sollte sie von allen Teilen der Gesellschaft kollektiv getragen werden.
3. Wir fordern Zeit, um ohne Druck Care-Arbeit auszuüben: Der Zeitdruck in der Betreuung und Pflege von Kindern, älteren und kranken Menschen muss behoben werden. Wir fordern mehr Personal und die Eingliederung in den öffentlichen Dienst.
4. Wir fordern Ausbildungslösungen, die Menschen mit Doppelbelastung durch Haushalts- und Kinderarbeit zeitlich und finanziell gerecht werden.
5. Wir fordern, dass Menschen, die in Zusammenhang mit ihrer Flucht oder zur Sicherung ihres Aufenthalts Beratung und Unterstützung benötigen, diese zeitlich und umfassend gewährt wird. Der besonderen Lebenssituation dieser Menschen und den Folgen von Flucht muss die Beratung gerecht werden können.
Umverteilung von Raum
1. Wir fordern mehr Platz im öffentlichen Raum für die Care-Arbeit, für Kinder, ältere Menschen und ihre Betreuer*innen mittels einer Umgestaltung von Strassen und zubetonierten Flächen zu Spielplätzen, Parkanlagen, Cafés und Sitzbänke.2. Wir fordern die Sichtbarkeit und zentrale Plätze für die Sorgearbeit. Entsprechende Institutionen dürfen nicht an die Ränder abgeschoben werden (z.B. Asyleinrichtungen, Drogenabgabestellen). Sie müssen gut erreichbar sein mit ÖV und zu Fuss – auch für gehbehinderte Menschen.
3. Wir fordern Raum für geflüchtete Menschen und die Sicherstellung von menschenwürdiger Unterbringung und die Gewährleistung aller Schutzmassnahmen gegen Corona.
4. Alle Menschen haben ein Anrecht auf eine ihrem Bedarf entsprechende Wohnung und Schutz vor Vertreibung und Verdrängung. Dieses Recht darf nicht der Wirtschaftlichkeit unterliegen.