Gesellschaft
Gesellschaft ist der Vermittlungszusammenhang, in dem wir vorsorgend unsere Lebensbedingungen herstellen. Dazu gehören alle Tätigkeiten, die die Menschen für notwendig erachten. Ökonomie ist ein Sonderbereich in der Gesellschaft, in dem bestimmte Güter und Dienste in einer bestimmten, vom Rest der Gesellschaft getrennten Form der Vermittlung produziert werden. Diese Form ist die der getrennten Produktion von Waren, die getauscht werden. Wert, Markt, Staat usw. sind abgeleitete Formen dieser Sondervermittlung, in der etwa ein Drittel der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten erledigt werden. Die anderen zwei Drittel der nötigen Tätigkeiten werden nicht-ökonomisch durch personale Vermittlung der Menschen selbst geschaffen. Gesellschaftliche Transformation heisst, die Sphärenspaltung aufzuheben und nicht, die Ökonomie in der Spaltung mittels der abgespaltenen Politik zu modifizieren.Ausgangspunkt des Keimform-Ansatzes ist die Gesellschaft, nicht die abgespaltene Ökonomie, ist ein unreduziertes Verständnis der schlichten Tatsache, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen selbst herstellen. Das gilt für alle Lebensbedingungen, soziale wie stoffliche, und für alle Epochen. Das begründet auch die Notwendigkeit einer Geschichtsphilosophie. Diese fragt danach, wie die unterschiedlichen historischen Formen, die Lebensbedingungen vorsorgend herzustellen, auseinander hervorgehen. Denn dass sie zusammenhängen, bestreiten auch jene nicht, die eine Geschichtsphilosophie ablehnen.
Die Ablehnung einer Geschichtsphilosophie rührt vermutlich aus der unreflektierten Gleichsetzung mit einem Geschichtsautomatismus. Geschichte verläuft jedoch nicht automatisch, sondern sie wird von den Menschen gemacht. Dieses Machen ist jedoch nicht beliebig, sondern das Tun der jeweiligen AkteurInnen hängt von den bereits entwickelten historischen Möglichkeiten wie auch Begrenzungen ab. Der Keimform-Ansatz beantwortet die Frage, ob denn heute die Möglichkeiten für eine freie Gesellschaft vorhanden sind, mit einem Ja. Eine Garantie, ob diese Möglichkeiten auch ergriffen werden und zum Erfolg führen, gibt es dennoch nicht.
Fünf Schritte
Die Transformation zu einer freien Gesellschaft lässt sich in fünf Schritten denken. Mit diesen fünf Schritten soll begriffen werden, wie in einem betrachteten System qualitativ Neues aus einem vorherrschenden Alten entstehen und sich schliesslich durchsetzen kann. Es handelt sich eigentlich um ein retrospektives Verfahren, bei dem das „Ergebnis“ des Entwicklungsprozesses bekannt ist und den Ausgangspunkt bildet, um den Werdens- und Durchsetzungsprozess zu rekonstruieren. Für die hier diskutierte Frage versetzen wir uns gedanklich an die Stelle des abgeschlossenen Transformationsprozesses, um die fünf Schritte dorthin zu rekonstruieren. Wir nehmen also an, wir kennen die Elementarform einer neuen Vergesellschaftung (vgl. dazu den Artikel „Keimform und Elementarform“).1. Keimform
Etwas Neues entsteht zuerst immer in Nischenbereichen der Gesellschaft. Als Keimform wird nun nicht die konkrete Nischenerscheinung bezeichnet, sondern nur das soziale Prinzip, das sie verkörpert. Im hier betrachteten Fall ist das die Form der Herstellung der Lebensbedingungen, die keinen Tausch erfordert, also keine Warenproduktion ist. Dafür hat sich der Begriff der Peer-Commons verbreitet, es gibt aber auch andere Bezeichnungen (etwa commons-basierte Peer-Produktion). Die Keimform als neues soziales Prinzip der Re-/Produktion kann sich in verschiedener Gestalt zeigen. Das muss auch so sein, hat sie doch allgemeinen Charakter. Das soziale Prinzip ist also nicht wie noch im Kapitalismus begrenzt auf einen Sonderbereich der Gesellschaft – jenen, den man Ökonomie nennt –, sondern Realisationen der Keimform (kurz: Keimformen im Plural) zeigen sich überall in der Gesellschaft. Das empirische Faktum, dass neue Commons in allen Bereichen entstehen, wo Menschen gemeinschaftlich Lebensbedingungen schöpfen, ist ein starker Indikator für ihre Potenz zur gesamtgesellschaftlichen Verallgemeinerung. Aber dazu kommt es nur, wenn eine zweite Bedingungen hinzutritt: die Krise des alten Prinzips.2. Krise
Solange das alte soziale Prinzip – Warenproduktion in einer ökonomischen Sondersphäre plus Politik plus Restproduktion in der nichtökonomischen, abgespaltenen Sphäre – funktioniert, jedenfalls im Sinne der Erhaltung der Systemkohärenz, gibt es keinen Grund, dass sich ein neues soziales Prinzip durchsetzt. Geht die Kohärenz aufgrund von Krisen verloren, so können die Keimformen eine neue Rolle spielen. Die Multi-Krise des globalen Kapitalismus ist handgreiflich, ihre Verlaufsformen unbekannt.3. Funktionswechsel
Die Keimformen machen nun einen Funktionswechsel durch. Dieser Schritt ist der eigentlich interessante und der für das Denken herausfordernde. Ohne Dialektik ist hier kein Durchblick möglich. Funktionswechsel heisst, dass die Keimformen ihren Nischenstatus schrittweise verlieren und zur überlebensrelevanten Dimension in der alten Form der Systemerhaltung werden. Gleichzeitig gehen sie nicht in der alten Form der Warenproduktion auf, sondern erhalten ihr qualitativ andersartiges soziales Prinzip aufrecht, weil sie sonst nicht funktionieren würden. Ihre doppelte Funktionalität besteht also in der Gleichzeitigkeit von Nutzbarkeit für das Alte und Inkompatibilität zur sozialen Logik des Alten.Unfruchtbar sind Diskussionen, die entweder die völlige Inkompatibilität zur alten Warenlogik fordern oder ihr völliges Aufgehen in der Warenproduktion bereits für ausgemacht halten. Es kann nicht anders sein, als dass die konkreten Realisationen des neuen Prinzips stets beide Momente enthalten: Sie können ihre neue Funktion zum Vorteil der alten Logik nur erfüllen, weil sie diese nicht sind, weil sie aufgrund ihrer qualitativ anderen sozialen Funktionsweise produktive und innovative Quellen erschliessen, die der normalen Warenlogik verschlossen sind. Sonst würden sie nicht gebraucht werden, doch der Kapitalismus kann nicht mehr ohne sie existieren.
Mehr noch: Die neuen Möglichkeiten werden nicht nur von aussen aus den Nischenbereichen in das Zentrum hineingetragen, sondern auch das Kapital als Zentrum der Warenproduktion entdeckt und entwickelt die neue soziale Logik in den eigenen Mauern. Es importiert damit auch jene Formen, die der Kapitalverwertung nicht mehr bedürfen und sie in den Schranken der Verwertung bereits überschreiten. Der Forscher Michel Bauwens spricht vom „vernetzten Kapital“, das sich aufgrund der Konkurrenz zur offenen Kooperation mit Akteuren ausserhalb der Warenproduktion genötigt sieht. Für sie gilt: Offenheit schlägt Geschlossenheit. Wer offen ist, kann mehr Wissen und menschliche Ressourcen an sich ziehen als diejenigen, die sich zwar gerne einseitig das Wissen aneignen wollen, aber die Ergebnisse wegschliessen und proprietär vermarkten.
Aber auch in den Kernbereichen der Warenproduktion werden immer mehr Formen der (limitierten) Offenheit, Beteiligung und Selbstgestaltung der Arbeit eingeführt, die gleichwohl – und das macht ihre Widersprüchlichkeit aus – unter den Imperativen der Verwertbarkeit stehen. Wer aber hier nur die (auto-)repressive Seite der Entwicklung wahrnimmt, übersieht, dass das Kapital damit gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Warenform schafft: jene Individualitäten, die sich ohne fremde Logik auf eigener Grundlage unbeschränkt entfalten könnten. Das Kapital schafft mit den „Produktivkräfte(n) und gesellschaftlichen Beziehungen“ als „verschiedene(n) Seiten des gesellschaftlichen Individuums“ jene „materiellen Bedingungen, um sie [die bornierte kapitalistische Produktionsweise, SM] in die Luft zu sprengen“, formuliert Marx zugespitzt (Grundrisse, 602).
4. Dominanzwechsel
„Bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen“ (ebd., 601), dann kommen jene Seiten des Widerspruchs zur Geltung, die bisher sich nur in den Schranken der fremden Logik der Verwertung entwickeln konnten, und es kommen jene Peer-Commons zur Geltung, die sich bislang der alten Marktlogik unterordnen mussten, und es kommt jene Selbstentfaltung der Individuen zur Geltung, die sich bislang im heftigen Widerspruch zur Selbstverwertung beschränken lassen musste. Wie der Dominanzwechsel, der qualitative Umschlag zur Durchsetzung einer globalen Peer-Commons-Produktion verläuft, kann niemand voraussagen, noch ihn überhaupt garantieren. Die Potenz zur globalen Vergesellschaftung durch globale Produktivkräfte jenseits der Warenform ist eben gleichzeitig die Potenz zur globalen Zerstörung der Überlebensgrundlagen der Menschheit.5. Umstrukturierung
Haben sich einmal die polyzentrisch strukturierten, stigmergisch vermittelten Peer-Commons (vgl. Kasten) durchgesetzt und hat sich die gesamte Gesellschaft nach diesem Prinzip umstrukturiert, wird es schwerfallen, den nächsten Generationen den Irrwitz der Warenproduktion auch nur ansatzweise verständlich zumachen. Wird einmal gemeinschaftlich vernetzt und bedürfnisorientiert alles geschaffen, was Menschen brauchen und wünschen, und dies auch noch in einer Weise, mit der nicht die Zukunft irreversibel zerstört wird, dann kann niemand mehr verstehen, warum vor die Bedürfnisse das Geld gesetzt wurde und warum die Menschen eine Umweginstitution wie den Markt brauchten, um die Verteilung von künstlich verknappten Befriedigungsmitteln zu bewerkstelligen. Jede Normalität ist eine historisch-spezifische. In einer freien Gesellschaft wird der Freiheitsimperativ überall greifen. Freiheit bedeutet, durch nichts anderes mehr bestimmt zu sein als durch sich selbst, Freiheit ist universelle Selbstbestimmung.Die fünf Schritte beschreiben nicht notwendig eine zeitliche Abfolge, sondern geben die logischen Komponenten einer qualitativen Transformation eines ganzen Systems an. Der Dominanzwechsel kann zwar logisch und damit auch zeitlich nicht vor dem Funktionswechsel stattfinden, aber das Auftreten von Keimformen, die Krise des alten Systems und der Funktionswechsel können einander durchaus zeitlich durchdringen. So sind Keimformen als konkrete Realisationen eines neuen sozialen Prinzips in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft unterschiedlich weit entfaltet. Nicht zufällig traten Formen der Peer-Commons zuerst im Kontext von Immaterialgütern (Software, Wissen, Kultur etc.) auf, die mit geringem Aufwand kopierbar sind. Aber weil es sich um ein verallgemeinerbares neues soziales Prinzip der Re-/Produktion handelte, um die Keimform einer neuen Produktionsweise, weiteten sich die Peer-Commons auch auf den Bereich der stofflichen Güter aus. Machtfragen
Der Keimform-Ansatz bietet ein analytisches Repertoire zum Verstehen konkreter Situationen. Für unsere Situation ist der Begriff der doppelten Funktionalität zentral (siehe Kasten). Er vermeidet Dichotomisierungen und bleibt scharf für das Wahrnehmen der Widersprüche. Einer der meist geäusserten Einwände gegen den Keimform-Ansatz ist die „Machtfrage“. Dabei gibt es sie nicht, „die“ Machtfrage, sondern es gibt sie nur im Plural: Machtfragen.
Die wesentliche Handlungsmacht der Privilegierten beruht auf dem Funktionieren der alten Waren- und Geldlogik und der Aneignung der Ergebnisse fremder Arbeit. Wenn diese Logik und damit auch die Aneignung und Ausbeutung nicht mehr funktionieren, nutzen auch Gewaltapparate nicht mehr viel. Wenn der Sold nicht mehr fliesst oder Geld keine existenzsichernde Funktion mehr hat, lösen sich Gewaltapparate auf. Die wesentliche Macht ist dann die Handlungsmacht derjenigen, die auf neue Weise die Lebensbedingungen herstellen.
Keine Frage: Zerfallende Regimes ziehen auch immer viele Menschen mit in den Untergang. Und auch die Wiederentstehung archaischer Formen von Herrschafts- und Gewaltstrukturen (etwa der Islamismus) angesichts der zurückgehenden Integrationskraft zerfallender „normaler“ kapitalistischer Warenproduktion bedroht kooperativ-solidarische Formen der Produktion von Lebensbedingungen. Das ist jedoch kein Prozess, der notwendig mit dem Entstehen von Keimformen zu tun hat, und er lässt sich auch heute schon kaum noch aufhalten in der alten Form der „nachholenden Modernisierung“. Hier gibt es keine einfachen Antworten.