UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Kritik der Aufklärung

239

Acht Thesen Kritik der Aufklärung

users-677583-70

Gesellschaft

Spätestens seit der „Dialektik der Aufklärung“ wissen wir um die irrationale Rückseite der Aufklärungsvernunft. Den Ursprung dieser Janusköpfigkeit verorten Horkheimer und Adorno in der misslungenen Ablösung von der Natur.

Kritik der Aufklärung.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Kritik der Aufklärung. Foto: Alex Proimos (CC BY-NC 2.0 cropped)

Datum 18. Dezember 2012
2
0
Lesezeit11 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Die moderne, rationale Vernunft, deren Geburt sie im antiken Griechenland ansiedeln, sei entstanden zur Bewältigung der Angst vor den Mächten der Natur und in Abgrenzung vom Mythos, der seinerseits auch eine erste Form des Umgangs mit jener Angst darstellte. Trägt der Mythos aber noch die Züge einer Anpassung an die Natur und ihre Gewalten (Mimesis), so stellt die Aufklärung eine klare Abgrenzung von dieser dar.

1.

Die Entstehung des selbstidentischen, rationalen Individuums beruht auf der Verleugnung der eigenen Naturverhaftetheit und genau diese Verleugnung ist die Quelle der Gewalt und des Irrationalen, konstituiert also die dunkle Seite der Aufklärung, die jederzeit zum Durchbruch kommen kann. Im Kern besteht die Gefahr in der gewaltsamen Wiederkehr des Verdrängten. Daher bleibe die Aufklärung und die auf ihre beruhende Gesellschaft prekär. Erst wenn die Individuen und die Gesellschaft auf das Verdrängte reflektieren und eine Versöhnung mit der inneren und äusseren Natur stattfinde, sei die Aufklärung vollendet.

2.

Das qualitativ Neue an der Dialektik der Aufklärung ist der Blick auf das „Andere der Vernunft“ und die Bedrohung, die darin angelegt ist. Zwar ist auch dem vulgären Aufklärungsdenken nicht verborgen geblieben, dass die Vernunft stets vom möglichen Durchbruch des Irrationalen bedroht ist, doch interpretiert es dies auf rein legitimatorische Weise. Von seinem Standpunkt aus stellt es sich so dar, dass hinter dem dünnen Firnis der Kultur stets die primitive „Natur des Menschen“ lauere, die immer wieder ihr gruseliges Gesicht zeige und daher permanent bekämpft und unterdrückt werden muss.

Mit einer Selbstkritik der Aufklärung hat das erkennbar nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Beschwörung des unversöhnlichen Gegensatzes von Natur und Kultur stellt nichts anderes dar als die Affirmation des eigenen Standpunkts. Herrschaft (und individuelle Selbstbeherrschung) sind notwendig, um die unbändigen Naturkräfte zu bannen und ihren Durchbruch zu verhindern. Mühelos lässt sich das mit einem rassistischen und westlich-kulturalistischen Standpunkt vereinbaren, von dem aus alle anderen, nicht-westlichen Kulturen als besonders natur- und sinnenverhaftet erscheinen, die dementsprechend – notfalls mit Gewalt – „zivilisiert“ werden müssen.

3.

Die dialektische Wendung bei Horkheimer/Adorno besteht darin, dass sie diese Denkfigur gegen die Aufklärung selbst kehren. Nicht die Natur oder das Barbarische in der Natur sehen sie als Bedrohung für die Kultur, sondern die gewaltsame Verdrängung und Unterdrückung des Natürlichen. Gewaltsamkeit und Herrschaftsförmigkeit sind also in der modernen Vernunft selbst angelegt, die naturverhaftet insofern ist, als die Ablösung von der Natur (vorerst) misslang.

So sehr nun aber Horkheimer/Adorno damit den Blick für eine grundlegende Kritik der Aufklärung öffnen, bleiben sie doch in mancher Hinsicht deren Denkuniversum verhaftet. Das betrifft vor allem den Begriff der Aufklärungsvernunft selbst, der in der Dialektik der Aufklärung transhistorisch gefasst wird. Indem Horkheimer/Adorno den Ursprung der modernen Rationalität in die griechische Antike zurückverlegen, statt ihn im Konstitutionsprozess der kapitalistischen Moderne zu verorten, verwischen sie damit deren spezifisch historische Züge. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass vor der Entstehung der modernen Vernunft die gesamte Menschheit im Dunkel der Naturhaftigkeit gelebt habe oder dem „Mythos“ verfallen gewesen sei. Die moderne, rationale Vernunft wird so als die bisher einzige Form von Vernunft gefasst. Darin verbleiben Horkheimer/Adorno dem hypertrophen Universalismusanspruch der Aufklärung verhaftet und werten sie als die einzige bisher bekannte Form von Vernunft bzw. reflexivem und kritischem Denken auf. Allerdings: Indem sie den Blick auf die dunkle Seite der Aufklärung richten, gehen sie auch bereits über die Aufklärung hinaus.

4.

Betrachten wir nun aber die Aufklärungsvernunft als das, was sie ist, als historisch spezifische Reflexionsform der kapitalistischen Moderne, stellt sich nicht nur ihre Konstitutionsgeschichte, sondern auch ihre innere Dialektik anders dar als bei Horkheimer/Adorno. Die gewaltsame Abgrenzung gegenüber der Natur und der Herrschaftsanspruch gegenüber der Natur (oder dem, was als Natur erscheint) sind in der Tat konstitutive Momente. Diese Abgrenzung steht jedoch nicht zu Beginn des vernünftigen Denkens und Reflektierens überhaupt, sondern entsteht erst mit der Geburt der bürgerlichen Gesellschaft. Der Horror vor der Natur ist wesentlich für das Konstrukt einer Vernunft, die das Denken auf pure, körperlose und sinnenfreie Aktivität reduzieren will (Descartes, Kant). Doch diese Reduktion ist nicht Ausdruck einer ursprünglichen Naturabgrenzung, sondern resultiert aus der Zurichtung der gesellschaftlichen Vermittlung auf das abstrakte Prinzip von Wert und abstrakter Arbeit.

Die Aufklärung „erfindet“ also jene bedrohliche Natur, von der sie sich dann gewaltsam abgrenzen muss, wobei diese „Erfindung“ einen unbewussten Akt darstellt. Damit ist keinesfalls nur die „äussere Natur“ gemeint, die mittels Technik nutzbar gemacht und zugerichtet wird. Bedeutsamer noch für die Konstitution des modernen (strukturell als „männlich“ bestimmten) Subjekts ist der gewaltsame Kampf gegen die „innere Natur“, also gegen das vorgebliche Ausgeliefertsein an die eigene Sinnlichkeit. Diese wird abgespalten und auf konstruierte „Andere“ projiziert: die „Frauen“ und die „Naturvölker“, und in diesen „Anderen“ zugleich idealisiert und verachtet, begehrt und bekämpft. In diesem Sinne sind Sexismus und Rassismus untrennbar mit der Konstitution des Subjekts der Aufklärung verbunden.

5.

Damit verändert sich der Standpunkt der Aufklärungskritik. Die Aufklärung stellt sich dar als durch und durch der kapitalistischen Form abstrakter Herrschaft zugehörig und nicht als (vorerst) tragisch-missglückter Schritt in der Konstitutionsgeschichte einer transhistorischen Vernunft. Diese historische Verortung erlaubt eine sehr viel präzisere und schärfere Kritik von Aufklärung und Gegenaufklärung, die auf den kapitalistischen Entwicklungsverlauf bezogen werden kann. Das schliesst jedoch keinesfalls aus anzuerkennen, dass bestimmte Kategorien der Aufklärung durchaus Momente gesellschaftlicher Befreiung enthalten.

So steht etwa das Individuum für die Befreiung aus der Enge festgefügter traditioneller Normen und Lebensverhältnisse; der Universalismus verweist auf eine Weltgesellschaft ohne Grenzen; und der Anspruch der kritischen Vernunft, alle unhinterfragten Wahrheiten und religiösen Gewissheiten über den Haufen zu werfen, ist als solcher selbstverständlich zu bejahen. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Momente stets in Kategorien eingelassen sind, die in ihrer Gestalt die Strukturen der abstrakten Herrschaft des Werts reproduzieren.

Das kapitalistische Individuum ist wesentlich Konkurrenzindividuum, das an sich selbst und den anderen Gesellschaftsmitgliedern den Prozess der Versachlichung exekutiert; der abstrakte Universalismus ist seinem inneren Charakter nach universeller Herrschaftszusammenhang der abstrakten Formbeziehung, nicht nur in Gestalt des Weltmarkts, sondern auch in Gestalt der kapitalistischen Handlungs- und Denkformen; und die kritische Vernunft legitimiert die Unterwerfung unter Prinzipien a priori (Kant, Hegel) und kann sich daher nicht von der Metaphysik befreien, sondern stellt eine Form säkularisierter Religion dar. Hinzu kommt des Weiteren noch, dass diesen Kategorien immer auch ihr abgespaltenes Gegenbild zugehört, von dem sie nicht loskommen, solange sie innerhalb der Matrix abstrakter Herrschaft verbleiben: der Wunsch nach der lustvollen Unterwerfung unters Kollektiv, die Abspaltung des Sinnlichen, das als inferior und bedrohlich zugleich gilt und allenfalls selbst wieder instrumentell integriert wird, die verschiedenen Formen des Religionismus und des Irrationalismus etc.

6.

Emanzipatorisches Denken kann sich daher nicht ungebrochen positiv auf die Kategorien der Aufklärung beziehen, auch nicht in dem Sinne, die Aufklärung bleibe im Kapitalismus unvollendet und es komme darauf an, sie zu vollenden, wie es sich die traditionelle Linke vorstellte und wie es durch all jene (weit verbreiteten) Vorstellungen spukt, wonach die „wahre Demokratie“ und die Menschenrechte nur in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft realisiert werden könnten. Wird nämlich die Aufhebung des Kapitalismus als Verwirklichung der Aufklärung gedacht, schleichen sich hinterrücks alle damit verbundenen Denk- und Handlungsformen und darauf beruhenden Formen der gesellschaftlichen Vermittlung wieder in die Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft ein (Subjekt, Gleichheit, Recht).

Demgegenüber ist darauf zu beharren, dass auch die Aufklärung nicht von der Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft ausgenommen werden darf. Die in der Aufklärung enthaltenen Momente, die auf gesellschaftliche Befreiung verweisen, sind nur durch die Kritik der Aufklärung und ihrer Kategorien hindurch zu haben. Diese sind nicht zu „verwirklichen“, sondern müssen zusammen mit der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise aufgehoben werden, aufgehoben im dreifachen Hegelschen Sinne.

Dabei ist des Weiteren auch zu bedenken, dass nicht alles, was an tendenziell bewahrenswerten Momenten in der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist, „der Aufklärung“ als Verdienst zugerechnet werden darf. Ein erheblicher Teil davon ist aus der Kritik der kapitalistischen Herrschaftsformen entstanden, auch wenn es nicht selten in den Kategorien von Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten eingeklagt und erkämpft wurde. Zur Aufklärung gehört auch eine andere Dialektik, wonach immer Anspruch und Wirklichkeit gegeneinander ausgespielt werden, also etwa staatliche Gewalt im Namen der Menschenrechte kritisiert wird (obwohl doch der Staat die Aufgabe hat, die kapitalistischen Formen notfalls mit rücksichtsloser Gewalt aufrechtzuerhalten) oder die faktische Entmündigung der Gesellschaft durch die blinden Prozesse der Verwertungslogik im Namen der Demokratie.

In der traditionellen Linken wurden diese Art von Anklagen im allgemeinen als idealistisch kritisiert und argumentiert, sie spielten das Ideal gegen die Wirklichkeit aus. Als materialistisch galt hingegen der Standpunkt, die Bourgeoisie habe ihre eigenen Ideale verraten, um ihre Klassenherrschaft zu festigen, und es komme nun darauf an, die an sich richtigen Prinzipien der Aufklärung im Sozialismus oder Kommunismus zu verwirklichen (s.o.; auch Adorno argumentiert übrigens so, nur dass er wenig Hoffnung in die kommunistische Bewegung setzt).

7.

Vom Standpunkt einer radikalen Aufklärungskritik stellt sich die Sache etwas anders dar: wo die kapitalistische Wirklichkeit im Namen von Aufklärung und Menschenrechten kritisiert wird, sind nicht selten überschüssige Impulse und Motive gesellschaftlicher Emanzipation im Spiel, die keineswegs in den Kategorien der Aufklärung aufgehen, auch wenn diese angerufen werden. Dieser Überschuss war durchaus ein wichtiger Motor für die kapitalistische Modernisierung; freilich war stets die Enttäuschung vorprogrammiert. Denn was verwirklicht wurde, war im Wesentlichen immer nur jener Teil der Vorstellungen, der sich mit der kapitalistischen Logik vereinbaren liess und in deren Formen eingepasst werden konnte. Ein Beispiel dafür ist der Individualisierungsschub der letzten vierzig Jahre, der zwar die erdrückende Enge der Nachkriegszeit hinweggefegt hat, doch zugleich eine Verschärfung der atomisierten Konkurrenz und der Selbstzurichtung zur Folge hatte, die unerträglich ist.

Zunächst wurde das noch teilweise durch die relativ günstigen sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in den kapitalistischen Zentren abgepuffert, was gewisse Spielräume individueller Entfaltung eröffnete, die nicht einfach und in Gänze als kapitalistisch funktional abqualifiziert werden können. Dass diese gesellschaftlichen Bedingungen denen in Diktaturen, repressiven Regimes oder Armutsgebieten vorzuziehen waren, versteht sich von selbst. Doch wäre es falsch, in ihnen den Beweis für die Errungenschaften „der Aufklärung“ zu sehen. Sie waren vielmehr Ausdruck von ganz bestimmten historischen Rahmenbedingungen, die nun durch die Krise hinweggefegt werden. Nicht zufällig wird dadurch wieder verstärkt das nie verschwundene Bedürfnis nach Kollektividentitäten freigesetzt, das im Religionismus, Ethnizismus und Nationalismus befriedigt wird.

Die Flucht in die Arme solcher Kollektive ist aus Sicht des vereinzelten Einzelnen gar nicht so irrational, wie es erscheinen mag, denn hier findet er jene persönliche (und teilweise auch materielle) Sicherheit, die er ansonsten unter den Bedingungen eines zerbröselnden Sozialstaats und einer verschärften Krisenkonkurrenz nicht mehr finden kann. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass der liberale Aufklärungsdiskurs zunehmend ganz offen seinen herrschaftlichen Charakter zeigt, so etwa bei der Implementierung eines autoritären Wertdiskurses, der besonders auf die berüchtigten bürgerlichen Sekundärtugenden abzielt. Insofern lässt die Krise das hässliche Doppelgesicht von Aufklärung und Gegenaufklärung wieder deutlich sichtbar werden, das in den kapitalistischen Kernländern eine Zeit lang partiell verdeckt war.

8.

Der subjektive Impuls zur Befreiung von Herrschaft ist auch in der Krisenepoche des Kapitals keinesfalls versiegt. Im Gegenteil, er artikuliert sich überall. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert, in denen er wirksam wird. Im Zuge der kapitalistischen Aufstiegsepoche konnte er noch an den Prozess der Modernisierung rückgebunden werden, wodurch er zum einen funktional für den Kapitalismus wurde und zugleich immer wieder neutralisiert werden konnte. In der Krisenepoche des Kapitals aber haben sich die Spielräume kapitalistischer Modernisierung erschöpft. Daraus ergeben sich andere Konfliktlinien. Was Rebellion provoziert, sind zum einen die immer unerträglicheren sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen und zum anderen die damit verbundene staatliche Repression, die oft mit der Zersetzung des Staats- und Sicherheitsapparats einhergeht (Korruption etc.).

Demgegenüber können Bewegungen, die im Namen von Demokratie und Menschenrechten auftreten, nur auf ganzer Linie scheitern; denn das Bild, an dem sie sich orientieren – ich denke da an die diversen „orangenen“ Revolutionen und natürlich auch an den „arabischen Frühling“ – ist ein demokratisch und sozial abgefederter Kapitalismus, der selbst in den kapitalistischen Kernländern immer weiter abgeräumt wird. Das heisst, selbst die relativen Erfolge der „klassischen Modernisierungsbewegungen“ sind für sie ausserhalb jeder Reichweite. Demgegenüber wäre deutlich zu machen, dass nicht die Forderungen an sich oder die hinter diesen Forderungen stehenden Motive und Impulse verkehrt sind, sondern nur die Form, in der sie artikuliert werden. Wird dieser Unterschied nicht gemacht, besteht die Gefahr, dass mit der Delegitimation von Demokratie und Rechtsstaat auch die Inhalte, die damit verbunden werden und die nicht in diesen Formen aufgehen, liquidiert werden. Das aber würde den Boden bereiten für autoritäre Krisenverwaltung und die Monster der Gegenaufklärung.

Deshalb ist gerade jetzt, in der Krisenepoche des Kapitals eine emanzipative Kritik der Aufklärung dringlicher denn je. Verkehrt ist hingegen der Versuch, ausgerechnet jetzt die Aufklärung gegen ihre scheinbar äusseren Feinde zu verteidigen, und sei es nur als vorgebliche Bastion gegen die „Barbarei“. Als solche Bastion taugt sie nicht, weil mit dem Kapitalismus auch ihr Geltungsrahmen zerfällt.

Norbert Trenkle
streifzuege.org