Bonaparte ante portas oder schon im Haus?
Karl Marx schrieb 1851 in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: „Indem also die Bourgeoisie, was sie früher als ‚liberal' gefeiert, jetzt als ‚sozialistisch' verketzert, gesteht sie ein, dass ihr eignes Interesse gebietet, sie der Gefahr des Selbstregierens zu überheben3, dass, um die Ruhe im Lande herzustellen, vor allem ihr Bourgeoisparlament zur Ruhe gebracht, um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; dass die Privatbourgeois nur fortfahren können, die andern Klassen zu exploitieren und sich ungetrübt des Eigentums, der Familie, der Religion und der Ordnung zu erfreuen, unter der Bedingung, dass ihre Klasse neben den andern Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde […] und das Schwert, das sie beschützen solle, zugleich als Damoklesschwert über ihr eignes Haupt gehängt werden müsse.“ (MEW 8, 111 - 207 [154]; vgl. MEGA I/11, 96 - 189 [136])Daran anküpfend schrieb Trotzki 1932 in der linksliberalen deutschen Zeitschrift Weltbühne: „dem Faschismus [ist es] gelungen […], die Zwischenklassen gegen die Arbeiter zu mobilisieren. Zwei gewaltige Lager stehen einander unversöhnlich gegenüber. Auf parlamentarischem Wege vermag keines zu siegen. Keines der beiden würde sich überdies einer ihm ungünstigen Entscheidung freiwillig unterwerfen. Ein solcherart gespaltener Zustand der Gesellschaft kündet den Bürgerkrieg an. Schon haben seine ersten Blitze das Land durchzuckt. Die Gefahr des Bürgerkrieges erzeugt bei den herrschenden Klassen das Bedürfnis nach einem Schiedsrichter und Gebieter, einem Cäsar. Das eben ist die Funktion des Bonapartismus.“
(Leo Trotzki, Das deutsche Rätsel, in: Die Weltbühne, Nr. 45/1932; wiederabgedruckt in: ders., Schriften über Deutschland hrsg. von Helmut Dahmer, Frankfurt am Main 1971, 338 - 345 [341 f.]4; Hervorheb. von mir)
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Schikanierung von Medien mit dem Mittel von Vereinsverboten (vgl. ausser zu dem aktuellen Fall: de.indymedia vom 28.03.2023, S. 8 unten bis 10 Mitte) durchaus auch dann kritisch zu sehen, wenn es rechte Medien trifft. Schon die bonapartische Staatspraxis in der Präsidialdiktatur-Phase der Weimarer Republik5 war (jedenfalls faktisch) nicht anti-nationalsozialistisch, sondern der schleichende Übergang zur NS-Herrschaft
Medienverbote als zusätzliche Verselbständigung der Staatsapparate gegenüber der Gesellschaft
Voltaire soll gesagt haben: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“Ob das Zitat tatsächlich von ihm stammt weiss nicht, aber es erfasst das Wesen der Freiheitsrechte. Auf der gleichen Linie liegen Äusserungen von Rosa Luxemburg:
„Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft.“
Und das berühmt-berüchtigte:
„Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit', sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit' zum Privilegium wird.“ (ebenda; Hv. hinzugefügt)
Diese „Reinigende“ gilt durchaus auch für Dissidenz von rechts – zumindest wenn es auch das linke Gegengewicht gibt, das die Gelegenheit am Schopfe greift, um ihre Gegenposition zu elaborieren. Aber Mitte-Regierungen – insbesondere die deutschen durch die NS-Vergangenheit und Stalinismus in einem dumpfen Antitotalitarismus verfangen – meinen durch Medien-Schikanierung (via Vereinsrecht) die „Demokratie“ retten zu können, indem sie die Flügel abschneiden. Aber so wie ein Vogel ohne Flügel nicht fliegen kann, so kann die Demokratie nicht ohne Meinungskampf existieren. Und zum Meinungskampf gehört auch das Aushalten unliebsamer Meinungen6 (zumindest innerhalb gewisser Grenzen; die Shoah ist mehr als genug Rechtfertigung für das Setzen solcher Grenzen – aber, wenn dieses Grenzensetzen im Rahmen einer die Shoah nivellierenden allgemein-diffusen ‚Totalitarismus'theorie erfolgt, dann zeigt sich, dass es um andere Interessen geht als das Lernen aus der Erfahrung der NS-Herrschaft. Es gab auch Antisemitismus unter Stalin7, aber der industrielle Massenmord aus rassistischen Gründen muss als Alleinstellungsmerkmal des NS betrachtet werden).
Tatsächlich ist dieser Anti-Totalitarismus ein riesiges Einfallstor für bonapartische Staatspraxis; was nichts anderes heisst, als in schöner Mitte-Ausgewogenheit die Flügel gegeneinander auszuspielen und so die eigene Herrschaft zu stabilisieren. „Bonapartismus“ verstärkt die ohnehin gegebene bürokratische Loslösung der Staatsapparate von der Gesellschaft. Da – wie schon gesagt – der „Bonapartismus“ Hindenburgs nicht anti-nationalsozialistisch, sondern der schleichende Übergang zur NS-Herrschaft war, sollte sich die heutige ‚Mitte' überlegen, ob sie nicht mit ihrer Praxis der ‚Medien-Schikanierung via Vereinsverbote' (genauso wie mit ihrer ständigen Verschärfung des Flüchtlings- und Grenzregimes an den EU-Aussengrenzen) selbst zu einer autoritären Entwicklung beiträgt, die den Aufstieg der AfD begünstigt, und sie (die ‚Mitte') nicht die Instrumente schmiedet, die sich im Fall der Fälle schnell gegen sie selbst wenden können.
Selbst das nicht gerade „linksradikale“ (sondern linkssozialdemokratische) Jacobin-Magazin schreibt richtig: Es sei zu „ahnen, dass sich hier ein zunehmend autoritärer Liberalismus entfaltet, dem zur Verteidigung der liberalen Demokratie anscheinend nur Verbote einfallen, die eben diese Demokratie schwächen.“8 Das Magazin wählt als Beispiele die „Verbote von pro-palästinensischen Demos oder de[s] sogenannten Palästina-Kongress“. Auch diejenigen, die der hamas-indifferenten bis hamas-solidarischen „Palästina-Solidarität“ fernstehen, sollten einsehen, dass Gegenprotest ein angemesseneres Mittel wäre, als die Angelegenheit an den deutschen Staat zu delegieren.
Aber dass wir uns nicht falsch verstehen: Ich bedauere nicht die COMPACT-Magazin GmbH und deren Zeitschrift, ich mache mir Sorgen um die Meinungs- und Pressefreiheit und das Zensurverbot. Dies war auch schon meine Argumentation beim linksunten-Verbot.
Die Fälle linksunten und Compact sind Blaupausen dafür, dass vlt. irgendwann der jungen Welt – deren Verlag ist die 8. März Verlag GmbH – das gleiche passiert. Wir sollten nicht vergessen: Auch medienherausgebende Gesellschaften sind rechtlich gesehen Vereine9 (das zeigt ja gerade der aktuelle Compact-Fall). Deshalb sollte zwar nicht das Ergebnis, aber die Methode des Verbotes der „COMPACT-Magazin GmbH“ Gegenstand kommunistischer, anarchistischer und linksliberaler/radikaldemokratischer (Staats)Kritik sein.
Wenn daher Katharina König-Preuss, Sprecherin für Antifaschismus der Fraktion Die Linke im Thüringer Landtag, jetzt Anzeige erstattet, weil eine „Ersatzveranstatlung“ von Compact stattgefunden habe10, dann zeigt dies, dass der Partei Die Linke (jedenfalls grosse Teile von ihr) ein Verständnis des bürgerlichen Staates vollkommen fehlt (was angesichts der etatistischen Tradition von Ferdinand Lassalle, dem Kritiker des ‚Nachwächter-Staates', bis Stalin, der das Absterben des sozialistischen Staates auf den St. Nimmerlein-Tag verschob, freilich nicht überrascht). Wer den Antifaschismus vermeintlich an den bürgerlichen Staat delegiert, dem sei mit einer Horkheimer-Paraphrase gesagt, dass, wer den bürgerlichen Staat nicht verstanden hat, sich zumindest nicht allzu sicher sein, dass er dort gut aufgehoben ist.