Alltägliche Berichterstattung könnte man meinen, Qualitätsjournalismus, wo alle Zitate stimmen, wie es ich für ein Land gehört, das noch Anfang Mai im Deutschen Bundestag die Pressefreiheit feierte. Wer mag hier schon, wo sogar wissenschaftliche Expertise im Hintergrund steht, ein Beispiel für die herrschende tendenziöse Berichterstattung erkennen?
Wessen Krise wird da bewältigt?
Der Artikel im Wirtschaftsteil der Süddeutschen basiert auf einer Studie des Instituts für Makroökonomie (IMK, Autor: Alexander Herzog-Stein), die offenbar die wissenschaftliche Grundlage der Argumentation sichern soll. Als Erstes fällt auf: Wie selbstverständlich ist hier von der Corona-Krise die Rede. Natürlich kann ein Virus Menschen krank machen oder auch töten, es kann sie aber nicht entlassen und so um ihre Lebensgrundlage bringen. Ein Virus kann auch so viele Menschen krank machen, dass die Produktion stockt und die Versorgung gefährdet ist. Ob dieser Sachverhalt eintritt, hängt jedoch nicht nur von der Menge der Erkrankten, sondern entscheidend von der Art des Wirtschaftens ab.Betrachtet man das letzte Jahr, so sind nennenswerte Produktionseinschränkungen nicht festzustellen, grosse Teile der deutschen Wirtschaft meldeten vielmehr Überschüsse in ihren Bilanzen. Auch war die Versorgung der Bevölkerung nicht eingeschränkt und die Lebensmittelläden waren voll. Die Einschränkungen der Wirtschaft, die es gab und gibt, verdanken sich dabei nicht nur dem Auftreten des neuen Virus – denn schon vor der Pandemie gab es Absatzprobleme. So konstatiert ja auch der Autor des Artikels, dass sich die deutsche Wirtschaft bereits vor der Pandemie in einer Rezession befand; die vergleicht er auch gleich mit anderen Krisen und gibt so zu erkennen, dass Krisen, Massenarbeitslosigkeit und -verelendung zum normalen Gang einer kapitalistischen Wirtschaft gehören.
In der Pandemie waren die Einschränkungen in der Wirtschaft das Ergebnis eines politischen Beschlusses im Umgang mit der Seuche. Weil ausreichender Schutz, Medikamente und Impfstoff nicht vorhanden waren, beschloss die Regierung, durch Kontakteinschränkungen die Verbreitung des Virus in Grenzen zu halten. Die Funktionsfähigkeit der Bevölkerung sollte so gesichert werden. Um wirtschaftliche Schäden weitgehend zu vermeiden, wurde der Bereich der Wirtschaft eingeschränkt, der der Unterhaltung und Erholung der Bevölkerung dient. Die Freizeitindustrie wurde so dichtgemacht, während zentrale Bereiche der deutschen Wirtschaft wie die Automobil-, Chemie- oder Fleischindustrie munter weiter produzieren durften und entsprechende Gewinne vermeldeten. Dies hat viele Bürger die Existenz gekostet und viele mussten Einschränkungen bei ihrem Einkommen hinnehmen. Denn in dieser Gesellschaft gilt folgende Gleichung: Wer weniger arbeitet, muss auch mit weniger Geld zum Leben auskommen.
Die Kurve der Infektionen sollte flach gehalten und das Gesundheitswesen mit den anfallenden Kranken und Toten nicht überfordert werden, das war und ist der Massstab der Regierenden aller Parteien. Dies hat denn auch Millionen von Infizierten ergeben und über 80.000 Menschen das Leben gekostet. Kritiker, die darin ein Scheitern der regierungsamtlichen Pandemiestrategie ausmachten – diese habe den Verlust von Menschenleben um jeden Preis verhindern wollen –, täuschten sich, wie in Telepolis ausgeführt (https://www.heise.de/tp/features/Wo-Initiatoren-und-Kritiker-von-ZeroCovid-richtig-liegen-und-wo-nicht-5062813.html?seite=all). Die Kontrolle des Pandemiegeschehens kennt eben keine absolute Zahl von Toten oder Infizierten, an der sie sich messen würde.
Die eingeschlagene Strategie ist den Journalisten aus dem Hause der Süddeutschen so selbstverständlich, dass die Massnahmen der Regierung und die Kalkulationen der Unternehmen geradezu wie ein Sachzwang erscheinen – eine zwingende Reaktion auf das Virus. Der Krankheitserreger wird so für Kalkulationen verantwortlich gemacht, die er überhaupt nicht bewirken kann. Umgekehrt entlastet eine solche Darstellung diejenigen, die wirklich entscheiden.
Dass Unternehmen das Problem der Gewinn- oder Absatzeinschränkungen auf ihre Beschäftigten abwälzen und sich so schadlos halten, wird zu einer Selbstverständlichkeit und zu einer sachlich notwendigen Reaktion auf das Virus. Dass Politiker die Produktion in zentralen Bereichen der Wirtschaft aufrechterhalten wollen und deshalb bereit sind, Infektionen und Tote in Kauf zu nehmen, soll man ebenfalls dem Virus anlasten, denn der Erfolg der Wirtschaft ist ja das, worauf es in dieser Gesellschaft ankommt.
Ihr zahlt für unsere Krise
Der kritische Journalist belässt es aber nicht bei der Feststellung, dass die Virusbekämpfung in dieser Gesellschaft notwendigerweise auf Kosten von abhängig Beschäftigten zu gehen hat, sondern er schafft es auch noch, ihnen dies als ihren Vorteil vorzurechnen. Wenn erst einmal der Sachzwang in der Welt ist, das die Beschäftigten jede Geschäfts- oder Gewinneinschränkung auszubaden haben, dann ist im Vergleich zu einer Entlassung, die die Betroffenen gleich ganz um ihren Lebensunterhalt bringt, die Kurzarbeit mit Lohn- oder Gehaltseinbussen das kleinere Übel – oder sogar ein Vorteil.Ganz gleich, ob die Unternehmer wirklich vorhatten, alle jetzt Kurzarbeitenden zu entlassen, lässt sich auf diese Weise doch zumindest theoretisch ausrechnen, wie viele Entlassungen hätten stattfinden können. Dazu kann der gewissenhaft recherchierende Journalist aus München sich auf die angeführte Studie stützen. Gemessen an dieser fiktiven Zahl ergeben die nicht stattgefundenen Entlassungen die geretteten Arbeitsplätze: 2,2 Millionen Arbeitsplätze sollen es sein, wobei am Rande vermerkt wird, dass es sich dabei nur um eine Hochrechnung handelt. Doch mit der Überschrift ist diese gleich als Fakt gesetzt.
So wird aus der Erlaubnis der Regierung für die Unternehmer, bei weniger Produktion und Geschäft die Löhne und Gehälter der Belegschaften zu kürzen, eine Leistung für die Beschäftigten. Die sollen froh sein, überhaupt noch Geld für ihren Lebensunterhalt zu bekommen. Dass dies für einige Härten bedeutet, wird in der Berichterstattung nicht verschwiegen. Alle Leistungen, die die Regierung zur Sicherung des Geschäfts der Wirtschaft aufgebracht hat, ob direkte Zuschüsse, Kredite oder Kurzarbeitergeld, sollen zur Rettung von Arbeitsplätzen beigetragen haben. Und da macht es auch gar nichts, dass das Kurzarbeitergeld weitgehend von den Betroffenen selber aufgebracht werden musste, nämlich in Form ihres Beitrags zur Arbeitslosenversicherung.
Die Entscheidung über die Verwendung des Geldes liegt schliesslich bei der Regierung und damit ist es deren Leistung – und der Sorge für die so Bedachten gutzuschreiben. Um die Leistung der Regierung noch zu unterstreichen, zieht der Wirtschaftsjournalist Vergleiche zu früheren Krisen, in denen das Wirtschaftswachstum nicht so stark beeinträchtigt wurde, die Arbeitslosenzahlen jedoch höher ausfielen. Auch wenn er die deutsche Wirtschaftspolitik gleich als modellhaft für andere Länder lobt, sieht der kritische Geist gleichzeitig Reformbedarf – so viel Nachdenklichkeit muss im Qualitätsjournalismus sein:
„In der Finanzkrise verdiente ein Single in Steuerklasse eins im Schnitt vor der Kurzarbeit gut 2100 Euro netto im Monat und verlor durch die Arbeitszeitverkürzung 180 Euro. Diesmal verdienten Die Betroffenen im Schnitt vorher knapp 1700 Euro - und verloren im April 2020 300 Euro. Dadurch blieben ihnen weniger als 1400 Euro im Monat.“ (SZ)
Dass es in den letzten Jahren offenbar drastische Lohn- und Einkommensverluste gegeben hat und dass in der Pandemie die Beschäftigten nochmals heftig zur Kasse gebeten worden sind, ist dabei nicht der Skandal. Den Wirtschaftsfachmann beschäftigt vielmehr die Frage, ob ein Mensch, der so bezahlt wird und dann mit steigenden Mieten und Preisen zurechtkommen muss, noch eine ordentliche Figur im Alltag unserer Marktwirtschaft abgeben kann. Diese Frage übernimmt der Autor von einer Mitverfasserin der angeführten Studie:
„'Kurzarbeit sichert erfolgreich Arbeitsplätze, kann aber Beschäftigte mit geringeren Löhnen in eine prekäre Lage bringen', sagt Ulrike Stein, die beim IMK das Referat Rente, Löhne und Ungleichheit leitet. Sie schlägt daher vor, etwa Niedriglöhnern ein prozentual höheres Kurzarbeitergeld zu zahlen.“ (SZ)
Das ist schon gekonnt! Waren es im Zitat vorher noch die Durchschnittslöhne, die kaum zum Leben reichten, so werden sie im nächsten Schritt zu „geringeren Löhnen“ und damit zur Abweichung von der Normalität. Dass man die Mangelsituation als die Ausnahme von der Regel sehen soll, wird dann noch unterstrichen, wenn für Niedriglöhner ein höheres Kurzarbeitergeld gefordert wird. Ganz umsonst sollen die so bedachten diese Leistung allerdings nicht erhalten. So schlägt die Referentin vor, Kurzarbeit mit dem Anreiz zur Qualifizierung zu verbinden. Schliesslich stehen auch in Zukunft Rationalisierungen und Produktionsumstellungen an, die zu Entlassungen und veränderten Anforderungen führen, für die Arbeitnehmer gewappnet sein sollten. Wahre Fürsorglichkeit, der der Wirtschaftsjournalist einiges abgewinnen kann!
Die Krisengewinnler
Derselbe Autor hat aber nicht nur die modellhafte Regierungspolitik in der Pandemie entdeckt, sondern auch Menschen, die als Krisengewinnler zu betrachten sind. Diese bedenkt er am Folgetag mit einem Kommentar im Wirtschaftsteil der Süddeutschen: „Rentner – Gewinner der Pandemie“ (SZ, 11.5.2021). Nach einem kurzen Ausflug in die Geschichte und einem Lob auf die Regierung, stellt er fest, dass es in der Pandemie auch Opfer gibt.So tauchen die am Vortag noch Geretteten nun als Opfer von Arbeitslosigkeit auf, Selbstständige müssen um ihre Pleite fürchten und Kurzarbeiter mit weniger Geld auskommen. Zu den Gewinnern zählt der kritische Journalist dann die Beamten, nicht weil sie mehr bekommen, sondern weil sie froh sein dürfen, dass ihre Existenz in der Pandemie nicht auf dem Spiel steht. Gewinner sind auch die Aktionäre, die sich über höhere Kurse freuen dürfen – und dann, wer hätte das gedacht, die Rentner. Zwar haben die auch nicht mehr auf ihrem Konto und müssen mit der Hälfte des früheren Einkommens irgendwie über die Runden kommen. Aber weil ihnen die Rente nicht gekürzt wird, will der Autor sie als Gewinner betrachten.
Um sie zu Gewinnern zu machen, muss er die frühere Rentenformel bemühen, die bei sinkenden Löhnen auch sinkende Renten vorsah. Weil dies jetzt nicht eintritt – was in den Augen des Schreibers ungerecht ist –, will er sie als Krisengewinnler an den Pranger stellen. Und so weiss der kritische Geist auch gleich wer eigentlich zur Finanzierung der Pandemiekosten herangezogen werden sollte: die ganze Corona der Krisengewinnler – aber vor allem die Rentner.
Deren Schröpfung liegt ihm besonders am Herzen, natürlich wegen der Generationengerechtigkeit und auch, weil es früher einmal anders war. Das Verhältnis von Jung und Alt braucht der Autor dabei gar nicht weiter ausführen, er unterstellt einfach, dass das Problem jedem Leser klar ist. Aus dem Verhältnis von Jung und Alt soll sich quasi naturgesetzlich ergeben, dass der Lebensunterhalt der Alten eine zunehmende Last für die Jungen ist. Dass das Generationenverhältnis auf einem staatlichen Beschluss basiert, die jungen Arbeitnehmer im Rahmen der Rentenversicherung für die Renten der Alten aufkommen zu lassen, weil deren Beiträge längst ausgegeben sind, soll dabei nicht interessieren.
Übrigens: Wenn es nur um die Versorgung der Alten durch die Jungen ginge, wäre dies bei wachsender Produktivität durch den Einsatz neuer Technologie kein Problem. Nur geht es in dieser Gesellschaft nicht darum. In der Marktwirtschaft sind Arbeitskosten Beträge, die für die rentable Anwendung von Arbeit aufgebracht werden und nicht für die private Existenzerhaltung jenseits des Arbeitslebens. Also sind Aufwendungen für den Lebensunterhalt von Alten Kosten, die den Jungen aufgebürdet werden.
Dass in der Rentenversicherung die Höhe der Renten an die Höhe der Löhne geknüpft worden ist, erklärt der Autor zum Normalzustand und die Reformen der letzten Jahre, die ein weiteres Sinken der Renten bei sinkenden Löhnen ausschliessen sollten, zu einem einzigen politische Sündenfall. Und so kann er vorrechnen, dass dies den Rentnern geradezu riesige Zuwächse erbracht hat.
Die Zahlen sollen für sich sprechen, das tun sie aber nur, weil vieles ausgeblendet wird und so mancher Vergleich schief ist. Um zu den ansehnlichen Zuwächsen zu kommen, muss er schon einen Zeitraum von fünf Jahren betrachten um eine Steigerung von bis zu 6 % zu ermitteln. Um wie viel in diesem Zeitraum die Preise gestiegen sind und damit die Einkommen entwertet haben, bleibt dabei aussen vor. Dem werden nicht die anderen Einkommen aus diesem Zeitraum gegenübergestellt, sondern die des Krisenjahres 2020. Dass dort die Beschäftigten Einbussen hinnehmen mussten, ist für den Schreiber die grösste Selbstverständlichkeit. Ein Skandal ist für ihn jedoch, dass die Rentner nicht ebenso geschädigt wurden. So versteigt er sich zu der Aussage, dass sich Rentner doch tatsächlich wegen fehlender Rentenkürzung nicht einzuschränken hätten. Ausgeblendet wird wieder einmal die gleichzeitige Entwertung der Renten über die Inflation.
Das Ganze lässt sich noch steigern, indem man den Rentnern für das nächste Jahr eine Rentensteigerung von 5 % prognostiziert. Zwar ist landauf landab nirgends eine Lohnsteigerung in dieser Grössenordnung zu erkennen; die meisten Gewerkschaften haben allenfalls Lohnsteigerungen unter der offiziellen Inflationsmarke abgeschlossen (wobei sie sich sowieso mehr um den sozialen Frieden als um Lohnkämpfe kümmern).
Aber wenn man davon ausgeht, dass im Rahmen des sich abzeichnenden Aufschwunges wieder mehr gearbeitet wird und damit die gesamte Zahl der Löhne steigen wird, kann man diese Zahl, auch wenn sie eine ganz hypothetische Grösse ist, als Beweis für die ungerechten Verhältnisse nehmen, die bei der Einkommenslage der lohnabhängig Beschäftigten eingetreten sein soll.
Das Ganze lässt sich auch noch bis 2050 hochrechnen. Dann entstehen noch viel deutlichere Zahlen, die diese Ungerechtigkeit unterstreichen. Und so sieht der Autor die zukünftigen Regierungen in der Pflicht, die Rentner gehörig zu schröpfen. Den Vorwurf, er würde so Sozialneid schüren, dürfte er natürlich weit von sich weisen.
Keine Lügenpresse!
Journalisten müssen nicht unbedingt lügen, um ihre Parteilichkeit für die herrschenden Verhältnisse zu demonstrieren. Sie führen ständig Zahlen, Studien oder wissenschaftliche Erkenntnisse an, um die Sachlichkeit ihrer Darstellung zu untermauern. Dabei kommt es immer darauf an, wie die Zahlen und Fakten genutzt, in welche Beziehung sie gestellt werden. Manchmal reicht es schon, Ereignisse in einer bestimmten Reihenfolge anzuordnen, um den Schein von Ursache und Wirkung zu erzielen.Gepflegt wird so das Bild einer Lage – hier der Pandemie –, auf die die Politik reagieren muss. Damit ist nicht die Politik, sondern in diesem Fall das Virus der Grund allen Übels und die Politik die geforderte Instanz. Deren Tun kritisch im Blick darauf zu begleiten, ob es erfolgreich ist und den landläufigen Idealen wie Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht – darin sehen Journalisten ihre Aufgabe. Dafür greifen sie in der Regel nicht zur Lüge. Sie setzen „nur“ die Parteilichkeit für die nationale Sache, für den Erfolg des deutschen Standorts in einer zunehmend schärfer werdenden „Grossmachtkonkurrenz“ als Selbstverständlichkeit voraus, und schon ergibt sich für sie von selbst, wie man die Faktenlage zu sehen hat.