Das von „Fridays for Future“ (FFF) erfochtene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimagerechtigkeit vom 24. März kann als unerwarteter Erfolg gefeiert werden: Im Rahmen der eingegangenen Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens (in Kraft seit November 2016), den Anstieg der Treibhausgase und damit die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, habe die Regierung die wichtigsten Massnahmen zur Treibhausgasreduktion auf nach 2030 verschoben und dann noch nicht einmal konkretisiert.
Darin sah das Gericht eine Verletzung der „Schutzverpflichtung in Bezug auf künftige Generationen“ [1]. Das ist ein historisch noch nie dagewesener Rechtsspruch für „Generationengerechtigkeit“. Selbstverständlich wäre dieses Urteil nie möglich gewesen ohne die massenhafte ausserparlamentarische Bewegung von FFF. Doch nun steht diese vor einem strategischen Dilemma: Soll die Strasse tendenziell verlassen werden, um Klimapolitik via Klimalisten in den Parlamenten als „handfeste Politik“ [2] – wie das bei den Jungpolitiker*innen nun heisst – zu machen?
„Fridays For Future“ als soziale Bewegung
Niemand hätte zu Beginn, im Herbst 2018, „Fridays for Future“ eine derart breite, druckvolle und geschickt agierende Kampagnenfähigkeit vorausgesagt. FFF organisierte sich eher informell nach gemeinsam geteilten Überzeugungen und konnte die verschiedensten gewaltfreien Protestformen nutzen. Soziologisch ist FFF eine jugendlich geprägte Mittelstandsbewegung, mit einem aktivistischen Anteil von jungen Frauen im Vergleich zu jungen Männern von für die BRD bisher nie dagewesenen 59,6 %. [3] Wer hier aus klassenkämpferisch-linker Perspektive aufjault und beklagt, das sei ja keine Arbeiterbewegung, sollte sich erstmal über den inhaltlich problematischen Zustand und die anhaltende Desintegration der Arbeiterklasse in der BRD Gedanken machen.Nach den Baumbesetzungen im Hambacher Forst und den Aktionen zivilen Ungehorsams in Kohleabbaugebieten von „Ende Gelände“ seit 2015 begann Greta Thunberg im damals sogenannten „Hitzesommer 2018“ ihren Schulstreik an Freitagen. „Fridays for Future“ entstand innerhalb kürzester Zeit auf länderübergreifender Ebene. Auch in der BRD gab es schnell Ortsgruppen und wöchentliche Schulstreiks in fast allen Städten. Zahlreiche weitere Gruppenzusammenhänge folgten, etwa „Parents for Future“, „Scientists for Future“ oder auch, von England aus, „Extinction Rebellion“.
Diese klimapolitische Bewegung prägte über ein Jahr die Szenerie auf Strassen und Plätzen, hatte enorme Medienresonanz und erarbeitete sich eine Art „kulturelle Hegemonie“, auch bei der Verbreitung ökologischer Utopien. Beim Global Climate Strike 2019 waren weltweit ca. 1,4 Millionen Menschen auf der Strasse. Gleichzeitig waren die realpolitischen Parlamentsbeschlüsse verheerend: Ein Kohlegesetz der Regierung schrieb die Kohleverstromung bis 2038 fest.
Die Erfahrung der Anti-AKW-Bewegung zeigt, dass es nicht auf die Parlamente und auch nicht auf angeblich „fortschrittliche“ Konstellationen einer Regierung ankommt, sondern nur und ausschliesslich auf den Druck der ausserparlamentarischen sozialen Bewegung und auf das kulturelle wie materielle Kräfteverhältnis zwischen Bewegung und staatlich-kapitalistisch-parlamentarischer Macht.
Die informellen Strukturen der Bewegung hatten Schwierigkeiten, mit der Massenbeteiligung Schritt zu halten, die eigene Organisierung war diffus – mit der Konsequenz, dass medial geprägte „Bewegungspromis“ wie „Greta“ oder auch Luisa Neubauer entstanden. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 kämpfte die Klimagerechtigkeitsbewegung in Konkurrenz mit der stark rechts beeinflussten „Bewegung gegen Corona-Massnahmen“ um ihre kulturelle Hegemonie, wurde zeitweise medial und auch real zurückgedrängt. Trotzdem gelang es, gegen die „Querdenker-Bewegung“, die in grossen Teilen nicht nur Corona verharmlost, sondern auch den Klimawandel leugnet (Programm auch der AfD), das Thema aktuell zu halten, sodass in Einzelfällen der herrschenden Politik erfolgreich entgegengetreten werden konnte. So wurde der Autoindustrie im Jahr 2020 überraschend eine neuerliche Abwrackprämie für Diesel oder Benziner verwehrt. [4]
Die mit der Bildung von Klimalisten einher gehende Abwertung von Bewegung
Heute, wo das Ende der Pandemie zumindest in den reichen Ländern des Nordens absehbar ist, liegt es nahe, die Konkurrenz mit der „Anti-Corona-Massnahmen-Bewegung“ direkt auf der Strasse wieder aufzunehmen und die 2019 bereits errungene, inzwischen verloren gegangene kulturelle Hegemonie wiederherzustellen und damit – ganz nebenbei – faktischen Antifaschismus zu betreiben. Doch was macht FFF in 2020/2021? Sie gründet parteiähnliche „Klimalisten“ und tritt damit im Wahljahr 2021 überall bei Landtags- und Kommunalwahlen an: Am 14. März 21, bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, erreichte die „KlimalisteBW“ 0,88 Prozent, obwohl sie in 67 der 70 Wahlkreise antrat; in Rheinland-Pfalz am gleichen Tag 0,71 %. Auch für Sachsen-Anhalt trat am 6. Juni 2021 eine Klimaliste an.Etwas besser sehen die Ergebnisse bei den jüngeren Kommunalwahlen aus. Bei den bayerischen Kommunalwahlen im März 2020 gab es in Erlangen 3,9 % der Stimmen; in Kempten gar 5,07 %, wodurch „Kempten for Future“ zwei Sitze im Stadtrat erlangte und seither Dominik Tartler als jüngster Stadtrat Kemptens das Amt des Jugendbeauftragten bekleidet. [5]
Die Klimalisten haben also bereits diverse Wahlkämpfe hinter sich. Als Ziele wurden von ihren Kandidat*innen angegeben, sie wollten „Entscheidungsprozesse öffentlich machen, wenn sie beginnen“ (Denise, „radikal:klima“, Berlin), also Transparenz und Kontrolle der Parlamentarier*innen; des Weiteren, die Politiker*innen in den Parlamenten „auf ihre historische Verantwortung hinzuweisen“, sowie sich im eigenen Tun „hinter die Wissenschaft zu stellen“. [6]
Doch eine spannende Langzeit-Dokumentation über die Klimaliste „Future for Kempten“ [7] zeigt den Realitätsschock, den die zwei neuen Parlamentarier nach ihrem Stadtratseinzug ebenso brutal wie unvorbereitet erleben mussten. Die Liste hatte im Wahlkampf ein neues Fahrradwegenetz und den intensiven Ausbau des Busnetzes gefordert – eine klimabewegte Utopie also – und wurde nach dem Einzug sofort zur realpolitischen Ordnung gerufen: Dafür gebe es kein Geld im städtischen Budget. Der Schock sass tief – und die „politischen Sachzwänge“ wurden internalisiert, geradezu als „Lernvorgang“ begriffen.
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg wiederum gab es eine interne Spaltung der „KlimalisteBW“, als im Vorfeld der Wahlen vom März vier von sechs Vorstandsmitgliedern, allen voran Mitbegründerin Sandra Overlack, von ihrer Kandidatur zurücktraten, um nicht durch Wahl-Konkurrenz den Wahlerfolg der Grünen um Kretschmann zu gefährden – ein klimapolitischer Vertrauensvorschuss, für den sich Daimler-Ministerpräsident Kretschmann sogleich nach seinem Wahlerfolg mit einer Entscheidung für die Fortsetzung der Koalition mit der CDU bedankte, trotz möglicher Koalitionsalternativen für mehr Ökologie. [8]
Parteien und Parlamente vor sich hertreiben: das Beispiel der Anti-Atom-Bewegung
Auch der Parteigründungsprozess der Grünen lief von 1978 bis zur Gründung 1980 über kommunalpolitische grüne und alternative Listen ab. Typisch für die damaligen Rechtfertigungen war eine plötzliche Kritik aus den Reihen der Kandidat*innen, dass die sozialen Bewegungen nicht ausreichten, ungenügend wären und zunächst einmal durch Parlamentspolitik ergänzt werden müssten. Damals war noch defensiv vom „Spielbein“ als Ergänzung zum „Standbein“ der Bewegung die Rede, bevor an Bewegungsaktivitäten der Partei nichts mehr übrig blieb und aus dem Spielbein ein monolithischer Betonpfeiler wurde. Dasselbe Phänomen ist bereits in Ansätzen bei den Rechtfertigungen für die Klimalisten zu beobachten.Die bereits genannte „handfeste Politik“, die nun in Gemeinderäten und Landesparlamenten gemacht werden soll, geht einher mit einer Abwertung von Bewegungsaktivitäten: „Die Klimaaktivist*innen, die vorher bei Fridays for Future waren, sind auf einmal nicht mehr handzahm“, meint etwa Maurice Conrad von der „Klimaliste Rheinland-Pfalz“. [9] Wahrscheinlich merkt er gar nicht, wie er Bewegungsaktivitäten damit diffamiert, als seien diese bisher vor allem „handzahm“ gewesen. Dabei zeigt der Schock der Realpolitik, den die Gewählten in Kempten erfuhren, dass es gerade anders herum läuft, dass sie nun erst richtig realpolitisch „handzahm“ gemacht und ihnen ihre Utopien ausgetrieben werden.
Das strategische Dilemma, das sich hier auftut, liesse sich durch einen Blick auf die Geschichte der Anti-Atom-Bewegung lösen: Das Projekt einer WAA für Gorleben wurde nach dem Gorleben-Treck von Hunderttausenden nach Hannover 1979 vom konservativen CDU-Ministerpräsidenten Albrecht als für „politisch nicht durchsetzbar“ erklärt; das symbolisch bedeutsame AKW Wyhl, um das 1974/75 mit Bauplatzbesetzungen gekämpft wurde, erhielt 1983 durch den CDU-Ministerpräsidenten Späth seinen späten Baustopp. Und war denn das von Merkel beschlossene Atom-Ausstiegsgesetz vom Juni 2011, mit sofortiger Stilllegung von 8 AKWs und Stilllegung der 16 weiter laufenden AKWs bis Ende 2022, nicht weitaus radikaler als der erste „Atomkonsens“ im Jahre 2000 der ach so fortschrittlichen Schröder-Fischer-Regierung [10], mit langen Restlaufzeiten selbst für „Schrottreaktoren“ wie Biblis, Brunsbüttel, Krümmel und einem projektierten Abschalten der letzten Anlagen bis 2028 ?
Die Erfahrung der Anti-AKW-Bewegung zeigt, dass es nicht auf die Parlamente und auch nicht auf angeblich „fortschrittliche“ Konstellationen einer Regierung ankommt, sondern nur und ausschliesslich auf den Druck der ausserparlamentarischen sozialen Bewegung und auf das kulturelle wie materielle Kräfteverhältnis zwischen Bewegung und staatlich-kapitalistisch-parlamentarischer Macht. Es war dieses momentane Kräfteverhältnis, das zum Urteilsspruch vom 24. März in Karlsruhe führte.
In diesem Sinne wünsche ich der FFF-Bewegung das Erringen einer anhaltenden kulturellen Hegemonie im Bereich der sozialen Bewegungen, was einerseits eine Zurückdrängung rechter „Querdenker-Gruppen“ in die bewegungspolitische Irrelevanz bedeuten könnte (faktischer Antifaschismus), und andererseits die Aufrechterhaltung ökologischer Gesellschaftsutopien. Parlamentspolitik und Parteibildungen sind nicht unsere Aufgabe, wir treiben die Parteien vielmehr vor uns her, frei nach dem von einem Bakunin-Zitat abgeleiteten Spruch: „Diejenigen, die immer nur das Mögliche fordern, erreichen gar nichts. Diejenigen, die aber das Unmögliche fordern, erreichen das Mögliche.“ [11] Ich sehe derzeit in FFF noch immer ein grosses utopisches Überschusspotential, mit dem die Bewegung hoffentlich diese Phase der Klimalisten relativ schadlos überstehen kann.