Episode 01: Eine sowohl alte als auch neue Frage
„Man berichtet uns, dass der 8. Internationale Wissenschaftskongress des Pazifiks in Manilla stattgefunden hat […], wo Spezialisten der Ökologie, der Botanik, der Zoologie, der Hydrologie, der Pädologie […] sich mit der Tatsache beschäftigt haben sollen, dass sich die moderne Menschheit in Richtung ‚der Verschwendung der Ressourcen des Planeten' entwickelt […]. Man will herausfinden, ob der Zyklus des Austausches zwischen der natürlichen Umwelt mit ihren materiellen und energetischen Reserven und der lebenden Menschheit hin zu einer Harmonie mit einem (theoretisch undefinierten) dynamischen Gleichgewicht oder zunehmend hin zu einem Sturz ins Ungleichgewicht tendiert und somit auf historischer Ebene unverwirklichbar wird, indem er zum Rückgang und zum Ende der Menschheit führt.“Obwohl sie aktuell scheinen, sind diese Zeilen 1954 von Amadeo Bordiga geschrieben worden [1].
1) Problem
Die Lebensbedingungen auf der Erde hängen besonders von einem Klima ab, dessen mehrtausendjährige Entwicklung verschiedene Ursachen hat, wovon die menschliche Tätigkeit ein kleiner oder grosser Teil darstellt.Im 16. Jahrhundert verursacht die europäische Eroberung Südamerikas durch Massaker und den Export von Krankheiten 50 Millionen Tote in einigen Jahrzehnten und die Reduzierung von Anbauflächen, Wiederaufforstung, Verringerung von Kohlenstoff in der Atmosphäre und somit des Treibhauseffekts, womit die „kleine Eiszeit“ (von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19.) akzentuiert wurde. Doch diese Entwicklung transformierte nicht die Gesamtheit der Lebensbedingungen auf der Erde. Seither hat die Industrialisierung Konsequenzen auf einem ganz anderen Niveau, was eine „grosse Beschleunigung“ ausgelöst hat, die uns einem Schwellenwert näher bringt:
„Mehrere ökologische Grenzen sind schon überschritten worden (Zerstörung der Artenvielfalt, Konzentration der Treibhausgase, Entwaldung und Zerstörung der Böden, diverse Formen der Verschmutzung), bei anderen fehlt nicht viel (Übersäuerung der Meere, Verknappung von Süsswasser). […] Zu diesen überschrittenen Grenzen kommt die Verknappung der nicht erneuerbaren ‚natürlichen Ressourcen' hinzu: fossile Energieträger (Erdöl, Gas, Kohle) und Mineralien, die mehr oder weniger für alle zeitgenössischen Güter und Dienstleistungen genutzt werden (wozu die Produktion von sogenannt erneuerbaren Energieträgern gehört). Wir bewohnen die Erde seit mehreren Hunderttausend Jahren, doch diese Überschreitungen haben erst seit zwei Jahrhunderten (seit der Expansion des Kapitalismus) und besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden – also vor nicht allzu langer Zeit. […] Wir stehen bei einer Erwärmung von 1° C und können jetzt schon überall auf der Welt feststellen, was sie auslöst. Wir stehen leider erst am Anfang dieser Auswirkungen. Die Ursachen dieser Störungen werden jedoch weiterhin mehr als je zuvor gefördert.“ [2]
Um nur ein Beispiel zu zitieren, auf welches wir zurückkommen werden, die stetige Erhöhung des Energieverbrauchs ist den Einsparungen und dem zunehmenden Beiträgen der „erneuerbaren Energien“ (Wind, Wasser und Sonne) immer um eine Länge voraus.
Obwohl der starke Anstieg der Temperaturen gewiss ist, ist das Ausmass ungewiss, man weiss nur, dass die Auswirkungen sich miteinander koppeln: Methanausstoss, Anstieg des Wasserspiegels, weniger Kohlenstoff absorbiert durch die Meere, verringerte Artenvielfalt (Verschlechterung und Zerstörung der Lebensräume, weniger Nahrungsquellen [Fischerei], invasive Arten), Überschwemmungen, Waldbrände, Hurrikans, Dürren, starke Gefährdung oder Verschwinden von Arten – all das führt im Verlauf des 21. Jahrhunderts zu einem wenig „bewohnbaren“ Planeten, doch für wen und welche gesellschaftliche Organisation? Wenn heute alles als „Krise“ (von 1929, der Werte, der Repräsentation, der Finanz, des Systems…) bezeichnet wird, was ist dann gegenwärtig die Verbindung zwischen der „Klimakrise“ und der „sozialen Krise“?
2) Ziel
Jede Gesellschaft muss ihre Reproduktion vorbereiten, organisieren und darüber nachdenken. Das taten auch die kapitalistischen Gesellschaften, sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert, auf verschiedene und widersprüchliche Weisen gemäss ihrer Situation, England, USA, Deutschland, UdSSR… Wie müssen sie heutzutage dieses Problem anders aufgreifen als zuvor (auch Adam Smith hatte eine „holistische“ Denkweise, aber ohne damals eine Natur zu integrieren, die als unerschöpflich betrachtet wurde)? Und was ist das Verhältnis zum Klassenkampf?„Schöpferische Zerstörung“: Die von Schumpeter 1942 populär gemachte Formel passt besonders gut zum Thema. Sie beschrieb die kontinuierliche Verlagerung der Investitionen (die zum Verschwinden von Fabriken, Arbeitsorten und Arbeitsstellen führte) von den weniger produktiven Sektoren hin zu den rentabelsten, die Arbeitslosigkeit, Umwälzung der Berufe, Verschiebung der Tätigkeiten von einer Region oder einem Land in andere und Machttransfers von einer bürgerlichen Gruppe zu einer anderen auslöste. Doch wenn wir es mit natürlichen und materiellen Bedingungen zu tun haben, stellt sich die Frage, wie stark der Kapitalismus sie verschlechtern oder zerstören kann, um sich auf anderen Grundlagen wieder aufzubauen?
3) Methode
Um die russische Revolution, Mai 68 oder den Syndikalismus zu verstehen, reichen einige mit einem Minimum an theoretischer Intelligenz ausgewählte Schriften. „Die Ökologie“ ist hingegen das breitmöglichste intellektuelle Thema und der breitmöglichste politische Streitgegenstand, sie schliesst Geschichte, Geologie, Biologie, Chemie, Physik usw. mit ein. Wenn man darüber nachdenkt, ist man schon bald obsoleten statistischen Wasserfällen ausgesetzt, die sogleich mit anderen noch erdrückenderen und häufig widersprüchlichen ersetzt werden. Allen voran muss man also dem Rausch des Übermasses dieser Daten und Prozentsätzen widerstehen. Und welche Zahlen? Bis 2014 war es gängig (auch im Weltklimarat, Autorität in diesem Bereich), „den Kohlenstoffeffekt“ ausgehend vom Produktionsland zu messen: Der Ausstoss von CO2 von einem in China hergestellten Fernseher wurde China zugeschrieben, auch wenn ein Frachtschiff ihn nach Belgien oder Kanada transportierte, was letzteren Ländern erlaubte, sich hinsichtlich Verschmutzung als tugendhaft darzustellen. Doch man beruhigt uns: Die Statistiken sind seither korrigiert worden.Wir spielen nicht die Oberspezialisten und streben nur nach einem theoretischen Minimum. Präzise Daten und Referenzen sind genügend zugänglich, wir werden also im Verlauf der Kapitel wenig davon liefern. Wir werden nacheinander folgende Themen behandeln:
1) Den Platz, der die kommunistische Theorie damals dem einräumen konnte, was heute Ökologie genannt wird, und den Grund, weshalb die „Ökonomie“ und die „Ökologie“ beide in diesem Kapitel von uns kritisiert werden müssen.
2) Inwiefern Kapitalismus und Ökologie inkompatibel sind.
3) Inwiefern sich die Situation verschlechtert.
4) Das Scheitern der politischen Ökologie.
5) Die theoretische Erfindung des Anthropozäns, dann jene des Kapitalozäns.
6) Die Zusammenbruchstheorie und die Kollapsologie.
7) Das Wesen des Kapitalismus und seine mögliche Überwindung.
8) Schliesslich und allen voran: die Tatsache, dass nichts verloren ist.
Wir sind weder die Ersten, noch die Letzten, die sich mit der Frage beschäftigen. Zahlreiche existierende Studien zum Thema können in diesen drei Punkten zusammengefasst werden: 1) Die kapitalistische Produktionsweise ist für das Problem verantwortlich; 2) da sie die Ursache ist, wird sie nicht die Lösung sein; aber 3) eine vernünftig von den Proletariern oder dem Volk verwaltete Wirtschaft könnte das Problem lösen. Die Leserinnen und Leser werden sehen, welche gemeinsamen Punkte und Unterschiede es zwischen dieser Sichtweise und unserer gibt.
4) Vom 19. bis ins 20. Jahrhundert
Beginnen wir mit dem Theoretiker der leidenschaftlichen Anziehung, der vor zwei Jahrhunderten eine dramatische Diagnose erstellte:„Die Berge bröckeln durch die schlechte Verwaltung der Zivilisierten und Barbaren ab, die Quellen versiegen, die Temperaturexzesse, Dürren und Überschwemmungen, werden immer häufiger, die Jahreszeiten geraten immer mehr durcheinander und überlappen sich andauernd, die am meisten zivilisierten Länder haben immer tiefere klimatische Mittelwerte, der Olivenbaum ist in Frankreich um ein halbes Grad in Richtung Süden zurückgegangen, der Weinbau ist in vielen Regionen fast nicht mehr möglich, besonders im Burgund, das aufgrund klimatischer Zwischenfälle sieben Ernten nacheinander verloren hat […]“
Das schrieb Fourier (1772-1837), wobei er „die Ursachen der Veränderung“ den Gestirnen zuschrieb und eine Abkühlung diagnostizierte.
Und in Détérioration matérielle de la planète behauptete er, dass die „klimatischen Unordnungen ein der zivilisierten Kultur inhärentes Laster ist; sie stellt durch ihren Mangel an Proportionen und allgemeinen Methoden, durch den Kampf der individuellen Interessen mit dem kollektiven Interesse alles auf den Kopf […] Die zivilisierte und barbarische Landwirtschaft, von deren wundersamen individuellen Eigenschaften man schwärmt, hat die lächerliche Eigenschaft der kollektiven Verschlechterung; sie zerstört ihren eigenen Boden, statt ihn zu verbessern.“ Daher „die Dringlichkeit, schnellstmöglich den zivilisierten, barbarischen, wilden Zustand zu verlassen und das materielle Leid des Planeten zu lindern, womit auch das menschliche Elend beendet werden wird“.
Deshalb „ist im industriellen System alles lasterhaft. Es ist in jeglicher Hinsicht nur ein Wettlauf gegen die Zeit.“
Marx: der Stoffwechsel Mensch-Natur
Wer Zitate braucht, die bei Marx und Engels „ein unbestreitbares ökologisches Bewusstsein“ (Henri Peña-Ruiz) beweisen – oder widerlegen – wird sie leicht finden. Doch es geht nicht darum, eine Zusammenstellung oder eine Auswahl zu erstellen, sondern die Richtschnur oder die Richtschnüre zu finden. Einige etwas längere Zitate werden notwendig sein.„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ [3]
„Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.“ [4]
„Wenn der einzelne Fabrikant oder Kaufmann die fabrizierte oder eingekaufte Ware nur mit dem üblichen Profitchen verkauft, so ist er zufrieden, und es kümmert ihn nicht, was nachher aus der Ware und deren Käufer wird. Ebenso mit den natürlichen Wirkungen derselben Handlungen. […] Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, dass die entfernteren Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind […] [Wir beherrschen] keineswegs die Natur […], wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der ausser der Natur steht - sondern […] wir [gehören] mit Fleisch und Blut und Hirn ihr an […] und [stehn] mitten in ihr […] Je mehr dies aber geschieht, desto mehr werden sich die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen, und je unmöglicher wird jene widersinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib […]“ [5]
Schliesslich das von Marx in einem Fragment, das häufig als Schlussfolgerung des dritten Bandes reproduziert wird:
„[E]s erzeugt dadurch [durch das Grundeigentum] Bedingungen, die einen unheilbaren Riss hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels, infolge wovon die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eignen Landes hinausgetragen wird. […] [D]as industrielle System auf dem Land auch die Arbeiter entkräftet und Industrie und Handel ihrerseits der Agrikultur die Mittel zur Erschöpfung des Bodens verschaffen.“ [6]
Aber was bezeichnet der Begriff des „Stoffwechsels“? Die Gesamtheit des Austausches an Materie und Energie, die ein lebendes Wesen oder ein Organismus benötigt, um fortzubestehen und sich zu reproduzieren. Im weiteren Sinne ist der gesellschaftliche Stoffwechsel gleichbedeutend mit dem Gleichgewicht, das die Erneuerung jener natürlichen Bedingungen erlaubt, welche für die menschlichen Produktionen unabdingbar sind. Marx benutzt diesen Begriff allerdings fast immer in seinen Kapiteln über die Grundrente, bezüglich des Landeigentums, „industriell betriebene grosse Agrikultur“, die heute zum Agrobusiness geworden ist und dem Boden die Nährstoffe entzieht – was heute hinlänglich bestätigt ist. Die von Engels zitierten Beispiele betreffen ebenfalls die Böden.
Wir sind trotzdem weit vom globalen Ungleichgewicht entfernt, das die Erde und das Menschengeschlecht im 21. Jahrhundert bedroht. Als die USA in den 1930er Jahren mit einem verheerenden, zum Teil durch die Überbeanspruchung der Böden ausgelösten Dust Bowl fertig wurden, blieb das Phänomen in jenem Rahmen, den man in der Epoche von Marx vorhersehen konnte. Sowohl hinsichtlich ihrer Ursachen als auch ihrer Folgen erreicht der zeitgenössische „Riss des Stoffwechsels“ ein qualitativ anderes Niveau. Marx konnte gewisse zerstörerische Effekte der kapitalistischen Produktionsweise verstehen und verurteilen, jedoch nicht das Ausmass der von ihr verursachten Umweltverwüstungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Es ist nutzlos, ihn in einen Vorläufer der zeitgenössischen Ökologie zu verwandeln.
Pannekoek: „Naturverwüstung“
Anton Pannekoek (1873-1960) bekräftigt 1909 im Text „Naturverwüstung“, dass die Liebe zur Natur nicht der einzige Grund ist, sich mit den Wäldern zu beschäftigen: Es geht um „Lebensinteressen für die Menschheit […] Wir wissen, dass die Menschen nun einmal die Herren der Erde sind und die Natur zu ihren Zwecken völlig umwandeln. Wir sind zu unseren Leben ganz auf die Naturkräfte und die Naturschätze angewiesen; wir müssen sie gebrauchen und verbrauchen. Nicht um diese Tatsache handelt es sich hier, sondern nur die Art und Weise, wie der Kapitalismus sie gebraucht. Eine vernünftige Gesellschaftsordnung wird die ihr zur Verfügung stehenden Schätze der Natur in solcher Weise benutzen müssen, dass nicht mehr verbraucht wird, als jeder zugleich neu aufwächst, so dass die Gesellschaft nie ärmer wird und nur reicher werden kann. […] Unter der heutigen Wirtschaftsordnung ist die Natur nicht der Menschheit sondern den Kapital dienstbar […] Die Naturschätze werden ausgebeutet, als wären die Vorräte unendlich und unerschöpflich. In den üblen Folgen der Waldverwüstung für die Landwirtschaft, in der Ausrottung nützlicher Tiere und Pflanzen tritt die Endlichkeit der Vorräte als ein Bankrott dieser Wirtschaftsweise zu Tage. Als eine Anerkennung dieses Bankrotts ist es auch zu bezeichnen, wenn Roosevelt [es handelt sich um Theodore Roosevelt, Präsident der USA von 1901 bis 1909] eine internationale Konferenz zusammenberufen will, der den Bestand der noch vorhandenen Naturschätze aufnehmen und Massnahmen gegen ihre weitere Verschwendung treffen soll. Natürlich ist dieser Plan selbst nur Humbug. Der Staat kann zwar Vieles tun, um die ruchlose Ausrottung seltener Naturwesen zu verhindern. Aber der kapitalistische Staat ist immerhin nur ein trauriger Vertreter der Allgemeinheit der Menschen. […] Der Kapitalismus hat […] an die Stelle des Lokalbedarfs den Weltbedarf gesetzt und gewältige technische Hilfsmittel zur Ausbeutung der Natur geschaffen. Dabei handelt es sich dann sofort von ungeheuren Massen, die mit kolossalen Vernichtungsmitteln in Angriff genommen und mit mächtigen Transportmitteln weggeschafft werden. Die Gesellschaft unter dem Kapitalismus ist einem mit Riesenkraft ausgestatteten vernunftlosen Körper zu vergleichen; während er seine Kraft immer gewaltiger entwickelt, verwüstet er zugleich in sinnloser Weise die Natur, worin und wodurch er lebt.“Einige Verwüstungen später bekräftigt Pannekoek in Antropogenese. Een studie over het ontstaan van de mens (1944): „Potenziell ist der Mensch Herr über die Natur. Doch er ist noch nicht Herr über seine eigene Natur. Wie kann er es werden?“ Durch eine Revolution, die eine gemeinschaftliche Produktion wieder einführt, und Pannekoek glaubt an „einen ununterbrochenen technischen Fortschritt, der kurz davor steht, die Menschheit als organisierte Einheit zu konsolidieren, die Herrin über ihr Leben ist“. Anton Pannekoek ist nicht ökologischer als Marx, ausser man betrachtet jeden Verteidiger der Natur so. Sein Text wurde nach einer Reihe von Niederlagen der Arbeiterklasse verfasst, nach der Krise von 1929, dem Nazismus, dem Weltkrieg und im Kontext einer andauernden Besatzung Hollands durch Deutschland: Trotz dieser niederschmetternden Tatsachen bekräftigt Pannekoek, indem er die Evolution des Menschengeschlechts Revue passiert, sein Vertrauen in eine künftige Menschheit ohne Klassen und Staat, die endlich mit sich selbst versöhnt sein würde. Die früher oder später selbstzerstörerische Herrschaft des Kapitals über die Natur ist nicht sein Thema.
Wernadski: Die Biosphäre
Die Russische Revolution beschränkt sich nicht auf die Erscheinung einer neuen Form des Kapitalismus, die von einer Klasse – der Bürokratie – angeführt wurde, welche die gleiche Rolle wie die Bourgeoisie spielte, obwohl ihr Ursprung und ihre Funktionsweise unterschiedlich war. Sie ist auch eine Gesamtheit an widersprüchlichen, ambivalenten und unvollendeten Bemühungen zur Erschaffung neuer Lebensformen, Bemühungen, die durch mangelnde Mittel hintertrieben und dann durch das Regime zerschlagen wurden.Es ist also nicht erstaunlich, dass die Ökologie, so wie wir sie heute verstehen, in den 1920er Jahren eine wissenschaftliche und politische Realität war, bevor sie mit den Zwängen der Staatsgewalt und der Kapitalakkumulation zusammenstiess. Wladimir Wernadski (1863-1945), berühmter Mineraloge und Chemiker, „Vater der Wissenschaft“ in der Sowjetunion, beschreibt die Erde als lebenden Organismus, nicht als leblose Materie, und theoretisiert die Biosphäre als handelnde geologische Kraft. Er warnt im April 1926: „Die natürlichen Produktivkräfte […] sind in ihrer Zusammensetzung und ihrem Überfluss unabhängig vom menschlichen Willen und der menschlichen Vernunft, egal wie zentralisiert und organisiert sie auch sein mögen. Da diese Kräfte nicht unerschöpflich sind, wissen wir, dass sie Grenzen haben, […] die für unsere eigenen Produktionskapazitäten eine unüberwindbare natürliche Grenze darstellen […] für unser Land sind diese Grenzen ziemlich eng gesteckt und erlauben – mit dem Risiko einer grausamen Rechnung – keine Verschwendung im Gebrauch unserer Rohstoffe.“
Ebenfalls der Zoologe G. A. Koschewnikow 1928: „Die Entwicklung einer materialistischen Konzeption der Natur ist nicht gleichbedeutend mit der Berechnung, wie viele Kubikmeter Feuerholz man aus einem Wald extrahieren oder wie viel Dollar man mit Eichhörnchenleder jedes Jahr einnehmen kann […]. Die Kontrolle über die natürlichen Regulationen zu übernehmen, ist eine extrem schwierige und verantwortungsvolle Sache. [J]egliche Intervention, sogar jene, welche wir als nützlich betrachten, […] zerstört die natürlichen Bedingungen der Biozönosen. […] Aus diesem Lebensgewebe, das sich während etlichen tausend Jahre dauernden Interaktionen entwickelt hat, kann man nicht einfach schadlos ein Glied herausnehmen […]“
Doch ab 1928 fallen die guten Absichten gegenüber den Zielen des ersten Fünfjahresplans nicht wirklich ins Gewicht: Der Schutz der Natur wird nur eingeräumt, wenn er die Produktivität steigert. Was von der Ökologie bleibt (Aktionen gegen die Entwaldung und die Bodenerosion, Errichtung von Naturparks, Massnahmen, die auch von den „bürgerlichen“ Regimes ergriffen werden, besonders auf der anderen Seite des Atlantiks), zielt darauf ab, die Produktivkräfte durch ihre exzessive Entwicklung nicht zu stark aus dem Gleichgewicht zu bringen: Das Ziel des Regimes ist es, die Umwelt im Interesse des industriellen Wachstums zu erhalten.
Schutz und Erhaltung fassen die Ökologie nicht zusammen und sind weit von den gegenwärtigen Problemen entfernt.
Bordiga: Die menschliche Gattung und die Erdkruste
Nach 1950 nähert sich Amadeo Bordiga (1889-1970) in einer Artikelreihe, geschrieben nach Überschwemmungen, Unfällen, chemischen Verschmutzungen, Bodenerschöpfung und der Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, die Menschheit zu ernähren, der Idee an, dass die Technik kein neutrales Werkzeug ist, das ihr Wesen verändern würde, wenn sie von den Händen und Köpfen der Bourgeois in jene der Proletarier übergehen würde. Für ihn werden sich die Proletarier während der Revolution nicht damit begnügen, sich der Produktionsmittel zu bemächtigen, sie werden einen Teil davon transformieren und sich des anderen entledigen.„Obwohl es wahr ist, dass das industrielle und wirtschaftliche Potenzial der kapitalistischen Welt ansteigt und nicht sinkt, ist es genauso wahr, dass sich, je stärker dieser Anstieg ist, sich umso mehr die Bedingungen der Menschenmasse gegenüber historischen Naturkatastrophen verschlimmern.“ [7]
Je „effizienter“ der Kapitalismus in der Ausbeutung der Arbeit und des Lebens der Menschen ist, desto weniger ist er fähig, „die Arbeit der gegenwärtigen den künftigen Generationen zu übermitteln“ [8].
„Der Kapitalismus hat seit langem eine ‚technische' Grundlage aufgebaut, d.h. ein Erbe an Produktivkräften, das uns bei weitem genügt; die Steigerung des produktiven Potenzials ist also – im weissen Siedlungsgebiet – nicht das grosse historische Problem, sondern durch das Verbot ihrer Ausbeutung und Verschwendung die Zerstörung jener gesellschaftlicher Formen, welche einer korrekten Verteilung und Organisation der nützlichen Kräfte und Energien entgegenstehen. Besser: Der Kapitalismus hat selbst zu viel aufgebaut und erlebt diese historische Alternative: Zerstörung oder Verschwinden.“ [9]
Die Weltrevolution wird sich, statt immer mehr aufzubauen, „die enorme Extravaganz“ erlauben können, „Kartoffeln auf dem vom Wolkenkratzer der Vereinten Nationen besetzten Terrain zu pflanzen“ [10].
Anarchismus, Marx, Marxismus
Marx und die Marxisten waren nicht die einzigen, die an eine günstige „Entwicklung der Produktivkräfte“ glaubten. Mit einem anderen Tonfall waren andere Strömungen daran beteiligt, besonders anarchistische. In „L'Humanisphère, utopie anarchiste“ stellte sich Joseph Déjacque (1822-1864), der Erfinder des Begriffes „libertär“, 1858-1859 die Welt im Jahr 2858 vor:„Die Luft, das Feuer und das Wasser, alle Elemente mit zerstörerischen Instinkten sind bezwungen worden und gehorchen gefangen unter dem Blick des Menschen all seinen Absichten. Der Himmel ist erklommen worden. Die Elektrizität trägt den Menschen auf ihren Flügeln und führt ihn in den Wolken spazieren, ihn und seine Luftschiffe. […] Ein immenses Bewässerungsnetz deckt die weiten Prärien ab, deren Schranken man abgebrannt hat und worauf zahlreiche Herden grasen, die zur Ernährung des Menschen bestimmt sind. Der Mensch thront über seine Arbeitsmaschinen, er befruchtet das Feld nicht mehr mit dem Dampf seines Körpers, sondern mit dem Schweiss der Lokomotive.“
„Der Mensch […] lässt es nach Belieben regnen oder schönes Wetter sein; er bestimmt über die Jahreszeiten und die Jahreszeiten verbeugen sich vor ihrem Meister. Die Tropenpflanzen blühen unter freiem Himmel in den Polarregionen auf; siedende Lavaströme schlängeln sich durch sie durch; die natürliche Arbeit des Planeten und die künstliche Arbeit des Menschen haben die Temperatur der Pole transformiert und dort den Frühling ausgelöst, wo zuvor der ewige Winter herrschte.“
„Der Planet [ist] zu einer einheitlichen Siedlung [geworden], die man in weniger als einem Tag erkunden kann. Die Kontinente sind die Quartiere oder Bezirke der universellen Stadt.“ Unter einer kolossalen Kuppel garantieren Zentralheizungen und Ventilatoren den Parisern „ein stets gemässigtes Klima“ und die Beherrschung der Natur weitet sich auf die Tiere aus mit „Löwen, die zu Haustieren“, und „Panthern, die wie Katzen gezähmt geworden sind“.
Die allgegenwärtigen Maschinen (das Wort Roboter wird 1920 vom Schriftsteller Karel Čapek kreiert) führen fast alle mühsamen Arbeiten aus und kümmern sich um die Hausarbeit. Dampf und Elektrizität automatisieren die meisten Bewegungen und alltäglichen Handgriffe. Nebenbei „hat“ als Folge der Harmonisierung der Menschheit „eine universelle Sprache all diese Jargons der Nationen ersetzt“.
Déjacque hatte dermassen Vertrauen in diesen unaufhaltbaren Marsch der Menschheit hin zum technischen und gesellschaftlichen Fortschritt (die bald dazu aufgerufen waren, ein und dasselbe zu sein), dass die „ökologische Frage“ für ihn im wörtlichsten Sinne undenkbar war.
Nach ihm erkannten Marx, Engels, Pannekoek, die russischen Gelehrten der 1920er Jahre und dann Bordiga allen voran ein Problem im Verhältnis zwischen der menschlichen Gattung und ihrer natürlichen Umwelt aufgrund der Bodenerschöpfung und der Verschwendung. Man ist selten intelligenter, als es die durch seine Epoche aufgeworfenen Probleme erlauben. Man kannte den Treibhauseffekt 1945, aber nicht die Schwere seiner Wirkung auf den Planeten, und man war eher bezüglich eines Atomkrieges beunruhigt.
Es gab Marx, seine Behauptungen, seine Intuitionen. Für ihn ist das Menschengeschlecht das Subjekt und die Natur der Gegenstand, ihr Gegenstand, und ihre Interaktion ändert nichts an einem Verhältnis des Vorranges, wovon Marx (und sehr wenige damals) die zerstörerische Wirkung sowohl auf die Natur als auch auf die Menschheit erkennen konnten.
Und es gab den Marxismus, für welchen die kapitalistische Produktionsweise durch den Widerspruch Produktivkräfte/Produktionsverhältnisse angetrieben und untergraben wird, erstere haben die Berufung, letztere zerplatzen zu lassen, und die Proletarier erben von den Bourgeois einen immensen technischen und wissenschaftlichen Apparat, den sie an die Bedürfnisse der Massen anpassen würden. In dieser Optik werden die Wissenschaft und die Technik meistens als gesellschaftlich neutral wahrgenommen: Der Mähdrescher und die Schreibmaschine sind Werkzeuge, alles hängt davon ab, wie und, allen voran, von wem sie benutzt werden. Wenn die Bourgeoisie einmal eliminiert ist, werden die Produktivkräfte allen zugutekommen. Im Sozialismus, schreibt Lenin, wird es das Taylor-System, heutzutage das Instrument der „Versklavung des Menschen durch die Maschine“, das es dem Arbeiter erlauben wird, viermal weniger zu arbeiten und gleichzeitig von einem viermal höheren Wohlbefinden zu profitieren. Vom Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen haben die Sozialdemokratie und der Stalinismus das berücksichtigt, was sie benötigten: ein (angeblich) rationales Projekt der Herrschaft über die Natur. Sie waren weit von einer Kritik des Kapitalismus entfernt und haben ihn sowohl in der Ausbeutung der Proletarier als auch in der Zerstörung der natürlichen Umwelt begleitet.
5) 20. Jahrhundert. Kritik der Ökonomie, Kritik der Ökologie
Wie jedes Gesellschaftssystem muss sich der Kapitalismus nicht nur legitimieren, sondern er muss auch über sich selbst und seine Widersprüche nachdenken: Die Wirtschaftswissenschaften sind eines seiner privilegierten Mittel des Selbstverständnisses.In der griechischen Antike beschrieb die „Ökonomie“ die Verwaltung „des Hauses“, d.h. des Landgutes, in einer Gesellschaft der Landeigentümer, die mit anderen manchmal weit entfernten Regionen handelten, in welcher jedoch das Land die wesentliche Quelle des Reichtums blieb.
Mit der Industriellen Revolution nahm die „Ökonomie“ den allgemeinen Sinn der Produktion und des Vertriebs von Gütern und Dienstleistungen an und die ökonomische Fachkenntnis hat sich als jene aufgedrängt, welche es erlaubt, eine von Fabriken, Frachtschiffen und Waren, d.h. von Kapital und Lohnarbeit gesättigte Welt zu verstehen und zu verwalten. Während man 1960 in einem französischen Gymnasium nicht „die Ökonomie“ unterrichtete, ist jede politische Diskussion heutzutage von einem Schwall an Statistiken über das „Wachstum“ oder die Beschäftigung begleitet. Die Allgegenwart der „Ökonomie“ ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Parallel dazu konnte der planetarische Aufstieg des die für ihn notwendigen Gleichgewichte auf den Kopf stellenden Kapitalismus zwangsläufig „die Natur“ (im weiteren Sinne, der sowohl den Wald als auch die Temperatur enthält) nicht mehr als unendlich verfügbares und ausbeutbares Gut betrachten.
Die „Ökonomie“ als Wissen – und Weltanschauung – reichte nicht mehr: Es musste über die Beziehungen zwischen der (im vorliegenden Fall kapitalistischen) Gesellschaft und dem, was ihre Existenz konditioniert, nachgedacht werden.
Der Erfinder des Worts und des Begriffes der „Ökologie“ 1866, der deutsche Biologe Ernst Haeckel, ein anerkannter Gelehrter, populärwissenschaftlicher Autor und bekannt dafür, die Lehre Darwins verbreitet zu haben, interessierte sich mehr für die Evolution der Arten als für die historische Evolution. Trotzdem zeugte seine Forschung von der Notwendigkeit, eine unumgängliche Realität zu berücksichtigen: die Gesamtheit der materiellen Grundlage, auf welcher die menschliche Tätigkeit basiert. Es war freilich noch kein Bewusstsein für eine bedrohte Umwelt. Aber Haeckel hatte schon einen ganz anderen Blick auf die Welt als vor ihm Descartes („uns zum Herrscher und Besitzer der Natur zu machen“) oder Francis Bacon (experimentell Kenntnisse über die Natur zu erlangen, um sie in den Dienst des Menschen zu stellen). Für Haeckel lebt und entwickelt sich die Menschheit innerhalb einer Totalität lebender Wesen: Das Feld der „Ökologie“ hat sich danach auf den ganzen Planeten ausgeweitet.
Ökonomie und Ökologie sind also zwei sehr verschiedene Dinge. Im Gegensatz zur Ökonomie, die sich die Frage stellt, wie „das Haus“ produktiv verwaltet werden kann, will die Ökologie viel mehr als eine Wissenschaft der Verwaltung sein: Sie bringt die Gesellschaften in ihre globale Umwelt zurück, vereinigt „Humanwissenschaften“ und „Naturwissenschaften“ und strebt nach der Schnittmenge zwischen Geschichte, Biologie, Geographie, Klimatologie…
Aber das Wissen der Gelehrten und der „breiten Öffentlichkeit“ geht nicht über das hinaus, was denkbar ist in jener Gesellschaft, welche es hervorruft und unterhält. In Tat und Wahrheit denkt die Ökologie die Welt, ohne des Pudels Kern seit zwei Jahrhunderten zu berücksichtigen: das Verhältnis Kapital/Arbeit, die Beziehung Bourgeois/Proletarier. In den Augen jener, welche sich als Umweltschützer präsentieren, scheint die Analyse der Gesellschaft in Klassenbegriffen sekundär, illusorisch oder überholt. So erklärt ein jüngst erschienenes Buch, das sonst reich und stimulierend ist, die Geschichte der Energieträger im Industriezeitalter durch die Herrschaft „der Technologie“, „der technischen [und] produktivistischen Vorstellungskraft“, eines „produktivistischen Systems“, „eines techno-ökonomischen Imperialismus“ und „der technischen Macht“ (François Jarrigue & Alexis Vrignon). Man könnte sagen, der Kapitalismus – der unsichtbar gemacht worden ist.
Trotz ihrer Ambition, „die Wissenschaft der Existenzbedingungen“ (Haeckel) bereitzustellen, hat sich die Ökologie seit einigen Jahrzehnten als eine Wissenschaft und Technik entwickelt, welche die Exzesse der kapitalistischen Produktionsweise reparieren soll. Genau wie die weitsichtigsten Ökonomen (Keynes) machen die Umweltschützer auf die Effekte eines Systems aufmerksam, dessen tiefe Ursachen ihnen entgehen. In der Praxis sind die „Ökonomie“ und die „Ökologie“ eher komplementär denn Rivalinnen: Der „ökologischen Ökonomie“ geht es gut, die meisten Umweltschützer denken in ökonomischen Kategorien und die Debatten drehen sich um die beste oder am wenigsten schlechte Art und Weise, die Ökonomie durch die Ökologie zu kompensieren, indem die negativen Auswirkungen einer Produktion (und eines Konsums) reduziert werden, die sonst ihre eigenen Grundlagen zerstören würden. Wie? Indem (gemäss den Denkschulen variable) Dosen Ökologie in die Ökonomie injiziert werden.
Für uns wird es also nicht darum gehen, die Ökonomie mit der Ökologie zu komplettieren oder erstere durch letztere zu korrigieren, sondern sowohl die eine als auch die andere zu kritisieren.