Jenseits der 1,5 Grad droht sogar eine Hitzespirale: Biomasse in auftauenden Permafrostböden in Nordkanada, Alaska, Grönland und Ostsibirien würden Milliarden Tonnen zusätzliches CO2 freisetzen, genau wie Waldbrände in der Tundra oder den Tropen. Schmelzendes Eis in der Arktis könnte mittelbar den Golfstrom versiegen lassen. Wie Dominosteine könnten sogenannte „Kippelemente des Klimas“ eine Krise nach der anderen auslösen. Auf der Erde würde es immer heisser werden. Was dann genau passieren wird, kann die Wissenschaft nicht vorhersagen.
Dagegen versprechen Technologiegläubige mit einer Digitalisierung sämtlicher Lebensprozesse über Big-Data-Techniken und Künstlicher Intelligenz (KI) Lösungen für das Klimaproblem zu liefern – u. a. durch KI-gestützte Prozessoptimierung. Dummerweise hat die Informationstechnik für ihre zahllosen Rechner und Geräte, ihre ungeheuren Datenmengen in Rechenzentren und weltumspannenden Netze einen immensen Energiebedarf, für dessen Bereitstellung schon jetzt mehr CO2 freigesetzt wird, als durch den gesamten Flugverkehr weltweit. Der rasante Anstieg dieses Ressourcenverbrauchs wird vor allem von Cloud- und Streamingdiensten sowie Online-Gaming und neuesten KI-Anwendungen getrieben.
Das Grundmuster der herrschafts- und profitorientierten „Technokratie-Falle“ ist in allen der im Folgenden diskutierten technologischen Innovationen gleich: Technologie-zentrierte Antworten befeuern das Technologie-induzierte Problem des wachsenden Energiehungers. Sie sind damit vielmehr Teil des Problems als dessen Lösung. Statt die Ursachen der Zerstörung des Planeten ergebnisoffen zu beforschen und dann radikal zu bekämpfen, wird „fortschrittsblind“ nach Technologien gesucht, die (vergeblich) versuchen, die Konsequenzen eines weiter-wie-bisher einzuhegen.
Der Klimawandel trifft dabei nicht alle gleichermassen – die Bedrohung „der Menschheit“ als Ganzes ist eine wenig hilfreiche Unterschlagung der unterschiedlichen sozialen Konsequenzen. Reiche trifft der Klimawandel weniger als Arme, ältere weniger als jüngere. Wenn mensch in die Chefetagen der IT-Konzerne schaut, dann sitzt da die wohl am wenigsten gefährdete Bevölkerungsgruppe an den Hebeln. Das hat durchaus Einfluss darauf, was für „Lösungsvorschläge“ von dort kommen.
Besonders eindrücklich versinnbildlichen riesige CO2-Staubsauger des Startups Climeworks der ETH Zürich das Dilemma der Technokratie: Die Anlage, die aussieht wie ein Raketentriebwerk, soll das CO2-Problem lösen, indem sie das klimaschädliche Gas mit riesigen Turbinen aus der Luft filtert und bindet. Tatsächlich erzeugt sie aber ein massives Energieproblem, denn: Um auch nur ein Prozent des jährlichen, weltweiten CO2-Ausstosses aus der Luft zu filtern, bräuchte es 250.000 dieser Anlagen. Deren Betrieb frässe so viel Strom wie alle bundesdeutschen Haushalte zusammen – und emittiert darüber zusätzliches CO2.
Digitaler Energiehunger lässt sich nicht weg-virtualisieren
Die Virtualisierung von Anwendungen in der cloud verschleiert zwar ihren ökologischen Fussabdruck, aber sie vergrössert ihn in der Regel: Das einstündige Videostreaming über youtube verbraucht über die involvierte Server- und Netzinfrastruktur so viel Strom, wie die halbstündige Nutzung der Heizplatte eines E-Herds. Die Herstellung und der Vertrieb von DVDs waren deutlich ressourcenschonender! Wir sehen keinerlei Anzeichen für eine tatsächliche „Dematerialisierung“ durch Digitalisierung. Im Gegenteil: die Digitalisierung wirke als „Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern, die planetarische Leitplanken durchbrechen“1.Die Digitalisierung hat eine klare materielle Basis, die unausweichlich mit unserem Ökosystem zu tun hat. Deshalb können wir nicht nur über Zukunftstechnologie und Mensch reden, sondern müssen Umwelt dazunehmen. Alles andere gibt keine Zukunft. <<
Laut der französischen Umweltorganisation The Shift Project steigt der Energieverbrauch digitaler Technologien am schnellsten an. Weltweit waren digitale Dienste noch 2015 für rund zwei Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich, ähnlich viel wie der CO2-Ausstoss aller weltweiten Urlaubsflieger. Bereits 2018 galt das Verhältnis nicht mehr. Derzeit liege ihr Anteil bei vier Prozent der weltweiten CO2-Emissionen, heisst es: Das sei mehr, als der gesamte weltweite Flugverkehr ausmache. Zwar ist der Schaden durch Flugzeuge immer noch deutlich höher – sie pusten ihre Schadstoffe direkt in die Atmosphäre – doch der Strombedarf der Informations- und Kommunikationstechnologie wird weiter steigen: Bis zum Jahr 2025 könnte sich der Anteil auf insgesamt acht Prozent verdoppeln, so die Umweltorganisation. „Wenn wir uns überlegen, dass der weltweite Datenverkehr jedes Jahr um 25 Prozent ansteigt, dann müssen wir ganz offensichtlich dringend darüber nachdenken, welche Inhalte wir über die Netzwerke schicken“, sagt Zeynep Kahraman-Clause (Project Managerin des „Shift Project“).
Der sogenannte Rebound-Effekt ist das eigentliche Problem: Die steigende Energieeffizienz neuer digitaler Technologien führt eben nicht dazu, dass weniger Strom verbraucht werde. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeiten werden immer komplett ausgereizt; der Gesamtstromverbrauch steigt weiter an. Der Rebound-Effekt ist seit 150 Jahre bekannt: Dem britischen Ökonomen William Stanley Jevons war 1865 aufgefallen, dass die Dampfmaschine von James Watt zwar effizienter Kohle verbrannte als zuvor, aber damit nahm die Industrialisierung erst richtig Fahrt auf. Insgesamt wurde viel mehr Kohle verbraucht als vor der Erfindung der sparsameren Dampfmaschine. In dieses Muster reihen sich viele der alltagstauglichen technischen Innovationen ein: Onlinezeitung statt Printausgabe, Emails statt Briefe, Musikstreaming statt CD, ... .
Bei einem Grossteil der Verbraucher sorgt vor allem die Produktionsphase für eine schlechte Umweltbilanz. Knapp die Hälfte der Emissionen entstehen bei der Herstellung. Bei einem Smartphone sei die Energiebilanz besonders verheerend: Ausgehend von einer zweijährigen Nutzung sind bereits 90 Prozent der Energie im Lebenszyklus eines solchen Telefons verbraucht, bevor ein Kunde das Gerät überhaupt gekauft habe.
Stromhungrige KI soll das Klimaproblem lösen
Zum Energiebedarf der KI errechnet eine Studie des MIT, dass der CO2-Fussabdruck für das Training eines einzigen modernen „neuronalen Netzes“ (einer derzeit besonders erfolgversprechenden Art „künstlich-intelligenter“ Algorithmen) dem fünffachen CO2-Fussabdruck des Lebenszyklus' eines Kraftfahrzeugs inklusive seines Verbrauchs entspricht. Oder anders verglichen: Anstelle eines KI-Trainings kann man über 300 Mal von San Francisco nach New York und zurück fliegen.Die Wissenschaftler betrachten dabei Modelle aus der Verarbeitung natürlicher Sprache. Für eine einzelne Berechnung eines sogenannten Deep-Learning-Modells (einer populären Variante künstlicher neuronaler Netze) sind die Stromkosten vergleichsweise gering. Was aber viel Energie verbraucht, ist das Einstellen optimaler Parameter.
Da es sich um ein hochdimensionales Optimierungsproblem mit vielen verschiedenen Parametern handelt und da aus der Wahl nicht direkt auf eine Verbesserung oder Verschlechterung geschlossen werden kann sondern erst das „neuronale Netz“ neu trainiert werden muss, ist es üblich, die Parameter zu erraten und verschiedene Konfigurationen durchzuprobieren, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Der Parameterraum ist allerdings zu gross um sämtliche Möglichkeiten durchzuprobieren.
Bislang sind Prognosen des Hasso-Plattner-Instituts, „Clean IT“ könnte zu Energieeinsparungen im Bereich der KI-Anwendungen um den Faktor 20 führen, einen Beweis schuldig geblieben. Neben dem reinen Stromverbrauch ist für die ökologischen Folgen natürlich auch relevant, wo die Betreiber der Infrastruktur ihren Strom beziehen. Die MIT-Wissenschaftler zitieren dabei einen Vergleich von Greenpeace. Während in Googles Rechenzentren angeblich „immerhin die Hälfte“ des Stroms aus erneuerbaren Energien stammt, entspricht Amazons Strommix trotz ökologischer Versprechen immer noch dem US-amerikanischen Durchschnitt – grösstenteils fossile Energieträger mit sogar einem Drittel aus Kohlekraftwerken.
Elektromobilität
Das E-Auto ist ein Alptraum. Der angesagte Plugin-Hybrid (Elektro+Verbrennungsmotor) ist besonders unsinnig: er dient nur den Auto-Herstellern beim Weiterverkauf einer Fahrzeugflotte mit übergewichtigen und hoch-motorisierten SUV. Zum einen lassen sich Milliarden an EU-Fördergeldern kassieren, zum anderen bewahren Hybrid-Autos die grossen Hersteller vor Strafzahlungen wegen Nichterreichens der europäischen Klimavorgaben, da sie mit angeblichen Zero-Emissionsmodellen den Ausstoss im Flottenmix nach unten drücken. Es geht selbstredend auch um ein „grünes“ Markenimage und um Technologiekontrolle. Man baut Hybrid-Autos im Wissen, dass sie alles andere als die automobile Zukunft sein werden.Aber auch reine Elektro-Fahrzeuge lösen keine Klimaprobleme: Der Bau eines Akkus für einen Tesla ist so umweltschädlich wie acht Jahre Betrieb eines Verbrennungsmotors. Und dieser Akku hat wegen der begrenzten Ladezyklen nach acht Jahren nur noch Schrottwert. Aus diesem Grund fällt die Öko-Bilanz für E-Scooter (Elektro-Tretroller) mit deren noch geringerer Akku-Haltbarkeit von nur wenigen Monaten besonders katastrophal aus.
Die Fertigung von Elektro-Autos stösst zudem an Ressourcengrenzen, wenn es um die benötigten Rohstoffe für den Bau von Akkus geht. Deren Abbau in Chile (Lithium) und Zentralafrika (Kobalt) ist nicht nur extrem umweltunverträglich, sondern geht in weiten Teilen mit unvertretbarer Kinderarbeit einher. Der Bedarf an Lithium allein in der E-Mobilit steigt bis 2030 auf das 20-40fache. Daran ändert auch die zukünftig anvisierte Feststoff-Batterie nichts – auch sie benötigt Lithium.
Für Kobalt sieht die derzeitige Prognose sogar noch dramatischer aus: »Würde Audi den A4 in grosser Serie rein elektrisch bauen, müssten sie den halben Weltmarkt an Kobalt leer kaufen.« (Professor Jörg Wellnitz von TH Ingolstadt). Bei VW – so Wellnitz – habe man so eine Rechnung schon mal aufgemacht und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Konzern für seine Produktion von E-Autos rund 130 000 Tonnen Kobalt benötigen würde. Die Weltproduktion liegt derzeit bei 123 000 Tonnen.
Wenn uns nun auch noch das E-Flugtaxi als Mobilitätskonzept der Zukunft verkauft wird (um dem Problem der zu hohen Verkehrsdichte am Boden zu begegnen), dann klingt das wie ein Rückfall in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Damals wie heute war und ist klar, dass jegliche Art des Fliegens einen deutlich höheren Energieaufwand bedeutet, als die gleiche Strecke am Boden zurückzulegen. Dennoch bekommen wir nun 70 Jahre später erneut Drohnen-ähnliche Flugtaxis als moderne und vermeintlich ökologische Form der Fortbewegung angepriesen.
Selbst optisch haben sie sich nur wenig von den futuristischen Männerfantasien der technokratischen Blütezeit entfernt (siehe Abbildungen) – Retro-Futurismus der primitiven und rückschrittlichen Sorte. Die damalige, blinde Fortschrittsgläubigkeit halluzinierte übrigens atomgetriebene Fahrzeuge herbei, die sich im Jahr 2000(!) innerstädtisch mit bis zu 300km/h und ausserhalb geschlossener Ortschaften mit bis zu 1000 km/h schnell bewegen würden. Eine nicht ganz treffende Prognose für einen Individualverkehr, der in den Ballungsgebieten täglich mehrere hundert Kilometer Stau produziert.
Die Technokratie gibt sich hier äusserst konservativ. Sie versucht den Automobilismus einfach fortzusetzen, indem sie vom Verbrenner- auf den E-Antrieb umsteigt und ansonsten die Verkehrskonzepte aus dem letzten Jahrhundert unverändert beibehält. Ein zweieinhalb Tonnen schwerer 600-PS-Elektro-Porsche muss als trotzig-zynische Antwort der deutschen Automobil-Branche auf die Klima- und Mobilitätskrise verstanden werden.
Ohne eine grundlegende Abkehr von den derzeitigen, völlig überkommenen Mobilitätsvorstellungen des automobilen Individualverkehrs wird es nicht möglich sein, den Klimawandel auf ein langfristig überlebbares Mass zu reduzieren. Wer an einer Expansion des Welthandels und des Tourismus festhält und dabei glaubt, unser Lebensstandard liesse sich (technologisch innovativ) auf den restlichen Teil der Weltbevölkerung verallgemeinern, beraubt sich jeglicher Chance, diesen Planeten vor dem Kollaps zu bewahren. In vielen Bereichen werden vermeintlich innovative Energie-Effizienz-Steigerungen durch den „Rebound-Effekt“ aufgefressen.
Renaissance der Atomkraft?
Als Anfang der 1950er Jahre der Wohlstand spürbar zunahm, begann eine Phase eines geradezu euphorischen Fortschritts- und Technikglaubens. Konzeptfahrzeuge von atomkraftbetriebenen Autos wurden vorgestellt. Die Genfer Atomkonferenz (1955), das Bundesministerium für Atomfragen (ab Oktober 1955; erster Minister: Franz Josef Strauss) und die Deutsche Atomkommission (1956) brachten den politischen Durchbruch der Kernenergie in Westdeutschland.Rund 50 Jahre ist es her, dass sich erstmals überregional Widerstand gegen die atomare Stromerzeugung regte. Riskant, gesundheitsschädlich, zerstörerisch und zentral herrschaftssichernd – diese Aspekte sind mit der Atomenergie verbunden. In den vergangenen Jahrzehnten stieg mit den grossen atomaren Unfällen in Tschernobyl 1986 sowie Fukushima 2011 die Skepsis gegenüber dieser Form der Energieerzeugung.
In Deutschland wurde nach dem Super-GAU in Japan der „endgültige Ausstieg“ aus der Atomkraft besiegelt. 2022 sollen die letzten Meiler abgeschaltet werden. Jetzt im Zuge des (halbherzigen) „Kohleausstiegs“ scheinen einige in der CDU den Rückwärtsgang einlegen zu wollen. Ein Positionspapier erwägt die Rückkehr zur Kernkraft.
Erstellt hat das Dokument der Bundesfachausschuss Wirtschaft, Arbeitsplätze und Steuern. Wasser auf die Mühlen des konservativen Flügels: Man wolle „Technologieoffen“ bleiben. Auf der Liste der Unterstützer*innen dieser Idee steht unter anderem die internationale Energieagentur IEA, die Subventionen für die nukleare Energieerzeugung fordern. In ihren Analysen wird Atomenergie in einem Zug mit Erneuerbaren Energien als klimafreundliche Energiequelle genannt.
Das ist nachweisbar grober Unfug. Nur wer den Blick auf den Reaktorbetrieb einschränkt, kann ein AKW klimagas-frei nennen – wenn die gesamte Kette Bergbau, Aufbereitung, Anreicherung, Transport, Kernspaltung berücksichtigt wird, entspricht der Klimagasausstoss eines AKW dem eines Gaskraftwerks - das ungelöste Entsorgungsproblem noch nicht mal eingerechnet. Um Kohle, Öl und Gas zu ersetzen, müssten hunderte AKW gebaut werden.
Beim derzeitigen Verbrauch von Uran beträgt dessen Reichweite nur ein paar Jahrzehnte. Kommen hunderte neuer Anlagen dazu entsprechend weniger. AKW werden für Laufzeiten von etwa 40 Jahren kalkuliert – wenn viele neue Anlagen hinzukommen, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Der sogenannte „energy cliff“ beschreibt den Moment, bei dem zur Herstellung eines Brennstoffes gleich viel Energie reingesteckt wird, wie dieser dann freisetzen kann.
Bei Uran ist die kritische Stelle der Abbau. Ab einer Konzentration von 0.04 % Uran im Erz ist der „cliff“ erreicht: Bei niedrigerer Konzentration ist es wirtschaftlicher die Energie, die in den Abbau gesteckt wird, direkt zu nutzen und das Uran in der Erde zu lassen. Aktuelle (neue) Minen bauen bereits Erz mit weniger als 1% Urangehalt ab – der Cliff ist nicht mehr weit. Ergo: Atomenergie als Lösung des Klimawandels zu propagieren ist Augenwischerei.
Die EU-Kommission hat im Dezember 2019 einen Plan vorgestellt, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu machen. Darin spielt die Kernenergie keine Rolle, allerdings steht das Vorhaben noch unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Mitgliedstaaten. Diese streiten noch über die Frage der Atomkraft. Auf Druck osteuropäischer Länder und Frankreichs nannte der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Atomkraft als mögliche Energiequelle auf dem Weg zur Klimaneutralität. Eine politisch geförderte Rückkehr der Dinosaurier wäre ein GAU für die Umweltbewegung. Diese muss nun unmissverständlich deutlich machen, dass jede nukleare Option an ihrem heftigen und breiten Widerstand scheitern würde.
Ökologische Verhaltenslenkung - Smarter Behaviorismus
Die Glaubwürdigkeit der Technokraten, das Klimaproblem rein technologisch in den Griff zu kriegen, schwindet zusehends. Selbst in einer Ingenieurs-geprägten Gesellschaft wie der französischen, die zudem nicht auf ein besonders ausgeprägtes Umweltbewusstsein zurückgreifen kann, schwindet seit den beiden unerträglich heissen bzw. extrem trockenen Sommern 2018 und 2019 der Fortschrittsglaube der Bevölkerung an die Fähigkeiten der Technokratie. Im Gegenteil, die „Kollapsologen“ sind in der öffentlichen Debatte immer stärker vetreten.Die „Kollapsologie“ als interdisziplinärer Wissenschaftsansatz – weit über die engen Grenzen der Umweltwissenschaften hinaus – gibt es seit dem 2015 von Pablo Servigne und Raphaël Stevens erschienen Essay „Wie alles zusammenbrechen kann – kleines Kollapsologie-Handbuch für gegenwärtige Generationen“. Darin gehen die Autoren von einer höchst wahrscheinlichen Unfähigkeit des Kapitalismus aus, den ökologischen Zusammenbruch verhindern zu können.
Mit einem weiter schwindenen Vertrauen in den technologischen „Fortschritt“ versucht der Kapitalismus seine „Nachhaltigkeits“-Glaubwürdigkeit anders herzustellen und gleichzeitig die Ressource Mensch besser inwertsetzen zu können. Smarte (algorithmische) Verhaltenslenkung, basierend auf einer eher rückschrittlichen Auslegung des „Behaviorismus“, steht (nicht nur in China!) hoch im Kurs.
John B. Watson beschrieb 1913 in seiner Antrittsvorlesung an der Columbia University die „Psychologie aus der Sicht des Behavioristen“ als Disziplin mit dem „theoretischen Ziel, Verhalten vorherzusagen und zu steuern“. Indem Watson die Tätigkeit des Gehirns oder „innere Zustände“ als Blackbox aussen vor liess, konnte er allein mit dem beobachtbaren Verhalten lebendiger Wesen arbeiten und davon ausgehend eine Psychologie ohne jegliche Subjektivität entwerfen.
B.F. Skinner erforschte mit einer Methode, die er „operante Konditionierung“ nannte, wie bestimmte äussere Reize das Lernen beeinflussen. Während die klassische (Pawlow'sche) Konditionierung einen Reiz schlicht mit einer Reaktion koppelt, ist bei der operanten Konditionierung das Verhalten anfangs spontan, doch die davon ausgelöste Rückkopplung bestärkt oder hemmt die Wiederkehr bestimmter Handlungen. Es ist interessant zu beobachten, wie eng verbandelt der von Watson und Skinner geprägte Behaviorismus mit der Disziplin der Kybernetik war.
Die Zukunftsvision vieler Tech-Giganten einer paternalistisch geführten Welt fusst auf der Idee dieses Behaviorismus. Ein persönliches Journal „sämtlicher Handlungen, Entscheidungen, Vorlieben, Aufenthaltsorte und Beziehungen“ soll die Grundlage sein für ein System digitaler Assistenz, das KI-basiert auf jeden Einzelnen zugeschnittene „Handlungsempfehlungen“ ausspricht. Angesichts „zu komplexer Lebensverhältnisse“ gehen z. B. die Visionäre von Google von einer notwendigen Verhaltenssteuerung andernfalls nicht-rational handelnder Individuen aus – ein paternalistisches und rückschrittliches Menschenbild. Mehr Retrotopie, als technologie-affine Utopie.
Smart-City als Durchsetzungsrahmen
Realisiert sehen wir die teilweise geradezu „totalitär“ anmutende Rückbesinnung auf den Behaviorismus derzeit in vielen Smart-City Ansätzen – vorgeblich zugunsten einer vermeintlich besseren und ökologischeren Lebensweise:In einem Pilotprojekt in der als ökologische Vorzeigestadt in der Wüste Abu Dhabis konzipierte Retorten-Stadt Masdar City unter der Leitung von Professor Scott Kennedy (Masdar Institute) wurde bereits vor mehr als zehn Jahren der individuelle Energie- und Wasserverbrauch überwacht und verschiedene Anreizmechanismen zum Einsparen getestet. Grundvoraussetzung für das System war, dass in jeder Wohnung der Verbrauch von Strom sowie kaltem und warmem Wasser minutengenau gemessen wurde. Heute sind wir mit der Einführung der Smart Meter und zeitvariabler Stromtarife diesem Prototyp der ökologischen Verhaltenslenkung sehr nah.
Die „grüne“ Stadt“ Songdo in Südkorea findet in ihrem „technologisch deterministischen Ansatz“ als geschlossen gedachtes System keine Antworten auf die „komplexen Herausforderungen“ urbanen Lebens. Mit ihren rigide formalisierten Steuerungsparametern wird der grüne Smart City-Ansatz den unterschiedlichen Möglichkeiten verschiedener Bevölkerungsschichten beim Zugang zu städtischen Dienstleistungen nicht gerecht. „Die Stadt wurde derart vorrangig als technologisches System gedacht, dass soziale Dimensionen in Songdo's Smart-City-Vokabular gar nicht erst vorkamen.“ (Paul D. Mullins) 2
In mehreren Grossstädten Chinas wurde 2017 auf öffentlichen Toiletten eine Gesichtserkennung eingeführt, um den übermässigen Verbrauch an Toilettenpapier einzudämmen. Ein Automat händigt eine fest kontingentierte maximale Tagesmenge Toilettenpapier aus. Das klingt fast unglaubwürdig absurd: Ökologie-Erziehung mit schwerem Geschütz oder aber die gewöhnende Einübung einer permanenten Präsenz digitaler „Assistenz“? Beides sind gleichermassen ernst zu nehmende Motive. Jetzt mag mensch einwenden, dass China in Alleinstellung ja doch eh sämtliche Lebensäusserungen nutzt, um die KI-Algorithmen seiner „Sozialen-Punkte-Systeme“ mit möglichst vielen Alltags-Datensätzen zu füttern.
Das stimmt – bis auf die Alleinstellung. Manche europäische Smart-City-Projekte zur „Ökologisierung“ erscheinen da nur unwesentlich sinnvoller: Ein Pilotprojekt zur personalisierten Abfallentsorgung in den Niederlanden sollte RFID-gesteuert erkennen, wer berechtigt ist welche Mülltonne zu befüllen – angeblich um Missbrauch zu verhindern bzw. zu detektieren. Der Überwachungseifer zugunsten der Quantifizierbarkeit vermeintlich relevanter Parameter scheint auch ausserhalb Chinas extrem zu sein. Das Projekt wurde jedoch durch Verweigerung und Sabotage der Probanden (zunächst) wieder zu Fall gebracht.
Auch in Deutschland schätzen Technokraten die Möglichkeit einer versteckten top-down-Bevormundug zu umweltbewussterem Verhalten. So schreibt das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in einer Bestandsaufnahme unterschiedlicher Smart-City-Ansätze: „Um den Nutzer der städtischen Infrastrukturen zu bestimmten, zum Beispiel ökologisch wertvollen Verhaltensweisen zu motivieren, (...) testen die Städte verschiedene Anreiz- und Aktivierungsmodelle. Hier werden mithin neue Formen des städtischen Regierens in Form einer gewollten Steuerung von Verhaltensformen erprobt.“ (Smart Cities International, Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR))
Es ist skurril: Wir erleben aktuell einen „postfaktischen“ Zerfall der Realität in konkurrierende „Wahrheiten“ und gleichzeitig wird DIE Wahrheit – als faktisch verbindliche Lebensrealität – algorithmisch durchgesetzt, ohne wahrnehmbaren Expertenstreit und ohne gesellschaftlich ausgehandelte, transparente Regeln. Der nicht einsehbare Code einer Smartifizierung urbanen Lebens bestimmt schleichend und schwer angreifbar unser Verhalten.
Hierzu benötigt die Technokratie nicht einmal mehr einen Vertrauensvorschuss. Angesichts der Dringlichkeit eines irreversiblen Klima-wandels erscheint es überlebensnotwendig, sich von der Technokratie aktiv abzuwenden und anzuerkennen, dass eine grundsätzliche und einschneidende Änderung unserer Wirtschafts- und Lebensweise notwendig ist.