Vorbemerkungen
Um die Fragen sinnvoll beantworten zu können, kommt es zunächst darauf an zu klären, was mensch unter Fortschritt versteht:Ist Fortschritt so etwas wie ein hoffnungsvoller Blick auf die Menschheit im Glauben an und Vertrauen auf das Lernen aus Erfahrungen, und eine fortschreitende soziale und ökonomische Weiterentwicklung auf dieser Grundlage – trotz immer wiederkehrender Rückschläge? Dieser hoffnungsvolle Blick dürfte sich – zumindest was die dominierenden Teile der Menschheit angeht – angesichts der realen Entwicklung der Welt erledigt haben.
Die marktgläubige Variante des Schneller-Höher-Weiter, wonach sich die besten Unternehmer*innen mit ihren Innovationen und durch „schöpferische Zerstörung“ (Joseph Alois Schumpeter) am Markt durchsetzen, wenn der Staat sie nur lässt, überzeugt mich nicht. Ebenso wenig wie das vermeintlich naturgesetzlich gegebene „Überleben der Stärkeren“ (Charles Darwin). Dem stellte bereits Peter Kropotkin die „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ entgegen.
Ein vereinfachender deterministischer Glaube an die zwangsläufige Abfolge von Entwicklungen vom Feudalismus über den Kapitalismus zum Sozialismus und weiter zum Kommunismus, in dem Freiheit und Gleichheit für alle verwirklicht wären, hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil hat die vermeintlich notwendige Weiterentwicklung der Produktivkräfte massive Weltzerstörungen mit sich gebracht.
Überzeugend finde ich daher die Auffassung derjenigen, die – wie beispielsweise die Herausgeber*innen des 2023 auf Deutsch erschienenen „Pluriversum – Ein Lexikon des guten Lebens für Alle“ – die existenzbedrohenden Krisen darauf zurückführen, dass sich grosse Teile der Menschheit von ihrem Dasein als Teil der Natur und der damit verbundenen Verantwortung verabschiedet haben. Verbunden ist diese Sichtweise mit einer fundamentalen Kritik an einem Fortschritt, der gekennzeichnet ist durch Patriarchat, Kolonialismus und Extraktivismus, Produktivismus, Wirtschaftswachstum und profitorientierte kapitalistische Marktwirtschaft sowie autoritäre und militarisierte Nationalstaatlichkeit.
Die Herausgeber*innen verstehen das Pluriversum als Fortsetzung des 1993 erschienenen Buchs „Wie im Westen so auf Erden: Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik“, in dem verschiedene Autor*innen ausführliche Kritiken an Fortschritt und Entwicklung formulierten und dessen Herausgeber Wolfgang Sachs für das Pluriversum-Buch einleitend den Beitrag „Anstelle eines Vorworts – Das Development Dictionary im Rückblick“ verfasste.
Der marxistische Philosoph Kohei Saito beschreibt in „Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“, dass er schon schon im Spätwerk von Karl Marx Anzeichen für ökologische Einsichten sieht. Eine Produktivkraftentwicklung habe der späte Marx nicht mehr als notwendige Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt gesehen.
Letztlich ist das, was wer unter Fortschritt versteht und wie mensch das bewertet, abhängig von der jeweiligen Interessenlage. Ein Fortschrittsbegriff, den ich als positiv bewerten würde, geht in die Richtung dessen, was im Pluriversum-Buch an vielfältigen Alternativen aufgezeigt wird. Wünschenswerter Fortschritt wäre zunächst eine Verneinung des Bestehenden, er wäre antipatriarchal-feministisch, antikolonial und antiextraktivistisch. Positiv betrachtet würde er vorrangig auf lokalen Ökonomien und genügsamer Erfüllung von Bedürfnissen basieren. Entscheidungen über die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft würden basisdemokratisch in globaler Solidarität und Verbundenheit getroffen. Ein solcher Fortschritt wäre gewaltfrei und antimilitaristisch, also das genaue Gegenteil von dem, was wir heute erleben und was zur existenzbedrohenden Katastrophe zu werden droht.
Ich finde es interessant, inspirierend und notwendig, sich mit der Frage des Fortschritts auseinanderzusetzen und Gedanken in die Welt zu bringen, die dem herrschenden, scheinbar alternativlosen Fortschritts-Narrativ – wie es aktuell in Form von profitablen Scheinlösungen für einen Grünen Kapitalismus verbreitet wird – etwas entgegenzusetzen. Insofern bin ich gespannt auf das Buch und trage gerne ein paar Gedanken dazu bei, indem ich auf die folgenden Fragen eingehe.
AS: Gab es in den letzten 200 Jahren überhaupt einen Fortschritt, oder ist das nicht nur eine bürgerlich-kapitalistische Ideologie?
Das hängt davon ab, was mensch unter Fortschritt versteht (s.o.), denn die entscheidende Frage ist ja: was schreitet fort, wessen Interessen werden dadurch bedient, und wer sind evtl. die Opfer? Es kommt auch darauf an, welche Weltregionen betrachtet werden, und auch dort, wo es in manchen gesellschaftlichen Bereichen vielleicht Fortschritte gibt, sind die wohl eher nicht linear verlaufen, sondern es gab und gibt auch immer wieder Rückschritte.
Wenn ich einen positiven Begriff von Fortschritt nehme (s.o.), dann würde ich beispielsweise in einigen Teilen der Welt die Verbesserung der Frauenrechte benennen, wobei Gleichstellung in patriarchalen Gewaltstrukturen eine sehr differenzierte Betrachtung bräuchte. Ich finde es wichtig, die Frage differenziert zu betrachten. Für Frauen kann die anonymisierende Marktwirtschaft auch Befreiungspotenziale beinhalten, wenn sie durch die Teilnahme am Erwerbsarbeitsprozess repressiven Familien- und Gemeinschaftsstrukturen entfliehen können. Sie sind aber auch damit nicht wirklich befreit.
Auch die Menschenrechte haben – so weit ich es einschätzen kann – in Teilen der Welt Fortschritte gemacht. Gleichzeitig werden sie immer wieder für die Legitimation imperialer militärischer Interventionen missbraucht – beispielsweise in der Zeitenwende 1999, als die Bundeswehr sich zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an einem Krieg – dem völkerrechtswidrigen Kosovokrieg – beteiligte. Bei allem echten oder vermeintlichen Fortschritt sollte nie vergessen werden, dass sich gleichzeitig die erschütterndsten Abgründe von Gewalt und Menschenverachtung aufgetan haben und weiterhin auftun, mit fortgesetzter Sklaverei in verschiedenen Formen, kolonialem und faschistischem Massenmord in vielerlei Form.
Einen Grossteil dessen, was als wissenschaftlich-technischer Fortschritt gilt, würde ich sehr kritisch betrachten, allerdings nicht alles über Bord werfen wollen. Das grösste Problem sehe ich in der Einbettung in gesellschaftliche Strukturen, die geprägt sind von patriarchalen Machbarkeitsvorstellungen und Naturbeherrschung, sowie in der Finanzierung von Forschung und Entwicklung im Interesse profitabler Verwertung und Herrschaft und der entsprechenden Nutzung der Ergebnisse. So wird das wunderbare Potenzial menschlicher Kreativität zur zerstörerischen Kraft.
Beispiele sind die Atomforschung, die nebenbei zu riskanter Energiegewinnung und vorrangig für militärische Interessen (Bau von Atomwaffen) dient. Oder die Digitaltechnologie mit ihrer 0-1-0-1-Entweder-Oder-Logik, die auch militärischen Ursprungs ist (Joseph Weizenbaum) und heute mit „Social“ Media Sozialität und Gemeinschaftlichkeit zerstört, Überwachung, Repression und Militarisierung (incl. extralegale Tötungen) optimiert. Dass das Smartphone für Flüchtende auch ein Überlebensmittel darstellt, ist für mich kein Gegenargument, sondern hat Feuerwehrfunktion: Würden nicht die Lebensgrundlagen im Globalen Süden zerstört (z.B. für die Gewinnung von Rohstoffen für die Digitalproduktion), dann müssten auch nicht so viele Menschen fliehen. Und dass ich grosse Teile meines Lebens in digitalen Welten zubringe, obwohl ich keine „Sozialen“ Medien nutze, aber eben viel recherchiere, sehe ich selbst ziemlich kritisch, wollte aber auch nicht darauf verzichten. Es ist also alles ganz schön ambivalent.
Auch vieles in der Medizin, was gemeinhin als Fortschritt gilt, sehe ich sehr kritisch, vor allem die profitable Pharma- und Apparatemedizin, verbunden mit dem Verlust von erfahrungsheilkundlichem Wissen und dem zunehmenden Verschwinden einer ganzheitlichen Sichtweise. Die Entwicklung von Antibiotika halte ich für einen positiven Fortschritt, der sich aber selbst zerstört durch den überbordenden Einsatz und die damit verbundenen Resistenzen. Auch die bewundernswerte Entwicklung der Operationskunst hat ihre zerstörerische Rückseite in oft viel zu schnellen und viel zu vielen unnötigen Eingriffen. Auch das ist wieder ambivalent.
Für die Entwicklung von Gleitsichtbrillen und Hörgeräten bin ich – aus eigener Erfahrung – sehr dankbar. Allerdings sind mir manche Hörgeräte technisch zu oversized. Grundsätzlich sehe ich mich eher als Anhängerin von Low Tech. Gentechnik und Transhumanismus sind für mich patriarchale Anmassungen von Gottgleichheit (auch wenn ich nicht gläubig bin) und Naturbeherrschung.
AS: Kennt Ihr die Kritik am Fortschrittsgedanken, die ihm vorwirft, derartige negative Entwicklungen zu rechtfertigen? Welche?
Da verweise ich auf das oben bereits genannte Pluriversum-Buch, das wir im letzten Jahr ins Deutsche übersetzt haben und zu dem ich 2023 die Beiträge „Hat die Menschheit noch eine Chance?“ und „Pluriversum: hoffnungsvolle Stimmen aus aller Welt“ im Postwachstumsblog veröffentlicht habe. Und auf das ebenfalls oben genannte von Wolfgang Sachs herausgegebene Vorgängerbuch von 1993: „Wie im Westen so auf Erden“.
AS: Welche dieser Kritiken unterstützt ihr (warum?), bzw. welche kritisiert ihr (warum?)?
Dazu habe ich oben schon einiges geschrieben.
AS: In welchem Sinne könnten wir uns vielleicht doch noch positiv auf den „Fortschritt“ beziehen?
Nicht auf „den“ Fortschritt, sondern „wir“ sollten genauer beschreiben, was „wir“ damit meinen. Und gut überlegen, warum und wie „wir“ das tun (s.u.).
AS: Falls es für Euch noch Fortschritt im positiven Sinne gibt: Was würde in 50 Jahren passiert sein, wenn die Menschheit bis dahin einen Fortschritt durchlaufen würde?
Ach ja, wenn ich mal von einer besseren Welt träume: Es hätte sich die Auffassung durchgesetzt, dass unterschiedslos jedes Leben gleich zählt, es gäbe keine Hierarchisierung zwischen Menschen und auch keine Gewalt gegen die Natur mehr. Also keine Kriege, keine Massentierhaltung, keinen Extraktivismus. Auch keine Konzerne, und Nationalstaaten gäbe es allenfalls noch rudimentär, aber Entscheidungen würden basisdemokratisch von Räten getroffen, die über die grösstenteils lokale Produktion des Lebensnotwendigen auf einem deutlich einfacheren Niveau entscheiden.
Die Wirtschaft wäre nicht ent-industrialisiert, aber die meisten Produkte, die heute hergestellt werden, gäbe es nicht mehr, weil sie sinnlos, von minderer Qualität und/oder zerstörerisch sind. Rohstoffe müssten schonend vor Ort gewonnen und zu qualitativ Hochwertigem verarbeitet werden, die globale Arbeitsteilung wäre weitgehend abgeschafft. Was regional und selbstbestimmt produziert wird – vorrangig Endprodukte, mitunter auch Zwischenprodukte und Bauteile – kann mit anderen Regionen ausgetauscht werden.
Ob und wie weit das über Plan- oder Marktwirtschaft, oder vielleicht ganz anders funktioniert, das entscheiden die Beteiligten selbst. Es gäbe einen Schub an Selbstermächtigung und Selbstvertrauen dadurch, dass Menschen ihr Leben wieder wörtlich „in die eigenen Hände“ nehmen. Das Verhältnis zwischen Kopf- und Handarbeit würde sich zugunsten körperlicher Arbeit verändern, und körperliche Arbeit in der Produktion und im Care-Bereich würde eine deutliche gesellschaftliche Aufwertung erfahren.
Ob diese Arbeit noch als Erwerbsarbeit, oder schon im Sinne eines „Beitragen statt Tauschen“ geleistet wird, entscheiden die Beteiligten. In jedem Fall wäre die Arbeit würdig und selbstorganisiert, und hätte wahrscheinlich etwa den Umfang einer halben Stelle heute.
So eine Menschheit wäre auf dem Weg in ein Gutes Leben für Alle. Für den Globalen Norden kann ich mir zunächst einen materiellen Lebensstil wie etwa in den 60/70er-Jahren in Westeureupa vorstellen, aber deutlich gemeinschaftlicher bzw. gesellschaftlicher organisiert. Der Schwerpunkt läge auf öffentlichen Leistungen für alle. Andere tps://www.postwachstum.de/postwachstumsokonomie-als-demokratische-herausforderung-20110731onen und Kulturen würden vielleicht ganz andere Schwerpunkte setzen. Dreh- und Angelpunkt wäre die herrschaftsfreie gesellschaftliche Selbstbestimmung entlang von Bedürfnissen und Notwendigkeiten.
2011 hatte ich mit Bezug auf Solidarische Ökonomie im Postwachstumsblog im Beitrag „Postwachstumsökonomie als demokratische Herausforderung“ geschrieben:
„Sie lässt sich nicht von oben verordnen, sondern entsteht, indem Menschen sich die wirtschaftlichen Prozesse aneignen, die sie zum Leben benötigen. Im Immobiliensektor, in Land- und Energiewirtschaft, im Handwerk und Dienstleistungsbereich gibt es unzählige, meist kleine Ansätze anderen Wirtschaftens. Was wird sich in den Zukunftsbranchen Mobilität und Kommunikation demokratisch entwickeln? Wie wird zum Beispiel der Flugverkehr funktionieren, wenn er nicht mehr Gewinne abwerfen, sondern Bedürfnisse befriedigen soll? Werden auch unter wirtschaftsdemokratischen Bedingungen weiterhin Seltene Metalle verwendet? Und wann werden Menschen aufhören, ihre kostbare Lebenszeit mit der Entwicklung und Produktion von Waffen zu vergeuden?“
Ich „gestehe“ bis heute, dass ich bewundernd davor stehe, dass Menschen den Traum vom Fliegen wahr machen konnten, bewundere immer wieder, dass Flugzeuge oben bleiben und finde nicht, dass „wir“ solche Techniken nicht nutzen sollten. Ich bin also keine Low Tech-Fundamentalistin. Die Frage ist vielmehr: Wie, wer, wofür und wie viel.
Gleichzeitig finde ich die Konvivialitäts-Gedankenwelt von Ivan Illich und denen, die seine Überlegungen pflegen und weiterentwickeln – zum Beispiel in der Stiftung Convivial – sehr spannend. Ich muss ja nicht mit allem übereinstimmen, sehe da aber einiges Diskussionswürdiges und Zukunftsweisendes für einen positiv verstandene Fortschritt.
Wie ich mir für mich persönlich einen Tag in meinem Leben im Jahr 2048 vorstelle, habe ich 2021 in der Graswurzelrevolution im Beitrag „Ein Tag im Jahr 2048 – Die Menschheit wird fürsorglicher oder sie wird nicht mehr sein“ geschrieben.
AS: Wie sind Veränderungen im Zeitverlauf zu werten, wenn der Fortschritts-Gedanke aufgegeben wird?
Da es nicht „den“ Fortschritts-Gedanken gibt, fällt es mir schwer, die Frage zu beantworten. Dafür wären – anstelle eines nur vermeintlich objektiven Fortschritts-Begriffs – konkrete Kriterien (qualitativ und quantitativ) als Massstab nötig.
AS: Gab es in Deiner Familiengeschichte, insbesondere in der Lebenswirklichkeit der Frauen darin, so etwas wie „Fortschritt“?
Unbedingt! Meine Grossmutter mütterlicherseits wurde noch von ihrer deutschrussischen Familie zwangsverheiratet, gegen ihr verzweifeltes Bitten und Flehen, weil sie diesen wesentlich älteren Mann auf keinen Fall wollte. Meine Mutter musste nach 8 Jahren von der Schule abgehen und als Haushaltshilfe Geld verdienen, dabei hätte sie so gerne mehr gelernt. Dann hat sie geheiratet, weil alle in ihrem Umfeld meinten, mein Vater sei eine gute Partie. Sie war unglücklich in der Ehe, hätte gerne in einem Krankenhaus gearbeitet, was mein Vater ihr aber verboten hat. Mit uns zwei Kindern hat sie sich nicht getraut sich zu trennen. Nach seinem Tod ist sie aufgeblüht und hatte noch fast 30 schöne Jahre.
Da habe ich es schon viel besser, habe immer gemacht was ich wollte, bin aber auch aus guten Gründen in den 90ern – als ich im anarchistischen Projekt A in Neustadt an der Weinstrasse / WESPE (Werk selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen) war – zur erklärten Feministin geworden. Auch meine Tochter lebt ihr Leben und hat ganz selbstverständlich feministische Einstellungen, ohne das gross rauszuhängen.
AS: Gibt es ohne die Erwartung von Fortschritt überhaupt Hoffnung?
Gegenfrage: Warum ist es so schwer sich vorzustellen, dass es erstrebenswert sei, mit dem was ist glücklich zu sein – ganz entspannt im Hier und Jetzt? Gibt es vielleicht so etwas wie eine psychologische oder kulturelle Fortschritts-Pathologie, also die Annahme und Erwartung, es müsse sich ständig etwas ändern, immer noch etwas anderes kommen, weil das Bestehende nicht gut genug ist?
Ich würde da zwischen meinem eigenen schönen Leben und der Welt unterscheiden, und bei der Welt auch nochmal deutliche Unterschiede machen zwischen meinem überwiegend angenehmen engen und weiteren persönlichen Umfeld – menschlich und sozial/gesellschaftlich, materiell und infrastrukturell etc. – und der grossen Welt – national, europäisch und weltweit – die ich ganz überwiegend zum Verzweifeln finde und wo es mir schwerfällt, hoffnungsvoll zu sein. Und trotzdem … ich versuche, kleine Teile beizutragen.
AS: Kennt Ihr den Begriff einer allgemeinen „Geschichtsphilosophie“ und was haltet Ihr davon?
Nein, den Begriff kenne ich nicht.
AS: Welche anderen Fragen zum Begriff „Fortschritt“ fallen Euch ein?
Zum Beispiel:
- Warum ist die Frage nach dem Fortschritt wichtig – oder: ist sie überhaupt wichtig? Brauchen „wir“ den Fortschritts-Begriff, und wenn ja: wofür?
- Welche Erkenntnis-, Handlungs- oder Transformationspotenziale stecken in der Fortschritts-Frage drin?
- Welche ideologischen Fallen stecken in der Vorstellung von Fortschritt im Sinne von alles verändert / verbessert sich, und der Überzeugung, dass es auch so sein muss? Neben patriarchal-konkurrentem Schneller-Höher-Weiter steckt das zum Beispiel auch in der japanischen Kaizen-Ideologie mit ihrer Null-Fehler-Toleranz – ist es nicht menschlich, sich zu irren und Fehler zu machen, ja ist das nicht ein Kennzeichen von Menschen, nicht perfekt zu ein? Fehlerfrei sind (vielleicht / theoretisch) Roboter.
- Wie konnte es gelingen, dass vieles, was als fortschrittlich gilt, sich mit dem Neoliberalismus verbunden hat? Dazu haben die Blätter 2017 den immer noch sehr lesenswerten Beitrag „Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus“ von Nancy Fraser veröffentlicht.
- Und wie kommen „wir“ da wieder raus?
- Welche Akteure sind weltweit unter dem Label „progressiv“ unterwegs und wie sind sie einzuschätzen bzw. mit wem könnte mensch sich (zumindest partiell) verbünden? Beispielsweise steht die „Progressive Internationale“ politisch immerhin auf der richtigen Seite und gegen den Neoliberalismus.
- Wie könnte sich ein Austausch zu all diesen Fragen organisieren, und was könnte daraus folgen?
Abschliessende Gedanken
Während ich meine Antworten für die Veröffentlichung im untergrundblättle abschliessend bearbeite, frage ich mich, was dieses Nachdenken, Schreiben, diese Form des Gedankenaustauschs mir bedeutet, heute, in dieser Zeit. Ich lasse mich gerne inspirieren, nehme mir Zeit dafür, aber manchmal kommt mir das so irreal vor, mich – während die Kriegsvorbereitungen auf Hochtouren laufen – zuhause am Laptop zu verstecken, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Oder habe ich längst resigniert, glaube nicht mehr, dass sich gegen das, was „die da oben“ tun, noch irgend etwas ausrichten lässt?Bis auf Weiteres möchte ich zumindest jeder meiner Veröffentlichungen Hinweise auf die „Zeitung gegen den Krieg“ und auf die Initiative „Nie wieder Krieg!“ hinzufügen. Bitte unterschreibt deren „Berliner Appell: Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt“ https://nie-wieder-krieg.org/berliner-appell/ Damit „wir“ uns auch weiterhin über Fragen, die uns bewegen, austauschen können.