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CompassCollective: BoatSpotting im Mittelmeer. Segeln gegen die Festung Europa.

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Es ist keine Rettungsschlacht – Segeln gegen die Festung Europa CompassCollective: BoatSpotting im Mittelmeer

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Gesellschaft

Seit dem 25. August 2023 unterstützen Aktivist:innen des CompassCollective die Rettung von Flüchtenden auf dem Mittelmeer.

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Foto: CompassCollective/boatspotting.org

Datum 18. Dezember 2023
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„Mit unserem Segelboot finden dreiwöchige Beobachtungseinsätze statt, bei denen wir Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, nach Seenotfällen Ausschau halten und bei Rettungseinsätzen von grösseren (Rettungs-) Schiffen assistieren. Im Notfall retten wir“, beschreibt Katja Tempel die Arbeit ihres Kollektivs.

„… it is not a rescue battle“, dieser Satz fiel in der Auswertungsrunde nach dem ersten Einsatz des CompassCollective in Licata auf Sizilien. Er war die Antwort auf die Frage, ob die Crew des Segelbootes Trotamar III enttäuscht sei, in ihrem Einsatz noch keine Menschenleben gerettet zu haben, sondern auf der Route zwischen Tunesien und Lampedusa einfach nur präsent gewesen zu sein und dokumentiert zu haben.

Seit August 2023 ist das wendländische Compass-Collective [1] ein neuer Akteur im Reigen der Seenotrettungsorganisationen, die die Civil Fleet [2] im Mittelmeer bilden. Schon 2016 wurde der Verein Grenzenlos – People in Motion e.V. gegründet, um People on the Move auf der Balkanroute zu unterstützen. Jetzt bietet er den formalen Rahmen für das neue Projekt BoatSpotting. Die Kerngruppe des Kollektiv besteht bisher aus drei Aktivist:innen, die mit Privatdarlehen und Spenden ein Segelboot erworben haben und dieses mit vielen „Werftarbeiter:innen“ umgebaut haben, damit es ausgerüstet ist, um Such- und Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer zu segeln.

Wir haben bewusst den Namen Collective gewählt, um deutlich zu machen, dass wir alle wichtigen Entscheidungen im Konsens treffen, hierachiearm miteinander arbeiten wollen und einen linken Politikansatz haben. In unserem ersten Positionspapier formulierten wir: „Wir stellen unsere Arbeit in den globalen Zusammenhang von Kritik an struktureller Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und kapitalistischen Wirtschafts- und Denkstrukturen. Wir solidarisieren uns mit allen emanzipatorischen Bewegungen weltweit.“

Dieser Aspekt ist uns sehr wichtig, holt er nämlich unser Handeln aus einer reinen humanitären Hilfe raus in das Feld der antikapitalistischen und grenz- und staatskritischen Bewegung. Konkreter: „Wir halten die EU-Binnen- und Aussengrenzen für institutionalisierten Rassismus.“ Wenn wir Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer fahren, ist das nicht nur Einzelfallhilfe für Schiffbrüchige, sondern unser Handeln kritisiert gleichzeitig staatliche Abschottungspolitik und sorgt dafür, dass die Reise für Menschen ein bisschen sicherer wird. Wir nutzen unsere Privilegien als weisse cis-Menschen, mit dem zweitmächtigsten Reisepass der Welt, um Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben zu unterstützen.

Die Trotamar III, ein 13 Meter langes, wendiges Segelboot, ist in den letzten Wochen für die maritime Nothilfe ausgerüstet worden: An Bord liegen 230 Rettungswesten, schnell erreichbar in der vorderen Kajüte; zwei lange Rettungsschläuche (Centifloats) sind am Bug seitlich befestigt, um jederzeit ins Wasser gelassen werden zu können; fünf Rettungsinseln warten auf ihren Einsatz. Auch dabei sind 300 Liter Trinkwasser in handlichen 0,5 Liter-Flaschen sowie Müsliriegel als Notfallverpflegung für Flüchtende auf dem Wasser.

Unsere Aufgabe sehen wir in erster Linie darin, seeuntaugliche Boote zu stabilisieren, die Menschen an Bord mit Rettungswesten und Wasser auszurüsten, Hilfe herbeizuholen, in dem wir einen May Day Relay Notruf absetzen. Im Ernstfall retten wir auch selber, indem wir zusätzlich zum Einsatz unserer Rettungsmittel auch bis zu 30 Menschen an Bord nehmen können.

Wir haben bewusst den Namen Collective gewählt, um deutlich zu machen, dass wir alle wichtigen Entscheidungen im Konsens treffen, hierachiearm miteinander arbeiten wollen und einen linken Politikansatz haben.

Wir suchen aktivistische Crewmitglieder, die drei Wochen Zeit haben, um sich an einem Einsatz zu beteiligen. In Licata auf Sizilien haben wir unser Crewquartier und unseren Heimathafen. Hier liegen auch andere Schiffe der Seenotrettungsgruppe, wie die Mare*Go von Zusammenland e.V. und ein weiteres Segelboot, die Imara von r42-sail and rescue. In Licata findet die mehrtägige Vor- und Nachbereitung statt, bevor es aufs Wasser geht, um dort weitere Segel- und Rettungsmanöver zu üben.

Auf dem Weg nach Lampedusa wird weiter geübt, bevor dann die SAR (Search and Rescue)- Zone erreicht ist. Wir arbeiten eng zusammen mit Alarmphone, der Luftüberwachung von Airborne (Sea Watch) und den anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die im selben Einsatzgebiet unterwegs sind. Wir bewegen uns auf der Route Richtung Tunesien den Fluchtbooten entgegen segelnd vorwärts und suchen selber mit Ferngläsern das Meer nach Seenotfällen ab. Auf Grund der restriktiven italienischen Ausgrenzungspolitik müssen wir in sehr enger Abstimmung mit der Italienischen Küstenwache aus Lampedusa agieren, da ansonsten eine mögliche Strafverfolgung wegen Schlepperei möglich ist.

Zum Glück sind Rom mit der neofaschistischen Regierung und die dortige Rettungsleitstelle für den Mittelmeerraum weit weg von dem kleinen Korridor zwischen Tunesien und Lampedusa. Und je weiter entfernt von Rom, desto menschlicher werden staatliche Seenotretter:innen.

Die kriminalisierende Politik der italienischen Regierung fusst im Kern auf einem Dekret von Innenminister Matteo Piantedosi: Die Schiffe müssen erstens nach einer Rettungsaktion direkt einen vorgegebenen Hafen ansteuern und dürfen keinem weiteren Notruf folgen. Dabei wird den NGO-Booten häufig ein Port of Safety (Sicherheitshafen) mehr als 1000 Kilometer entfernt von der Aufnahmeposition zugewiesen.

Die grossen Schiffe wie die Sea Eye 4 oder die Geo Barent sind dann tagelang unterwegs, verheizen enorm viel Sprit und können in der Zeit keine weiteren Rettungen vornehmen. Das Dekret verbietet zweitens, dass Schiffe ihre Geretteten auf ein anderes Schiff übergeben, sogenanntes Transshipment. Drittens sollen die Geflüchteten Asyl bei den Staaten beantragen, unter deren Flagge die NGO-Schiffe fahren.

Wenn die NGOs den Kodex missachten, sieht das Dekret Geldbussen von bis zu 50.000 Euro vor. Obendrein droht ihnen, dass ihre Schiffe bis zu zwei Monate an die Kette gelegt werden. So erging es zum Beispiel der Mare*Go für 20 Tage. Zusätzlich gab es ein Bussgeld von 3000 Euro. Im Wiederholungsfall könnte die italienische Regierung Boote sogar endgültig beschlagnahmen, wie 2017 die Juventa. Zum Glück sind wir nur ein kleines Segelboot, wir werden sehen, wie die Behörden mit uns umgehen.

Auch die italienische Zivilgesellschaft ist eine wichtige Akteurin in der Einwanderungspolitik. So antwortete Innenminister Piantedosi, befragt bei einer Uni-Veranstaltung, warum er keine restriktivere Flüchtlingspolitik durchsetzen würde, dass er Rücksicht auf die Wähler:innen nehmen müsse, die eine Willkommenskultur leben würden. Auch das gibt es in Italien: Kritische Menschen, die sich nicht von der menschenfeindlichen Regierungslinie beeinflussen lassen.

Bei der Arbeit für dieses neue Graswurzelprojekt begegnen uns viele Herausforderungen, von den wir einige hier benennen wollen:

Innerhalb der Seenotrettungsszene ist es üblich, in der Vernetzungssprache Englisch zu kommunizieren. Dies bringt allerdings eine Sprache zutage, die höchst militarisiert ist. Es ist häufig die Rede von „Operation“, „Mission“, „Fleet“, „to patrol“. Noch stören wir uns an diesen Begrifflichkeiten, weil sie uns fremd sind und wir raus aus dieser militarisierten Sprache möchten und auch aus einem Denken, das damit verbunden ist. Doch häufig gibt es keine genaue Entsprechung im Deutschen bzw. auch das deutsche Wort ist aus dem Militärischen entstanden. Wir versuchen eine möglichst entmilitarisierte Sprache zu finden, aber ist das Wort „Einsatz“ besser als das Wort „Mission“?

Ein anderer Knackpunkt ist unsere politische Haltung gegenüber Frontex, der europäischen Grenzsicherungsinstitution. Wir lehnen Frontex als militarisierte Sicherungstruppe der Festung Europa ab, allerdings würden wir im Rettungsfall auf See mit Frontex, wie auch mit der italienischen Küstenwache zusammenarbeiten. Dann geht es um Menschenleben und unsere Kritik kann pausieren und muss auch kommunikativ über Funk nicht deutlich werden.

Innerhalb der Civil Fleet sind die Positionen zu Frontex unterschiedlich. Und wahrscheinlich sind wir dort zu divers aufgestellt, um eine gemeinsame Position zu finden. So kann die Civil Fleet nicht zu einem kräftigen Akteur gegen europäische Abschottungspolitik werden, sondern wird in ihrer Breite eher humanitär wahrgenommen werden. Einzelne Aktivist:innen und Nichtregierungsorganisationen erheben aber trotzdem laut und deutlich die Forderungen nach Bewegungsfreiheit (Freedom of Movement) und Abschaffung von Frontex (Abolish Frontex).

Aus dem wendländischen Widerstand und anderen Protestbewegungen kommend, gehört für uns zu direkten Aktionen immer auch das Bewusstsein für gruppeninterne Dynamiken und mögliche genderspezifische Zuweisungen oder sogar Übergriffe auf der Hinterbühne der Aktionsgruppe dazu. In den letzten 15 Jahren entstanden, zum Beispiel auch bei X-tausendmal quer, Awarenesstrukturen wie „Out of Action“, die wir insbesondere dann als wertvoll erlebt haben, wenn sie das rein Restriktive hinter sich lassen und konstruktiv Menschen unterstützen und für eine soziale Weiterentwicklung der internen Beziehungen und damit auch der politischen Wirksamkeit sorgen können. Diese Awarenessarbeit haben wir als erste aktivistische NGO mit in unsere Aufgabenteilung an Bord hineingenommen.

Das bedeutet, neben medizinischen Kräften, Techniker:in, Skipper:in, Köch:in und Mediaperson, suchen wir auch eine „Fachkraft“ für Awareness. Diese Rolle wird dann zusammen mit einer anderen, z.B. als Beiboot-Fahrer:in wahrgenommen. Diese Aufgabe wird sich entwickeln, noch wissen wir nicht, ob sie in einer sechs-köpfigen Crew wirklich notwendig ist. Aber wir merken, dass Crewbewerbungen u.a. durch diesen aktivistischen Ansatz bei uns eingehen.

Seit Januar 2023 arbeiten wir zu dritt an diesem Projekt. Am 20. September 2023 startete unsere zweite Crew mit der Vorbereitung in Licata. Für die dann folgenden Einsätze suchen wir weitere aktive Segler:innen oder in Seenotrettung erfahrene Menschen, die drei Wochen Zeit haben und unser CompassCollective unterstützen. Mit euch segeln wir gegen die Festung Europa, für die Würde der Menschen – nicht nur der Menschen auf der Flucht, sondern auch, um unsere eigene Würde zu bewahren, die beschädigt wird, würden wir tatenlos zusehen. Wir segeln für Freedom of Movement, für sichere Passagen und das Einreissen aller Grenzen und Grenzanlagen.

Katja (CompassCollective) / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 482, Oktober 2023, www.graswurzel.net