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Meine Pandemie

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„Jeder ist der Mittelpunkt der Welt, aber eben jeder“ (Elias Canetti) Meine Pandemie

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Gesellschaft

Meines Wissens bin ich bis heute noch nicht mit dem Coronavirus infiziert worden.

München, Hinweis zum Parkplatz des Covid-19-Impfzentrums auf dem Messegelände.
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München, Hinweis zum Parkplatz des Covid-19-Impfzentrums auf dem Messegelände. Foto: Renardo la vulpo (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 8. Februar 2022
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Seit Ausbruch der Pandemie habe ich auf Verdacht hin zwei PCR-Tests von meinem Hausarzt durchführen lassen sowie selber routinemässig unzählige Schnelltests durchgeführt. Die Praxis, in der ich arbeite, hat die Versorgung bislang ohne Unterbrechung aufrechterhalten können. Für die angestellten Psychotherapeut:innen besteht Präsenzpflicht, selbst Videosprechstunden sind vor Ort durchzuführen. Unser neunköpfiges Praxisteam ist inzwischen dreifachgeimpft; in der Woche müssen zwei negative Schnelltests vorgelegt werden.

In den Innenräumen gelten die Hygieneverordnungen des Bundesministeriums für Gesundheit. Auf den Handgruss wird verzichtet, die Einhaltung eines Mindestabstands sowie das Tragen einer Schutzmaske sind verpflichtend; nach den fünfzigminütigen Sitzungen muss gelüftet werden, Türgriffe und andere Oberflächen sind regelmässig zu reinigen; im Flur wurden Desinfektionsmittelspender angebracht. Die Patienten werden gebeten, pünktlich zu ihren Terminen zu erscheinen; im Wartezimmer dürfen sich maximal zwei Personen desselben Hausstandes befinden, andernfalls muss bis zur vollen Stunde vor der Eingangstür gewartet werden. Seit Herbst letzten Jahres ist der Impfstatus zu Beginn und während einer laufenden Behandlung zu erfragen.

Mit schriftlichem Einverständnis des Patienten ist es möglich, sich während der Sitzungen von der Maskenpflicht zu befreien, wenn eine fachgerechte Behandlung anders nicht mehr gewährleistet werden kann. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, machen alle Therapeut:innen und Patient:innen von dieser Regelung Gebrauch. Im Falle einer Infektion mit SARS-CoV-2 dürfen nur noch Videosprechstunden erfolgen, bis der oder die Erkrankte als genesen gilt; selbst auf blossen Verdacht des jeweiligen Behandlers hin kann von einer Präsenzsitzung abgesehen werden. Gruppentherapieangebote sind aufgrund fehlender Raumbedingungen entfallen. Vor kurzem habe ich mich gegenüber einer psychiatrischen Klinik dazu bereit erklärt, einen akut suizidalen Patienten neben meinen laufenden Behandlungen aufzunehmen.

Bisher mussten weder meine Frau noch ich in Quarantäne. Im Sommer 2020 sind wir mit unseren zwei Kindern für eine Woche nach Meudon gefahren. Im Anschluss haben wir zwei Wochen mit meinen Eltern und meiner Schwester in der Bretagne verbracht; die Region zählte zum damaligen Zeitpunkt nicht zu den Risikogebieten. Alle weiteren Reisen, die wir danach unternommen haben, beschränkten sich auf Familienbesuche oder kleinere Ausflüge vor Ort. Im April habe ich meine erste, im Mai meine zweite Impfdosis erhalten; die Auffrischungsimpfung erfolgte im November 2021.

In unserer Verwandtschaft sind zwei Erwachsene ungeimpft. Unter unseren Freunden und Bekannten gibt es zwei Ehepaare, die auf das körpereigene Abwehrsystem vertrauen und die gesundheitspolitischen Massnahmen als übergriffig empfinden. Von meiner Arbeit her sind mir zwei weitere Ehepaare bekannt, die das Impfangebot bisher abgelehnt haben. Ansonsten sind alle Leute, Kinder unter zwölf Jahren ausgenommen, vollständig geimpft und vermutlich auch schon geboostert (ich habe nicht nachgefragt, die meisten erzählen es von selbst).

Insgesamt kenne ich vierzehn Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Es handelt sich um zwei Frauen mittleren Alters sowie deren Kinder, jeweils zehn und elf Jahre alt, eine Frau um die Fünfzig sowie ein neunjähriges Mädchen, die sich im letzten Quartal mit der Delta-Variante infiziert haben; zudem um einen zwanzigjährigen Studenten, der sich bei mir in psychotherapeutischer Behandlung befindet, ein befreundetes Ehepaar mit ihren zwei Kindern von drei und fünf Jahren, eine Mutter und ihren siebenjährigen Sohn sowie eine Frau Mitte Dreissig im Januar 2022 mit der Omikron-Variante.

Alle Erwachsenen waren zwei- oder dreifachgeimpft. Soweit ich weiss, gehört keine der Personen, eine Adipöse ausgenommen, zur Risikogruppe; sie hatten einen „milden Verlauf“ (Schnupfen, Husten, Schüttelfrost) und gelten inzwischen als genesen. Zwei der infektiösen Kinder hatten über 39 Grad Fieber; Frau F. sagte mir, dass sie grosse Angst gehabt habe, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Am 19. Juni 2021 ist unsere damals elfmonatige Tochter bei meiner Schwägerin im Swimmingpool ertrunken; sie konnte reanimiert werden und hat keinerlei Folgeschäden davongetragen. Das erste Lebenszeichen, das wir am Eingang der Intensivstation von ihr erhielten, war ein schriftlicher Nachweis über einen negativen Coronatest.

Innerhalb des genannten Zeitraums sind zwei Nachbarinnen von uns, jeweils 91 und 93 Jahre alt, an Altersschwäche verstorben: Frau K. im Frühjahr 2020, als noch ein Besuchsverbot in den Kliniken galt, Frau T. Ende letzten Jahres nach langem Siechtum in der Wohnung unter uns; im Oktober 2021 ist meine Patentante mit achtundsiebzig Jahren innerhalb einer Woche an einer Hirnblutung gestorben. Ich habe sie das letzte Mal vor zwei Jahren auf einer Familienfeier gesehen. Auf der Beerdigung galt die 3G-Regel.

Im Juli 2020 ist unsere Tochter zur Welt gekommen. 2021 haben in unserer Verwandtschaft zwei, in unserem Freundeskreis drei Ehepaare ein Kind bekommen. Vor kurzem haben zwei Nachbarinnen von uns ein Kind zur Welt gebracht; eine gemeinsame Freundin befindet sich gerade im dritten Schwangerschaftsmonat. Es sind drei Hochzeiten zunächst auf 2021, dann auf 2022 verschoben worden. Im Jahr 2020 wurden alle Geburtstagsfeiern von vornherein abgesagt; später haben sie, je nach Infektionslage und Jahreszeit, draussen oder in kleinem Kreis stattgefunden. Hitzige Corona-Debatten habe ich eigentlich nur im Fernsehen erlebt; bei den wenigen Zusammenkünften legte man eher Wert darauf, Gemeinsamkeiten hervorzuheben.

Die Ausnahmen: Zu Differenzen ist es einmal mit der Ehefrau eines Freundes gekommen, ich war nicht getestet; von ihrer Seite fielen Wörter wie „asymptomatisch“, „keine sterile Immunität“, von meiner „fehlende Beweislast“, „in dubio pro reo“; letztlich handelte es sich um ein Kommunikationsproblem. Mein Vater hat sich im letzten Jahr mit einem alten Freund über die Frage in die Wolle gekriegt, ob das Impfen nun ein „Akt der Solidarität“ oder vielmehr ein „biopolitisches Überwachungsinstrument“ sei; man muss dazu sagen, dass lautstarke Diskussionen seit ihrer Studentenzeit zur Freundschaft dazugehören – zwei alte Linke eben (Zwinkersmiley).

Eine Freundin erzählte mir, dass sie ihre Schwiegereltern nur noch sehr selten besuche, weil diese ständig über Corona reden würden; allerdings war das Verhältnis schon vorher nicht gerade das Beste. Ein Mann Mitte Vierzig regte sich eine ganze Sitzung lang über die Anti-Corona-Massnahmen auf, er war völlig verzweifelt, enttäuscht, dass sich die Leute so verarschen lassen, er hatte Tränen in den Augen; als ich ihn das dritte Mal unterbrechen wollte, rief er: „Lassen Sie mich! Es tut mir gut, darüber zu reden!“ Bei meinen täglichen U-Bahn-Fahrten zur Arbeit habe ich ungefähr vier Mal mitbekommen, wie ein „Maskenmuffel“ von einem Fahrgast zur Ordnung gerufen wurde, zweimal mischten sich weitere Fahrgäste ein (also pro Masketragen); ein Mann mittleren Alters schnauzte letzten Winter zwei junge Frauen an, ihre Unterhaltung einzustellen; im Frühjahr 2020 stieg am Hbf ein stark alkoholisierter Mann ohne Maske ein, tat, als würde er niesen, und schrie: „Coroonaaa!“ Noch was Lustiges zum Abschluss der U-Bahn-Reihe: Fünfminütiger Lachflash von drei Mädels, die offenbar gerade von der Schule kamen; wie ich verstand, hatte Lisa eine ganze Zeit lang den Blick des Lehrers stumm erwidert,einmal nahm sie sogar ihre Maske ab und trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche; dann hörte Sophia, ihre Sitznachbarin, auf zu sprechen, und der Lehrer sagte: „Sehr gut, Lisa, danke für deinen Beitrag.“

Viele Leute sagten mir, sie würden keine Nachrichten mehr schauen; dennoch schienen sie über das Infektionsgeschehen stets informiert zu sein. Ein Freund gestand mir, er sei derart durch mit dem Thema, er würde sogar auf allen vieren laufen oder seine eigene Pisse trinken, wenn das gegen Corona hülfe. Wir lachten; nach einer deutschen Denkpause fügte er hinzu, dass er früher bestimmt einen guten Nazi abgegeben hätte. Ich habe mir in der Zeit sieben Bücher gekauft, die das Thema aus philosophischer und politikwissenschaftlicher Perspektive einzuordnen versuchen.*

Drei Zitate sind mir im letzten Winter durch den Kopf gegeistert: „Das Leben lebt nicht“ (Ferdinand Kürnberger), „Where are the feasts we were promised?“ (Jim Morrison), „La vie vraie est absente“ (Arthur Rimbaud). Es war wirklich der längste Winter der Welt. „Da wünscht man sich ja fast den guten alten Terrorismus zurück“, seufzte ich damals einem Freund telefonisch ins Ohr. „Der war wenigstens mit dem Hedonismus vereinbar. Erinnerst du dich noch? Nach Bataclan und Breitscheidplatz konnte man sich als unerschrockener Kämpfer der westlichen Freiheit fühlen, wenn man auf dem Weihnachtsmarkt seine Bratwurst verschlang. Leider war ich damals zu feige und hab ein Konzert von den Tocos platzen lassen. Apropos, vielleicht singt der Dirk ab jetzt immer: Pure Unvernunft darf niemals siegen.“ – „Quatsch.“

Im November 2021 habe ich eine Corona-Prämie von 200 Euro erhalten. Meiner Frau wurde im letzten Jahr betriebsbedingt gekündigt. Meine Cousine hat sich im Jahr 2020 von ihrem Mann getrennt; sie wohnt jetzt allein und hat inzwischen einen neuen Partner. Ich habe mir ein paar Lockdown-Laster zugelegt: fast jeden Abend knabbere ich Kartoffelchips (Naturals Rosmarin), trinke Weisswein (Colombier vert) und schaue mir NBA-Spiele an (Boston Celtics und Brooklyn Nets).

Im letzten Herbst – oder war es der vorletzte? wie bei so vielen ist auch mein Zeitgefühl etwas getrübt, aber nein, ich erinnere mich, es war im letzten Herbst –, da hatte ich eine Phase, in der ich nach der Arbeit mit diesen E-Rollern sinnlos in der Gegend herumfuhr, bis mir mein Handy runterfiel und das Display im Arsch war; wenige Wochen später wurde ich mit meinem Impfnachweis vor einem Club abgewiesen: „Was willst du mit dem Papierscheiss hier?“, herrschte mich der völlig überforderte Türsteher an. „Wieso hast du kein Handy wie jeder?“

Orchestriert wurde mein Nachhauseweg von düsteren Gedanken über den Zusammenhang zwischen Lockdown-Politik und Digitalisierung (am nächsten Tag las ich Agambens Requiem für die Studierenden und hatte wieder gute Laune). Mit meinem neuen Handy war ich zweimal im Kino und dreimal in der Kneipe; als Familie haben wir einen Tierpark, ein Schwimmbad und ein Bilderbuchmuseum besucht. Mein Sohn hat im letzten Sommer Fahrradfahren gelernt; diesen Winter war er das erste Mal Schlittschuhfahren. Seit September letzten Jahres geht unsere Tochter in die Kita; die Eingewöhnungsphase ist bis heute nicht abgeschlossen.

Ich habe aufgehört, die Fehltage der Kinder zu zählen, eine Rotznase reicht aus und sie sind wieder Zuhause. Wie sagte doch Sokrates auf dem Sterbebett? „Leben – das heisst lange krank sein.“ Ein Glück, denke ich oft, dass ich kein Home-Office machen muss; die gegenseitige Abhängigkeit voneinander ist in unserer kleinen Bude schon so spürbar genug.

Insgesamt lebe ich zurückgezogener als früher. Anfangs, zu Beginn der Pandemie, habe ich oft mit Freunden telefoniert, inzwischen nur noch selten (wie mir eine Jugendliche einmal so entwaffnend entgegnete: Klar könne sie eine Freundin anrufen, jederzeit sogar, doch sie wisse nicht, was sie ihr erzählen solle, es gebe nichts Neues). Ich trinke regelmässiger Alkohol und allein – Kammertrinken, bis der Körper sagt: Okay, geh jetzt mal pennen.

Bislang habe ich noch nicht von Corona geträumt, keine Ansteckungs- oder Erstickungs-Träume und dergleichen, von den Menschen, die mir im Traum erscheinen, trägt niemand Maske, alle berühren mich wie immer – mein Unbewusstes ist immun. Ansonsten bin ich emotional wohl etwas verflacht, da ist kaum Tiefe, doch bei Filmen kommen mir schneller die Tränen. Politisch bin ich interessierter geworden; ich lese mehr, schaue mehr Fernsehen als früher. Was mir fehlt, ist Musik, Tanz, das rauschende Fest – ein „ozeanisches Gefühl“.

Das ist im Grunde alles, was ich über die Pandemie zu sagen weiss.

MAS

* Alexander Kluge/Ferdinand von Schirach: Trotzdem, Jean-Luc Nancy: Allzumenschlich, Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir?, Peter Sloterdijk: Der Staat streift seine Samthandschuhe ab, Slavoj Žižek: Pandemie! II, Edgar Hirschmann: Von Viren, Masken und dem neuen politischen Körper, Angela Oster/Jan-Henrik Witthaus (Hg.): Pandemie und Literatur; eingesehen habe ich zudem den Sammelband Corona und linke Kritik(un)fähigkeit und ein Heft der vom Verfassungsschutz inzwischen als rechtsextrem eingestuften Zeitschrift Compact. Zu schade, dass sich Rainald Goetz nicht zu Wort meldet, von ihm hätte ich mir wirklich eine gepfefferte Diskursanalyse gewünscht. Was macht er bloss, der Dr. med.? Impfen?