„Rette Lebensmittel, wer kann!“ Von der Lebensmittelrettung zur ganzen Bäckerei
Gesellschaft
Während vor 15 Jahren Personen wie Hanna Poddig, die in Talkshows das Containern propagierten, noch als völlig abgedrehte Freaks dargestellt werden konnten, hat sich das Blatt mittlerweile gewendet.
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10. April 2023
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Selbstverständlich ist Müll auch Eigentum. Unterm Strich lohnt es sich aber, wenn er von verarmten alten Leuten, studentischen Kleinsparer*innen oder ausgewiesenen Vollzeitaktivist*innen verwertet wird. Volkswirtschaftlich teurer als das Containern zu kriminalisieren, wäre es, kämen die Betreffenden auf die Idee, individuell (mehr) zu klauen. Oder gar kollektiv zu plündern, wie es noch in den 70er und 80er Jahren selbst in der BRD durchaus gängige Praxis im Anschluss an manche stimmungsvolle Demo war. In Zeiten spürbar steigender Preise, die auch bei Lebensmitteln deutlich zu Buche schlagen, wäre dies sicherlich nicht die entfernteste Idee.
Jedenfalls ist die Lebensmittelrettung auch durch den einen oder anderen Verein bekannt geworden. Fast wichtiger noch als dies ist die inzwischen in zahlreichen Städten anzutreffende systematische Organisation der Erbeutung und Verteilung von Weggeworfenem. Gruppen in sozialen Medien machen es möglich, sich gegenseitig über Funde zu informieren oder zur Abholung der ideellen Ware vor der Haustür einzuladen. Ob es beim Verschenken von zwei Gläsern Marmelade an Personen aus einer Szene-Gruppe wirklich um die „Rettung“ derselben geht oder es sich dabei nicht um eine Art inflationäre Kontaktsuche handelt, sei dahingestellt. Bei den Nachbar*innen klingeln die entsprechenden Leute jedenfalls offenbar kaum, wegen ihrem Anliegen.
Neben der Tatsache, dass es wohl schon immer arme Menschen gab, die sich durch das Sammeln von Müll über Wasser halten mussten, war die Lebensmittelrettung bis vor einem Jahrzehnt eher noch ein Hobby einiger Krusten oder Hippies. Wurden diese an der Tonne gesehen, zogen sie zwar die Verachtung der Spiessbürger*innen auf sich, konnte sich dafür aber wenigstens in ihrem Aussenseitertum feiern.
Heute scheint dieses Hobby aber zum regelrechten Sport mutiert zu sein. Statt etwa höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, niedrigere Preise oder einen Stopp der fatalen Subventionierung industrieller Landwirtschaftskonzerne zu fordern, schwingt sich der eine oder die andere Lebensmittelretter*in zu Held*in wider die Destruktion auf. Mit ihrem Ehrgeiz ist bei manchen von ihnen wohl auch eine Krisenverwalter*in des THW verloren gegangen.
Krisenverwaltung ist überhaupt jener Bereich, in welchem Anarchist*innen und Faschist*innen im Gegensatz zu ihrer sonstigen Verortung am nächsten beieinander liegen. Wobei ihr Agieren selbstredend dennoch sehr unterschiedlich ist. Letzteren allerdings gelang es bereits systematisch die Feuerwehren dieses Landes zu unterwandern, wie der Verfassungsschutz zuletzt mit gespielter Überraschung feststellte. Das nennt sich wohl präfigurative Politik: Wer die Katastrophe von morgen autoritär bewältigen will, sichert sich bereits heute dafür die Glaubwürdigkeit in Zusammenhängen, welche ohnehin darauf trainiert werden, mit Notsituationen umzugehen.
In „alternativen“ Kreisen wird die Apokalypse zu zelebrieren dagegen zum Lebensstil, der nebenbei zu interessanten Bekanntschaften und allerlei Ausflügen führt, wobei diese anhaltenden Gesprächsstoff bieten. Fast wird es peinlich, sich nicht an dieser Elendsverwaltung beteiligen zu wollen – sei es aus Faulheit, übertriebenem Sauberkeitsbedürfnis oder auch geringen Zeitressourcen. „Rette Lebensmittel, wer kann!“, wird der Imperativ des neuen Volkssports bald lauten. Irgendwie dachte ich früher immer, dass es gilt, Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten. Oder Tiere aus Mastanlagen.
Postmoderne Bürger*innen retten ihre Seelen hingegen aufgewogen an den Gütern, welche sie aus dem Container ziehen: Eine Netz Orangen (und nur drei verschimmelt), sieben Leibe Brot (dass noch nicht nass geworden zu sein scheint), achtzehn Jogurt (davon die meisten noch nicht mal aufgeplatzt), zwei angestochene Kaffeepackungen und drei welke Blumensträusse. Da wird das Herz doch weit und ein Seufzen verlässt die Kehle: „Gerettet!“. Die Käsepackung hingegen war schon deutlich von blauen Spuren gezeichnet. Und wenn wir schon beim Thema tierische Produkte sind: Obwohl ich viel ab kann, war meine persönliche Schwelle eines Tages überschritten, als wir kurz nach Ostern, mehrere gehäutete und in Plastikfolien eingeschweisste Hasenleichen fanden. Nie hatte ich bis dahin den Geruch von Leichen so intensiv wahrnehmen dürfen. Was für ein Geschenk, dass ich diesen Einblick in die Lebensmittelherstellung westlicher Industrienationen erhaschen konnte!
Dass die Ursachen von ökologisch zerstörerischer Überproduktion und selbst (bzw. gerade) im Kapitalismus ineffektiven Verteilungswegen damit kaum angegangen werden, erklärt sich von selbst. Wer unterm Strich spart und dann mehr Kohle dafür hat, ein Zugticket statt ein Flugzeug für den nächsten Urlaub zu buchen, macht sich an der Klimakatastrophe nicht schuldig. Wobei sich beides auch keineswegs ausschliesst. Dabei muss doch nicht immer etwas oder irgendjemand gerettet werden. Der Kreislauf lautet Produktion – Konsumption – Destruktion. Wo nichts zerfallen kann und darf, klammern wir uns krampfhaft ans Leben, weil wir spüren, dass die Zeit knapp wird und es uns entgleitet.
Lebensmittel aus der Verurteilung zur Wertlosigkeit zu erretten, gibt Menschen insofern das Gefühl, den Verfall für einen kurzen Moment aufzuhalten. Man gibt sich somit auch ein Stück Selbstwert zurück, der einem sonst in der Konkurrenz- und Mangelgesellschaft nie – oder eben nur kurz, damit wir Junkies bleiben – gewährt wird. Somit ist es auch nur konsequent, sich die zur Zersetzung bestimmten kapitalistischen Waren selbst einverleiben zu wollen. Da die zum Müll degradierten Produkte trotzdem durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, wie auch die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlage erzeugt wurden, handelt es sich im Grunde genommen um eine Art Kannibalismus.
Schlussendlich möchte ich nicht falsch verstanden: Ich bin absolut für die eigenmächtige Beschaffung von Ressourcen und ihre möglichst kollektive Verteilung. Es wäre lächerlich, dafür einen bestimmten Grad an persönlicher Verelendung erreicht haben zu müssen. Wer clever ist und weiss, wie man sparen kann – warum nicht? Was wir von der Oma oder Uroma nach dem Krieg gelernt haben, bewährt sich auch heute. Dann bleibt eben mehr für anderes über und am Ende des Monats rechnet sich das schon. Auch gegen ein Aussteigertum für einige Jahre habe ich gewiss nichts einzuwenden. Doch: Lebensmittelrettung als eine Art Ablass zu betreiben, der nebenbei die Aufmerksamkeit von sozialen Kämpfen ablenkt, ist nichts als ein skurriles Hobby oder ein verkappter Puritanismus. So einfach diese Wahrheit ist: Wir müssen auf die Produktion abzielen. Und dies beinhaltet, die ganze Bäckerei zu vergesellschaften.