UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Perky tits: #NoBra #FreetheBoobs #FreeNipples

8745

Der No-Bra Trend oder die gleichgültige Blasiertheit des Grossstädters Perky tits

users-677583-70

Gesellschaft

Diesen Sommer war ich für einige Momente nicht mehr Herr meiner Sinne.

Free the Nipple Demo in Brighton, 22. Juni 2019.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Free the Nipple Demo in Brighton, 22. Juni 2019. Foto: C.Suthorn - commons.wikimedia.org (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 2. Dezember 2024
1
0
Lesezeit7 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Fernab der gleichgültigen Blasiertheit, die Georg Simmel zufolge das Hauptmerkmal des Grossstädters ausmacht, versetzte mich der plötzliche Anblick BH-loser Brüste unter den Tank Tops junger Frauen in helle, für die Alltagsbestreitung völlig unbrauchbare Erregung.

Aber nicht nur das. Ich inspizierte daraufhin fast zwanghaft alle anderen Passantinnen, ob sich unter ihrer Oberbekleidung die Wahrheit abzeichnete, denn auf gewisse Weise konnte man sie nun in Wirklichkeit sehen: kleine bis mittelgrosse perky tits, die unter ihrem Schleier die Augen aufschlugen und sich in ihrer natürlichen Weichheit darboten.

Ich glaube nicht, dass ich mich jemals an diesen Anblick gewöhnen werde, höchstens in der Form, mich nicht an ihn zu gewöhnen. Auf jeden Fall konnte ich nicht einfach wegsehen. Also weggesehen habe ich natürlich, aber eben eine Millisekunde zu spät, fühlbar für mich, fühlbar für die Angeblickte vermutlich auch, denn man „kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben“ [1] – ein Verstoss gegen die sensorische Ordnung.

Jens Loenhoff fasst darunter „diejenige Klasse von Kontext- und kulturspezifischen Erwartungsstrukturen (..), die unter Anwesenheitsbedingungen den Gebrauch der Sinne steuert. Mit der Rede von der sensorischen Ordnung als Teilbereich der Interaktionsordnung sind insbesondere zwei Thesen verbunden, nämlich a) dass die sensorische Ordnung für die Beteiligten erst durch Verstösse erfahrbar wird und b) dass es dabei zu spezifischen Zurechnungsproblemen oder -unsicherheiten kommen kann, die die Interaktion empfindlich irritieren. Dies betrifft sowohl die Attribution von Kausalität als auch diejenige von Verantwortlichkeit.“ [2]

Damit sind wir mittendrin im Schlamassel: „Mit welchem Differenzierungsvermögen man selbst beobachten muss, um sich Gewissheit zu verschaffen, ob andere gegen die sensorische Ordnung verstossen, lässt sich gut an den zahlreichen Varianten visuellen Wahrnehmens ermessen. Vor allem erfordert die Beantwortung der Frage, ob jemand beobachtet, mustert, gedankenlos umherschaut, einen flüchtigen Blick erhascht, durch Blickkontakt zu etwas auffordert oder starrt, ohne etwas zu sehen, nicht nur ein entsprechend entwickeltes Wahrnehmungsvermögen, sondern selbst diejenigen Wahrnehmungsaktivitäten, in deren Verdacht gerade der andere geraten ist.“ [3]

Darüber hinaus können Absichten „stets bestritten werden, Klagen, jemand gebe seinen voyeuristischen Neigungen nach, ins Gegenteil verkehrt und mit Vorwürfen, sich selbst exhibitionistisch zu gebärden, gekontert werden. Obwohl es in derartigen Situationen über die Wahrnehmungsbedingungen kaum Ungewissheiten gibt und ihre begünstigende Wirkung auf Wahrscheinlichkeiten des Wahrgenommenwerdens erkannt ist, könnte es im Ernstfall (alltags-) diskursiver Explikation dennoch Dissens geben darüber, ob man denn tatsächlich in dieser Weise hätte wahrnehmen oder wahrnehmen lassen sollen, dürfen oder müssen.“ [4]

Wer ist jetzt also schuld – der schamlos Blickende oder die sich schamlos Zeigende?

Im Nachhinein erfuhr ich, dass es sich bei den jungen Frauen offenbar um Anhängerinnen der NoBra-Bewegung handelte. In den Artikeln, die unter den Hashtags FreetheBoobs, FreeNipples und NoBra zu lesen waren, führten die Autorinnen in erster Linie Emanzipationsbestrebungen an („Gleiche Brust für alle“), um sich gegen die Diskriminierung des weiblichen Körpers zur Wehr zu setzen. [5] Von medizinischen Erwägungen abgesehen, wurde zudem der Aspekt des Wohlbefindens ventiliert – ein Gesichtspunkt, der in manchen Artikeln in eine Art Gemütlichkeitssolipsismus abzudriften drohte, und es ist vielleicht kein Zufall, dass diese betont nachlässige Mode gerade zu einer Zeit entstand, als der öffentliche Raum pandemiebedingt abgeschafft war; die Anhängerinnen der NoBra-Bewegung traten sozusagen direkt aus dem Homeoffice auf die Strasse. [6]

In Variationen stiess ich immer wieder auf denselben Gedanken: Mein Körper gehört mir, ich kann mich anziehen, wie ich will, und wenn jemand blöd guckt, ist das sein Problem, nicht meins; dann hat der Typ eben seine Blicke nicht im Griff, oder lässt es schlichtweg an Anstand fehlen. [7]

Ziemlich perky, diese Leugnung sinnlicher Wechselwirkung, dachte ich, dieses Sich-selbst-Herausrechnen aus jeder Form der Verstricktheit wahrscheinlich part of the game. Klar gehört dein Körper dir; auf der Ebene der Sichtbarkeit gehört er aber allen.

Und auf dieser Ebene fängt doch alles an. Dass wir als Menschen überhaupt miteinander in Wechselwirkung stehen, hängt damit zusammen, dass wir aufeinander sinnlich einwirken. Handlungskoordination geschieht im Medium gegenseitiger Wahrnehmung und dabei ist der Gebrauch der Sinne kein nebensächlicher Aspekt, den die Soziologie einfach überspringen kann, um beim Handeln und bei der Sprache anzusetzen. „Gesetzt den Fall, zwei oder mehr Personen geraten einander ins Feld wechselseitiger Wahrnehmung, dann führt allein diese Tatsache schon zwangsläufig zur Systembildung.“ [8]

Max Weber hat dies anhand zweier sich ausweichender Radfahrer illustriert. Ich möchte ein anderes Beispiel wechselseitiger Wahrnehmung geben.

Über die Extravaganz von Baudelaires Kleidung und Frisuren schreibt Jean-Paul Sartre: „Die Aggressivität seiner Kleidung ist fast eine Handlung; diese Herausforderung kommt beinahe einem trotzigen Blick gleich. Der Spötter, der ihn ansieht, hat angesichts dieser Extravaganz das Gefühl, dass man auf ihn gefasst war und es auf ihn abgesehen hat. Wenn er sich empört, so deshalb, weil aus den Falten des Stoffes ein spitzer Gedanke zu sprechen scheint, der ihm zuruft: ich wusste, dass du lachen würdest. Aufgebracht aber, ist der Beobachter schon ein bisschen weniger „Beobachter“ und ein bisschen mehr „beobachtet“. Zumindest ist er genauso verblüfft, wie man ihn verblüffen wollte. Er ist in die Falle gegangen.“ [9] Jeder Punk, jede Punkerin würde dieser Beobachtung vermutlich zustimmen. Und damit zugeben, dass er oder sie bei der Wahl der Kleidung und Frisur die ästhetischen Urteile des Spiessers miteinbezogen hat.

In den NoBra-Diskursen spielt das Gegenüber hingegen keine Rolle. Das ist das Kränkende für Männer: Sie sind nicht gemeint. Glaubt man den öffentlichen Darstellungen, geht es ihren Anhängerinnen nicht um eine teils spielerische, teils provokante Vorweg- und Inkaufnahme möglicher Reaktionsweisen, der Verzicht auf den BH ist auch kein Ausdruck erotischer Verführungsmacht oder eines selbstbestimmten Sexualsubjekts [10], im Gegenteil: Die Aussenwirkung auf Männer wird als störend erlebt – mit dem Verweis darauf, dass Frauen in anderen Kulturen/zu anderen Zeiten ihre Brüste ganz offen zur Schau stellen konnten, es sich schliesslich nur um ein sekundäres Geschlechtsmerkmal handle, das in einer kulturell männlich kodierten Welt symbolisch überladen und sexualisiert werde.

Der Ärger über anzügliche Blicke, der in fast jedem Erfahrungsbericht artikuliert wird, nicht selten verbunden mit der Erinnerung daran, wie häufig Frauen Opfer sexualisierter Gewalt durch Männer seien [11], macht deutlich, dass man eigentlich überhaupt keine Reaktion des Gegenübers erwartet. „Mein Wunsch wäre, dass wir Brüste von Frauen so behandeln wie Brüste von Männern“, sagt etwa Julia Fritzsche, die bei Nautilus eine einschlägige Monographie zu diesem Thema vorgelegt hat (Oben ohne. Hamburg 2024). „Das heisst im Idealfall: sie ignorieren, nicht gaffen, in keinem Fall als Einladung verstehen. Und wenn jemand trotzdem – weil wir uns noch nicht daran gewöhnt haben, die weibliche Brust als banal zu begreifen – etwas Sexuelles dabei empfindet, muss die Person das für sich behalten.“ [12]

In seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne erwähnt Simmel, dass die Menschen vor dem Aufkommen von Omnibussen und Strassenbahnen überhaupt nicht in der Lage waren, sich so lange gegenseitig anblicken zu können, ohne miteinander zu sprechen. [13] Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis ich den Anschein erwecke, der Anblick BH-loser oder gar ganz nackter Brüste liesse mich kalt. Für die kommenden Sommer gilt es, den Blick schön oben zu halten, um mir wieder jene gleichgültige Blasiertheit des Grossstädters anzueignen, die mir kurz abhandengekommen ist. Denn: „Das geschickte Verbergen von Aufmerksamkeit will in der Tat ebenso gelernt sein, wie das angemessene Simulieren derselben, während man sich interessanteren Seitenblicken oder Gedanken zuwendet.“ [14]

MAS

Anmerkungen

[1] Georg Simmel: „Exkurs über die Soziologie der Sinne“. Georg Simmel online: https://socio.ch/sim/soziologie/soz_9_ex2.htm

[2] Jens Loenhoff: „Sinne, Kommunikation und Gesellschaft – Eine Theorieskizze“. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie Bd. 27 (2002) Heft 2, S. 14-29, hier: 22.

[3] Jens Loenhoff: Die kommunikative Funktion der Sinne. Theoretische Studien zum Verhältnis von Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung. Konstanz 2001, S. 227.

[4] Loenhoff 2001, S. 228. Ein interessanter „Ernstfall“: Der Polizeieinsatz, den eine barbusige Berlinerin Ende Juni 2021 ausgelöst hat, da sie bei hochsommerlichen Temperaturen am Wasserspielplatz „Plansche“ im Plänterwald mit freiem Oberkörper ruhte und ihre Brust auf Aufforderung der Parkaufseher hin nicht bedecken wollte (Anja Schmidt: „Die nackte weibliche Brust als Sittlichkeits- und Rechtsproblem“. In: Verfassungsblog 19. Juli 2021: https://verfassungsblog.de/die-nackte-weibliche-brust/).

[5] „Diese ist meist auf etablierte kulturelle Normen zurückzuführen, die den weiblichen Körper systematisch sexualisieren. In den meisten Ländern werden Männer nicht behelligt, wenn sie sich oben ohne zeigen. Diese Toleranz ist für das weibliche Geschlecht so gut wie gar nicht vorhanden.“ („Free The Nipple, ein höchst umstrittene feministische Bewegung“. In: Blog der Sisters 16.12.2020: https://sistersrepublic.de/blogs/der-blog-der-sisters/free-the-nipple-eine-hochst-umstrittene-feministische-bewegung)

[6] Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop aus dem Jahr 2020 fand heraus, dass 4 Prozent der Frauen vor den Corona-Ausgangsbeschränkungen keinen BH trugen, mittlerweile sind es 18 Prozent der Frauen unter 25 Jahren. Während der Beschränkungen waren es sogar 20 Prozent.

[7] Fiona Rohde: „No bra Trend: Wieso Frauen jetzt keinen BH mehr tragen“. In: gofeminin 11.10.2022: https://www.gofeminin.de/mein-leben/no-bra-trend-s4047731.html Ella/Julia Ullrich: „Free Nipples – Ich lasse meinen Busen aus dem BH-Gefängnis!“ In: 20 Minuten 14. August 2020: https://www.20min.ch/story/free-nipples-ich-lasse-meinen-busen-aus-dem-bh-gefaengnis-606408111695

[8] Niklas Luhmann zit n. Loenhoff 2001, S. 153. In den Strukturen der Lebenswelt haben Alfred Schütz und Thomas Luckmann die reflexiven Ineinanderschachtelungen unter Anwesenheitsbedingungen sehr ausführlich beschrieben: „Wenn sich A in Reichweite von B befindet und B (normalerweise) dementsprechend in Reichweite von A, kann B alles, was A in seiner Anwesenheit tut oder lässt (genauer genommen: im angenommenen Bewusstsein seiner Anwesenheit), als auf ihn bezogen, ihn direkt oder indirekt angehend und unter Umständen als auf ihn entworfen auffassen. Und umgekehrt: alles, was B tut oder lässt, kann von A als ihn betreffend verstanden werden. Nach dem im Hintergrund verankerten Grundsatz der Reziprozität der Perspektiven ist sich A darüber hinaus auch immer dessen bewusst, dass B sein Tun und Lassen auf diese Weise auffassen könnte. Und selbstverständlich gilt Entsprechendes für B. Das hat eine wichtige Folge. Selbst wenn A ursprünglich nicht an B (und B nicht an A) gedacht haben sollte, wird er angesichts des B (bzw. des A) nicht umhin können, wenigstens nebenbei, neben dem, was er eigentlich tut, daran zu denken, dass der andere denken könnte, dass er vielleicht an ihn denkt.“ (Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt Bd.2. Frankfurt am Main 1984, S. 111)

[9] Jean-Paul Sartre: Baudelaire. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 93.

[10] Ulrike Wohler hat mit Bezug auf Künstlerinnen wie Anita Berber, Marilyn Monroe und Madonna herausgearbeitet, inwieweit die Zurschaustellung des weiblichen Körpers als Ausdruck erotischer Macht und eines selbstbestimmten Sexualsubjekts verstanden werden kann. (Ulrike Wohler: Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur. Bielefeld 2009)

[11] Laut der bereits erwähnten Meinungsumfrage gaben mehr als die Hälfte der befragten Frauen unter 25 Jahren an, dass sie fürchten, verbal, körperlich oder sexuell angegriffen zu werden, wenn sie keinen BH tragen. Die Umfrage zeigt weiter, dass junge Frauen schon häufig Opfer verschiedener Formen von Belästigung einfach wegen ihrer Weiblichkeit geworden sind. Inzwischen behelfen sich einige junge Frauen mit sogenannten Subway-Shirts, ein weites T-Shirt, das über das knappe Party-Outfit gezogen wird, um sich im öffentlichen Raum vor aufdringlichen Blicken zu schützen. Das wird von vielen Kommentatorinnen als Rückschritt empfunden (vgl. etwa Eva Keller: „Ein Shirt macht noch keine Freiheit“. In: taz 17.08.2023: httpas://taz.de/Tiktok-Trend-Subway-Shirt-fuer-Frauen/!5950216/).

[12] Julia Fritzsche: „Im Oben-ohne-Verbot drückt sich eine Hierarchie aus“. In: Augsburger Allgemeine 25.06.2024: https://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/interview-julia-fritzsche-im-oben-ohne-verbot-drueckt-sich-eine-hierarchie-aus-id71122591.html Zu fragen wäre, ob die polymorphe Gestalt des Eros durch diese Banalisierung der weiblichen Brust auf die Genitalität reduziert wird. Aber offenbar kann man nicht beides zugleich haben: Gleichberechtigung und Sexkultur.

[13] Simmel a.a.O.

[14] Loenhoff 2001, S. 205.