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Über den Verlust an Wirklichkeit – Die Kids (in/nach) der Pandemie (Teil I)

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Die Kids (in/ nach) der Pandemie Über den Verlust an Wirklichkeit (Teil I)

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Gesellschaft

Am 11.3.2020, vor 5 Jahren, rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pandemie aus.

Abgesperrter Ping-Pong Tisch in einem Park während der Covid-19-Coronavirus-Pandemie in Haringey, London, England.
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Abgesperrter Ping-Pong Tisch in einem Park während der Covid-19-Coronavirus-Pandemie in Haringey, London, England. Foto: Acabashi (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 18. März 2025
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Was folgte, waren ein Abbau an Rechten, eine gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung, eine Staats- und Autoritätshörigkeit bis weit in die linken Spektren hinein, wie es in der neueren deutschen Geschichte nach 1945 (und vergleichbar in den meisten Staaten der Erde) ohne Vergleich ist.

"Die grösste Gefahr in der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich“ (Hannah Arendt)

Am 11.3.2020, vor 5 Jahren, rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pandemie aus. Was folgte, waren ein Abbau an Rechten, eine gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung, eine Staats- und Autoritätshörigkeit bis weit in die linken Spektren hinein, wie es in der neueren deutschen Geschichte nach 1945 (und vergleichbar in den meisten Staaten der Erde) ohne Vergleich ist.

Die parlamentarischen, ausserparlamentarischen und antiparlamentarischen linken Parteien, Strömungen und Bewegungen schlugen sich dabei weitestgehend vollkommen unkritisch auf die Seite der Macht, was zugleich den Raum für die Rechten eröffnete, all jene, die Skepsis an dieser Politik hatten, um sich zu scharen. Das linke Spektrum in der ganzen Breite – von Parteiaktivitäten bis zu autonomen und anarchistischen Gruppierungen – hat sich selbst damit nachhaltig geschwächt. Man wird sehen, wie sich die derzeitige Euphorie um die Partei „Die Linke“ bei der nächsten Pandemie hält: waren kapitalismuskritische Töne dieser im Kern sozialdemokratischen Partei (das Vakuum einer weit nach rechts abgerückten SPD füllend) substanziell oder ein kluger Schachzug, um sich im Wahlkampf als Alternative von anderen Parteien abzuheben? Entstehen – oder reaktivieren – sich neue Bewegungen und Bündnisse, etwa im Bereich der Klimagerechtigkeitsbewegung, der globalisierungskritischen oder antimilitaristischen Bewegungen, oder auch einer antiautoritären Bewegung, die diesen Namen verdient?
Es gäbe viel dazu zu schreiben – einen Verlag für ein Buch zu diesem Thema habe ich aber bis heute nicht gefunden. Tatsächlich verhallte der 5. Jahrestag ohne öffentliche Resonanz – man mag das Thema nicht mehr hören. Die Folgen aber wirken bis heute, und vor diesem Hintergrund ist es fatal, so zu tun, als ob nichts wäre oder wieder „Normalität“ herrschte. Hier möchte ich nun in einer kleinen Textserie aufzeigen, was die Coronajahre für jene bedeutete, die auch im hinter uns liegenden Wahlkampf wieder einmal kein Thema waren: die Kinder, Jugendlichen und (inzwischen) jungen Erwachsenen.

„Angst vor dem Virus ist weit überzogen“

Der Verlust an Wirklichkeit während der Corona-Jahre – und danach – ist auf vielen Ebenen erkennbar. „Die Angst vor dem Coronavirus ist weit überzogen“, äusserte im März 2020 der renommierte Göttinger Angstforscher Borwin Bandelow im medizinischen Fachblatt „Ärzte Zeitung“[1]. Bandelow ist dabei alles andere als ein „Corona-Leugner“, er kritisierte jedoch in Interviews das Panikpapier des Bundesinnenministeriums als kontraproduktiv, so in der „Berliner Zeitung“ am 6.10.2020). In diesem Papier hiess es unter anderem, wenn Kinder dann „ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann“ – nein, das ist kein Struwwelpeter oder sonst ein Erguss einer finster-brutalen Pädagogik des 19. Jahrhunderts, dies ist O-Ton der deutschen Bundesregierung im Jahre 2020!

Wer wundert sich hier noch über nachhaltige Angststörungen, die Kinder vom Vorschulalter an noch ins Erwachsenenleben begleiten und darüber in die Folgegenerationen dringen? Die über mehrere Generationen biographisch erforschte „schwarzen Pädagogik“[2] sollte mit all ihren fatalen Resultaten hinlänglich bekannt sein – sage niemand, er/ sie habe es nicht gewusst. „Hinterher ist man immer klüger“, quengelt Pia Heinemann in der „FAZ“ vom 7.11.2022 bezüglich der Kita-Schliessungen. Man hätte es schon vorher sein können: das Isolation und Angsterzeugung kleinen Kindern nicht gut tun, ist nicht erst eine Erkenntnis seit dem Ende der Pandemie. Und doch hat sich bis heute niemand für dieses unverantwortliche, unzähliges Leid hervorbringende Strategiepapier – das kein Papiertiger blieb, sondern vom Druckwerk ausgehend praktisch umgesetzt wurde – verantworten müssen.

Es soll in diesem Artikel nicht näher diskutiert werden, wie sinnvoll das Impfen von Kindern gegen Covid-19 ist (oder ob gar schädlich). Sowohl Kinderärzt*innen wie auch der Kinderschutzbund kritisierten jedenfalls den massiven Impf-Druck auf Kinder[3]. Andreas Gassen, der Präsident der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, nannte 2021 das Impfen von Kindern für eine „Herdenimmunität“ jedenfalls in der Süddeutschen Zeitung vom 15.6.2021 „maximal rücksichtslos“). Im Fokus dieses Textes stehen stattdessen die sozialen und vor allem sozialpsychologischen Folgen der Coronapolitik für die Heranwachsenden. Andreas Gassen, der Präsident der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sprach im September 2021 eine schlichte Wahrheit aus: „Im Übrigen sind sich die allermeisten kinderärztlichen Kolleginnen und Kollegen einig: Viel gravierender für den Grossteil der Kinder sind nicht die mutmasslichen Gefahren einer Infektion, sondern der Massnahmen, die zu ihrer Vermeidung ergriffen wurden, wie monatelange Kontaktverbote, Unterrichtsausfall ecetera. Die wenigsten Kinder leiden an Long Covid, aber fast alle an Long Lockdown!“[4]

Warum Karin Prien (CDU) doch recht hatte

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) hatte 2022 einen Shitstorm auf sich gezogen, nachdem sie auf ein geringes Corona-Risiko für Kinder hinwies[5]. Ich gebe nur ungern konservativen Politiker*innen recht – doch Prien agierte hier realitätsangemessener als viele ihrer ministeriellen Kolleg*innen. Fakt ist: am Coronavirus starben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bis zum Mai 2024 102 Menschen im Alter von bis zu 14 Jahren und 496 Menschen zwischen 15 und 34 Jahren – hingegen 118.938 über 80jährige[6].

Bei diesen Zählungen wird jedoch nicht hinreichend unterschieden, ob jemand tatsächlich wegen oder mit Corona verstarb) – dass Corona sehr altersselektiv wirkt war jedoch schon früh klar, so dass die Verhältnismässigkeit der Massnahmen für Kinder und Jugendliche in Bezug auf einerseits die Mortalitätsrisiken und andererseits die psychosozialen Folgen früh zu prüfen gewesen wäre. Dies geschah nicht, im Gegenteil.

Der Verlust an Wirklichkeit zeigt sich in der bizarr anmutenden Ignorierung der Fakten. So wurden insbesondere 2020 Kinder und Jugendliche gegen alle Evidenz medial zu Pandemietreibern erklärt[7]. Partysüchtige „Superspreader“, unmoralisch und unverantwortlich seien sie, eine Lebensgefährdung für die Restbevölkerung. Mit Fakten – deren Bedeutung in den Corona-Jahren vorgeblich doch so hochgehalten wurde – hat das nichts zu tun, wohl aber mit der Suche nach Sündenböcken.

Insbesondere ungeimpfte Schüler*innen wurden vielfach zu Freiwild, nicht nur in Deutschland. "Dass ungeimpfte Kinder gemobbt werden, muss man akzeptieren", liess beispielsweise Österreichs Bildungsminister Fassmann (ÖVP) verlauten[8]. Wider besseren Wissens wird bis heute an der Legende der ungeimpften Pandemie-Treiber*innen festgehalten und das damalige Handeln damit zu legitimieren versucht. Gegen alle Evidenz – die ihm in seiner Position sehr wohl bekannt sein dürfte, also wahrheitswidrig – behauptete der Chef des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, noch am 16.12.2022 in einem Streitgespräch mit der „Welt“ starrsinnig: „Es war eine Tyrannei der Ungeimpften. Dabei bleibe ich“. Wir erinnern uns: sich nicht impfen zu lassen oder die Corona-Massnahmen zu kritisieren, das wurde von einer wutschäumenden Bevölkerungsmehrheit zu rücksichtslosem, ja unsolidarischem Verhalten erklärt. Wer so handelte, der hatte keine Nachsicht zu erwarten und war selbst schuld, wenn mit ihm entsprechend umgegangen wurde. So erklärte Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU): „Wir müssen weniger Rücksicht nehmen auf jene, die selbst keine Rücksicht nehmen“[9].

Das Depressions-Barometer schnellt nach oben

Bereits der deutsche Depressions-Barometer für 2020 wies massive Folgen für die psychische Gesundheit aufgrund der Corona-Massnahmen aus[10]. Zwar ist dieser Barometer aufgrund der jährlich wechselnden Schwerpunkte, die hier gesetzt werden (so stand 2021 die Depression in der Arbeitswelt im Mittelpunkt), schlecht vergleichbar. Dennoch ist festzustellen, dass sich die psychische Gesundheit in den letzten Jahren massiv verschlechterte. So ist nach einer Ende 2024 veröffentlichten Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, die dem Depressions-Barometer für 2024 zugrunde liegt, jede/r Zweite direkt oder indirekt von Depressionen betroffen[11]. Der Verlust an Wirklichkeit auf der politischen und gesellschaftlichen Sphäre zieht mentale Schieflagen nach sich – auch hier verrutschen die Koordinaten, als Folgen von Panikerzeugung, Ausgrenzungen, Diffamierungen.
Global haben sich psychische Krankheiten seit Beginn der Pandemie nahezu verdoppelt[12]. Nach einem Bericht der WHO I sind die Fälle von Depressionen und Angststörungen weltweit allein im ersten Pandemiejahr um 25 Prozent gestiegen. Demnach leben fast eine Milliarde Menschen mit einer psychischen Krankheit, wodurch die Lebenserwartung deutlich sinkt[13] - was in jenen Berechnungen, die lediglich die verlorenen Lebensjahre durch die Corona-Todesfälle zusammenaddieren, vollkommen ausser Acht gelassen wird. Insbesondere die Situation der Jugendlichen ist schlecht. Eine Analyse der Kinderschutzorganisation „Save the Children“, die im Jahr 2021 Umfrageergebnisse von mehr als 13.000 Kindern in 46 Ländern berücksichtigte, ermittelte, dass 83 Prozent der Kinder über einen Anstieg von negativen Gefühlen aufgrund der Corona-Pandemie klagten[14].

Deutlich wurde: nicht das Virus macht Kinder krank – sondern der Lockdown. Eine Auswertung der Krankenkasse DAK, offenbarte dass sich in Berlin im ersten Halbjahr 2020 die Zahl der Psychiatrieeinweisungen junger Menschen fast verdoppelt hatte[15]. Die Auswirkungen der Pandemie, der ausgelösten Ängste und der, gelinde gesagt, gerade in Bezug auf die jungen Menschen sehr fragwürdigen Massnahmen sind nachhaltig: Bewegungsmangel, Übergewicht, Depressionen und nicht zuletzt gegenüber der Vor-Pandemie-Zeit deutlich vermehrte Essstörungen[16] (gegenüber 2019 sind die Klinikeinweisungen wegen gesundheitsgefährdender Magersucht und anderer Formen der Essstörung bei 9-bis 14jährigen im Jahr 2023 um 42% gestiegen) sind einige der Folgen.

Besonders dramatisch waren die Folgen der Pandemie-Massnahmen für junge Menschen, die der Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe bedurften, denn über viele Monate fand keine fachlich qualifizierte, professionelle Unterstützung statt. Hilfsangebote, Beratungsstellen und Therapieplätze für psychisch oder körperlich beeinträchtigte Menschen waren gar nicht oder nur sehr eingeschränkt verfügbar. Fatal war, dass damit gleichermassen die Bildungs- und die ausserschulischen Unterstützungsstrukturen zusammenbrachen. Die so kumulierten Belastungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit langfristiger negativer Nachwirkungen der Pandemie. „Die Kinder- und Jugendhilfe hat diese Menschen im Regen stehen lassen“, so die Sozialforscherin Ulrike von Wölfel[17], die schon 2021 davor warnte, dass sich die Betroffenen von einer Gesellschaft abwenden könnten, die sie vernachlässigte und beschimpfte. Auch der Gesundheitszustand der Studierenden hat sich gegenüber der Zeit vor Corona nachhaltig verschlechtert[18].

Die Jugend „so pessimistisch wie noch nie“

Corona wirkte als Brandbeschleuniger für psychische und psychosomatische Krisen und Erkrankungen. Das ist wenig erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Pandemie-Massnahmen und -Ängste ja nicht auf unbelastete, ausgeglichene, zufriedene Menschen trafen, im Gegenteil: gerade junge Menschen waren schon vor Ausbruch der Pandemie stark herausgefordert und verunsichert, siehe z.B. die gerade von jungen Menschen getragenen Proteste gegen den Klimawandel, wachsende Kinderarmut[19] und unsichere Zukunftschancen aufgrund einer im Wandel befindlichen Gesellschaft, von der Frage nach zukunftstauglichen Arbeitsplätzen bis zur Rente.

So war die Jugend einer repräsentativen Befragung im Jahr 2024 „so pessimistisch wie noch nie“[20] und machte sich Sorgen um Kriege, Altersarmut und bezahlbaren Wohnraum. Schon die im April/ Mai 2020 erhobene Studie „Kind sein in Zeiten von Corona“ des Deutschen Jugendinstituts, die auf über 12.000 Befragungen basiert, zeigt dabei den Zusammenhang von Armut und der Empfindung von Einsamkeit[21]. Eine verheerende Spirale setzt sich häufig in Gang: Armut (auch drohende Armut) erzeugt Ängste und macht schneller krank, Krankheit und Pandemiemassnahmen führen zu Isolierung und Einsamkeit, Überforderungen und Ängste steigen, und wer bei alledem im Arbeitsleben nicht mehr besteht und die Miete nicht mehr bezahlen kann rutscht weiter in die Armut.

Chronische Müdigkeit (Fatigue) kann eine Erschöpfungsreaktion aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen sein[22]– allerdings wird das Phänomen in der Literatur bis heute vor allem als Folge einer Corona-Infektion („Post-/ Long-Covid“) wahrgenommen, nicht als Folge der Corona-Massnahmen. Ähnlich eindimensional wird auch an die Frage herangegangen, ob längeres Maskentragen bei Kindern Schäden hervorrufen könnte. „Nein“, lautet verbreitet die kategorische Antwort[23]. Und natürlich haben sich auch wieder Heerscharen von „Faktenchecks“ der Frage angenommen[24].

Dieses „Nein“ ist allerdings nicht so eindeutig, wie es scheint, internationale toxikologische Studien weisen im Gegenteil durchaus auf Gesundheitsrisiken hin[25]. Halten wir fest: die Frage, wie sinnvoll (oder riskant) eine allgemeine Maskenverpflichtung Schulpflichtiger war, ist nicht schlussendlich geklärt. In den RKI-Files liest man einen Eiertanz á la „Masken wegen Fremdschutz, denn würde man mit Selbstschutz argumentieren, dann würde die gesundheitliche Verantwortung auf die anderen abgeschoben, die schliesslich eine Maske tragen könnten“ – dies liest sich nicht wie eine eindeutige, evidenzbasierte Begründung für das Maskentragen.

Ohnehin ging es in der Maskendebatte primär darum, ob es z.B. zu einer CO2-Vergiftung kommen könnte – die Maske als Inventarium der beständigen Angst, die psychischen Folgen der Ängste, eine möglicherweise steigende leichtere Reizbarkeit und höhere Ausschüttung von Strasshormonen, Konzentrationsbeeinträchtigungen durch die Maske beim Lernen, die sozialen Folgen durch eingeschränkte Mimik etc. waren und sind kein Thema. Ende 2022, gut zweieinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie, wies der Ethikrat eine Mitschuld an psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen infolge der Corona-Eingriffe von sich, obwohl dieses Gremium mit seinen Empfehlungen neben dem RKI einen hohen Stellenwert für das ob und wie der Massnahmen hatte. „Die psychischen Belastungen im Kontext der COVID-19-Pandemie insbesondere für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind in der Öffentlichkeit oft übersehen worden“, heisst es in einer Ad-hoc-Stellungnahme des Ethikrats vom November 2022[26]. Dieses Eingeständnis markiert das Maximum der Reflexionsbereitschaft. Von Entschuldigung keine Spur.

Eine Risikoabwägung fand nicht statt

„Die nun seit Beginn der Pandemie gemachte Beobachtung, dass von den schätzungsweise 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland nur etwa 1.200 mit einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus (< 0,1%) behandelt werden mussten und 4 an ihrer Infektion verstarben (< 0,00002%)“[27] müsste, in Relation zu den drakonischen, folgenreichen Massnahmen gesetzt, verdeutlichen, dass im Frühjahr 2021 eine Entwarnung gegeben hätte werden können. Weiter heisst es in der Stellungnahme: „Die weiterhin bestehende extreme Seltenheit eines schweren oder gar tödlichen Verlaufes von SARS-CoV-2 bei Kindern und Jugendlichen ist nicht geeignet, als Argument für Schul- und Kita-Schliessungen benutzt zu werden“.

Klare Worte, eigentlich. Sogleich meldeten sich jedoch „Faktenchecker“, die dies als „Verharmlosung“ geisseln: „am 5. Dezember 2021 lag die durch einen positiven Coronatest bestätigte Fallzahl in Deutschland bei Kindern bis 19 Jahre bei 1,3 Millionen. In dieser Altersgruppe gab es 41 Corona-Todesfälle (Stand: 8. Dezember 2021). Die Mortalität ist dabei also eine andere: 41 Todesfälle bei 1,3 Millionen infizierten Kindern statt vier bei 14 Millionen Kindern insgesamt“[28]. Der Lehrerverband und die GEW waren zu diesem Zeitpunkt noch gegen die Lockerungen von Maskenregeln bei Schulpflichtigen. Zum Vergleich: jährlich gibt es bei den bis zu 18jährigen über 100 Verkehrstote in Deutschland[29] – ohne dass Minderjährige deshalb eingesperrt werden. Und alleine 2021 gab es 189 „erfolgreiche“ Suizide bei den bis zu 19jährigen, insgesamt gibt es in dieser Altersgruppe (bis einschliesslich 2024) unter Berücksichtigung der gestiegenen Suizidzahlen (für die im konkreten Fall keine Ursachenerhebung erfolgt bzw. bekannt ist) vermutlich mehr Tote wegen der Corona-Massnahmen als durch das Virus.

Gerade wenn also jedes menschliche Leben zu schützen ist, hätte hier eine umfassende Abwägung möglicher Folgen stattfinden müssen, idealerweise ins Verhältnis gesetzt zu anderen Lebensbedrohungen. Das ist verheerend. So nahm die Zahl vielfach tödlicher Lungenentzündungen bei Kindern nach der Pandemie deutlich zu, da die Erreger auf ein nun zerstörtes Immunsystem trafen. Diese Zahlen wurden allerdings noch nicht gezählt. Auch die gezielt geschürten Ängste haben das gesundheitliche Gleichgewicht und Wohlbefinden aus dem Takt gebracht. Das ist ein Verstoss gegen die UN-Kinderrechtskonvention, nach der jedes Kind, überall auf der Welt, ein Recht auf gesundes Aufwachsen inklusive der seelischen Unversehrtheit, hat - ebenso auf Bildung, Informationsfreiheit und auf Teilhabe, und auch hier wurden während der Pandemie die Kinderrechte drastisch beschnitten.

Ende 2024 ist die psychische Verfassung der Jugendlichen in Deutschland nach der vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf veröffentlichten COPSY (COrona und PSYche)-Längsschnittstudie im Schnitt noch immer schlechter als vor der Corona-Pandemie[30] ,auch wenn es 2022 und 2023 leichte Verbesserungen gegenüber 2020/ 2021 gab. Globale Krisen, Kriege und Klimawandel spielen eine Mit-Rolle neben der Pandemie, dennoch sind diese Zahlen alarmierend. 23 Prozent der jungen Menschen berichteten noch Ende 2024 von Angstsymptomen, 21 Prozent von einer anhaltenden Beeinträchtigung der Lebensqualität. 21 Prozent der Befragten gaben an, sich manchmal, oft oder immer einsam zu fühlen – vor der Pandemie waren dies 14%. Einsame Menschen – wer ist leichter empfänglich für rechte Angebote, die wenigstens noch eine gemeinschaftliche Identität, eine (Volks-)Gemeinschaft versprechen? Schon Hannah Arendt problematisierte die Wahrnehmung von Einsamkeit als einen Möglichkeitsraum, der für Terror und Totalitarismus empfänglich macht.

Die psychische Gesundheit besonders beeinträchtigende bzw. zusätzliche Risikofaktoren sind auch 2024 eine geringe Bildung der Eltern, ein Migrationshintergrund, wenig Geld und beengte Wohnverhältnisse[31]. Familien wurden und sind massiv belastet, nicht nur psychisch, sondern auch finanziell. Nach der in Hildesheim 2020 veröffentlichten bundesweiten KiCo-Studie gaben 33,9% der Familien n, seit Corona grössere Geldsorgen zu haben[32]. Global ist die Situation noch verheerender. Seit 2020 stieg die Zahl der jungen Menschen, die zur Kinderarbeit gezwungen sind, nicht zuletzt aufgrund der Pandemie-Massnahmen erstmals seit rund 20 Jahren wieder an[33]. Sowohl die Massivität der seelischen Belastungen aufgrund der Pandemiemassnahmen wie auch die Langfristigkeit der Nachwirkungen überraschten auch Ärzt*innen und Psycholog*innen, so Franziska Wiess und Ulrike Ravens-Sieberer[34].

Gerald Grüneklee

Fussnoten:

[1] https://www.springermedizin.de/covid-19/angst/-die-angst-vor-dem-coronavirus-ist-weit-ueberzogen-/17836720

[2] Rutschky, Katharina (1977): Schwarze Pädagogik – Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung; Frankfurt

[3] https://www.rnd.de/politik/corona-impfungen-fuer-kinder-unter-12-kinderaerzte-kritisieren-massiven-druck-der-politik-M7YC4XYATVGAVICXMYJCKP7PC4.html;

[4] https://www.kbv.de/html/54434.php

[5] https://www.tagesschau.de/faktenfinder/covid-kinder-hospitalisierungen-101.html

[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1104173/umfrage/todesfaelle-aufgrund-des-coronavirus-in-deutschland-nach-geschlecht/

[7] Grüneklee, Gerald (2021): Corona – Gegenwart und Zukunft unter dem Virus; Bremen/ Onsabrück, S. 77ff.; https://www.aerzteblatt.de/archiv/217182/COVID-19-in-Schulen-Keine-Pandemie-Treiber

[8] https://exxpress.at/news/aufregung-ueber-minister-sager-zu-mobbing-ungeimpfter/

[9] https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/Bayern-verschaerft-Corona-Massnahmen-massiv-424654.html

[10] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer/2020

[11] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer-depression

[12] https://www.spiegel.de/ausland/depressionen-und-psyche-nach-zwei-jahren-corona-pandemie-so-geht-es-uns-a-7c0dfc19-9eb7-44f9-8163-3b7116beef17

[13] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/who-corona-anstieg-psychische-krankheiten-101.html

[14] https://medmix.at/corona-lockdown-macht-kinder-krank-save-the-children-analyse-belegt-anstieg-von-psychischen-krankheiten/

[15] https://www.rnd.de/gesundheit/corona-hilferufe-von-kindern-und-jugendlichen-nehmen-zu-viele-haben-suizid-gedanken-ENE6RYV23VFSTIGSWLWGH322JA.html

[16] taz, 3.3.2025

[17] https://www.zeit.de/news/2021-06/02/forscherin-corona-hat-junge-leute-aus-der-bahn-geworfen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

[18] https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesundheitsstudien/tk-gesundheitsreport-2023-2149758?tkcm=ab.

[19] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/factsheet-kinder-und-jugendarmut-in-deutschland

[20] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/studie-jugend-100.html

[21] https://www.dji.de/themen/familie/kindsein-in-zeiten-von-corona-studienergebnisse.html

[22] https://www.usz.ch/krankheit/chronische-muedigkeit/

[23] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/118301/Keine-Gefahr-fuer-Kinder-durch-Mund-Nasen-Schutz

[24] z.B. https://www.br.de/nachrichten/wissen/faktenfuchs-warum-maskentragen-fuer-kinder-unbedenklich-ist,SCGG38z, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kinder-masken-studie-103.html , https://correctiv.org/faktencheck/2020/04/24/maskenpflicht-nein-beim-tragen-eines-mundschutzes-atmet-man-nicht-zu-viel-co2-ein/, https://faktencheck.afp.com/doc.afp.com.9F76L7

[25] z.B. [23] " target="_blank" rel="noreferrer noopener">https://www.cell.com/heliyon/fulltext/S2405-8440[23] 01324-5?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS2405844023013245%3Fshowall%3Dtrue, https://www.mdpi.com/1660-4601/18/8/4344, https://www.aimspress.com/article/doi/10.3934/environsci.2022015, https://www.preprints.org/manuscript/202312.1576/v1

[26] https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-pandemie-und-psychische-gesundheit.pdf

[27] Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), 21.4.2012

[28] https://www.profil.at/faktiv/corona-verharmloser-mit-falschen-zahlen-gegen-die-kinderimpfung/401845987

[29] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabellen/verkehrstote-nach-alter.html

[30] https://www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_160448.html; https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html

[31] https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wohlbefinden-von-kindern-steigt-nach-corona-wieder-151777/

[32] https://hilpub.uni-hildesheim.de/server/api/core/bitstreams/a45a4018-281c-42cc-ac67-ee5bf03eeeb4/content

[33] https://www.unicef.ch/de/aktuell/medienmitteilungen/2021-06-10/weltweite-kinderarbeit-steigt-auf-160-millionen

[34] https://www.kindergesundheit.de/Die-Stiftung/Kindergesundheitsberichte/Kindergesundheitsbericht_digital.pdf