Frankfurt am Main - eine der Hochburgen der 1968er Bewegungen Pitaval 68: Sammlung von historischen Strafrechtsfällen
Gesellschaft
Die Idee entstand, als ich vor elf Jahren in der Deutschen Nationalbibliothek (Standort Frankfurt am Main) die BILD des Jahres 1968 durchsah.
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29. März 2018
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Korrektur
Ich lebte 2007 seit vier Jahren in einer Stadt, die ihr Selbstporträt in kräftigen Farben malt. Kaiserdom und Kaiserkrönungen. Paulskirche, Nationalversammlung, Hort der bürgerlichen Demokratie. Bembel, Blauer Bock und Grüne Sosse. Handel und Wandel, Banken, jüdisches Zentrum und die in Deutschland einmalige Skyline.
Bahnhofsviertel, Drogen-Dorado und – eine der Hochburgen der 1968er Bewegungen; ich sage nur Joschka, ich sage nur Dany. Es tappst ein Turnschuh durchs hessische Landesparlament. Es rieseln die Kiesel des Pflasterstrandes, und es rauscht in den Bäumen des Stadtwalds in der Einflugschneise des Flughafens: der „Mythos 68“. Mit einem Wort: Es klingeln die Glöckchen der Geschichtsschreibung. Dazu komme ich noch.
Zunächst folgender Einschub: Für den hausgemachten Frankfurter galt und gilt, was ihm der heimatliche Dichter Friedrich Stoltze für alle Ewigkeit ins Poesie-Album schrieb: „Es is kaa Stadt uff der weite Welt, / die so merr wie mei Frankfort gefällt, / un es will merr net in mein Kopp enei, / wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“ In der zweiten Strophe dieses 1880 zum V. Deutschen Turnfest in Frankfurt am Main entstandenen, übermütig-bürgerpatriotischen Gedichtes heisst es übrigens: „Un wär'sch e Engel un Sonnekalb, / e Fremder is immer von ausserhalb! / Der beste Mensch is e Ärjerniss, / wann er net aach von Frankfort is.“ Das lese jeder nach seinem Humor. (Der aufgeweckte Frankfurter wird sagen, wie souverän, weil selbstironisch, wir Bürger doch seien. Und Fremde wären uns selbstverständlich willkommen; schauen Sie sich nur mal die Zahl der Fluggäste pro Jahr an!)
Doch zurück in die Nationalbibliothek.
Das Jahr 1968 zog stundenlang vor meinen Augen vorüber. Mitunter stoppte ich den Microfiche, schliesslich blieb ich erst bei einem, dann beim Zweiten, dann beim nächsten Kriminalfall hängen. Etwas geschah in meinem Unterbewusstsein. Etwas schob sich zusammen. Das planlose Suchen – anstrengend für die Augen, amüsant für den Verstand – bündelte sich zusehends. Was, dachte ich plötzlich, wenn Kriminalfälle einer Zeit mehr über den Zeitgeist verraten als elegante Essays, tief recherchierte Geschichtsbücher, faktenreiche Filme? Oder vielleicht nicht mehr, aber … Was, wenn sich etwas … wie ein Pitaval zusammenstellen liesse? Der Mikroplanfilm surrte, das Material knirschte, es schlug im Rhythmus das Wort Pitaval, Pitaval, Pitaval. In der Art jener Art Konvolut, das der namensgebende Advokat Francois Gayot de Pitaval mit einer Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle zu Anfang des 18. Jahrhunderts begründete …
Ich glitt aus dem Jahr 2007 durch das Jahr 1968 – zurück bis 1792. Damals schrieb Friedrich Schiller in der Vorrede zur Pitaval-Ausgabe: „Das geheime Spiel der Leidenschaft entfaltete sich hier vor unsern Augen, und über die verborgenen Gänge der Intrige, über die Machinationen des geistlichen sowohl als weltlichen Betruges wird mancher Strahl der Wahrheit verbreitet.
Triebfedern, welche sich im gewöhnlichen Leben dem Auge des Beobachters verstecken, treten bei solchen Anlässen, wo Leben, Freiheit und Eigentum auf dem Spiele stehen, sichtbarer hervor, und so ist der Kriminalrichter imstande, tiefere Blicke in das Menschenherz zu tun [...], und wenn die vollständigste Geschichtserzählung uns über die letzten Gründe einer Begebenheit, über die wahren Motive der handelnden Spieler oft genug unbefriedigt lässt, so enthüllt uns oft ein Kriminalprozess das Innerste der Gedanken [...].“
Spricht Schiller hier vom – Zeitgeist, der sich in den grossen und kleinen, in den kuriosen und brutalen zeittypischen Verbrechen zeigt? Die Mikroform der BILD zischte durch. Ich legte die nächste Rolle ein, eine nächste Woche des Jahres 1968.
Später, aus 2007 wurde 2008, wurde 2009 ff. fielen mir, immer mal wieder mit dem Material spielend – einigen Kriminalfällen war ich inzwischen nachgegangen – zwei weitere Zeitgeist-Hinweiser ein: P. D. James, eine der britischen Queens of Crime, die eine, Armin Schön, Karnickelzüchter, der andere.
„Nehmen Sie zum Beispiel die viel berüchtigten viktorianischen Kriminalfälle. Die wären in keinem anderen Jahrhundert denkbar. Sind nicht zu trennen von der klaustrophobischen Atmosphäre überladener Salons, dem Diktat der ehrbaren Fassade und der unterwürfigen Gattin. Eine Scheidung – falls die Ehefrau Gründe dafür vorbringen konnte, was schwer genug war – bedeutete den Ausschluss aus der Gesellschaft. Kein Wunder, dass die armen Dinger darauf verfielen, arsengetränkte Fliegenfänger zu lutschen. Und Mord, dieses einzigartige Verbrechen, ist ein Paradigma seiner Zeit“, so P. D. James in ihrem Roman „Im Saal der Mörder“.
Und Armin Schön, Ausstellungsleiter der Landesschau des Landesverbandes der Rassekaninchenzüchter Hessen-Nassau sagte am 10. Januar 2011 ins Mikrofon der abendlichen Hessenschau: „Der Kaninchenzüchter ist ein sachlicher, anständiger Mensch, und unsere Jungzüchter, die wir grossziehen, was unsere Nachfolger mal werden sollen, die ham keine Zeit für Steinewerfen und für Streiche spielen. Die befassen sich mit ihren Tieren.“ So hat jede Zeit ihre speziellen Normalitäten wie ihre speziellen „Auswüchse“. Und was verraten die späterhin von diese Zeit?