In einer anderen Person könnte die Erfahrung als Potenzial schlummern oder für immer bedeutungslos bleiben, oder sie könnte dazu beitragen, ihn zu einem Ungeheuer zu machen. Kurz gesagt, die Erfahrung ist ein unauslöschlicher Teil der Vergangenheit des Individuums, aber sie bestimmt nicht seine Zukunft; das Individuum ist frei, seine Zukunft zu wählen; es ist sogar frei, sich dafür zu entscheiden, seine Freiheit abzuschaffen, in diesem Fall wählt es in böser Absicht und ist ein Salaud (J.P. Sartres präziser philosophischer Begriff für eine Person, die eine solche Wahl trifft) [1].
Meine Beobachtungen sind von Sartre entliehen; ich würde sie gerne anwenden, nicht auf Solschenizyn, aber auf mich selbst, als ein konkretes Individuum, und auf die amerikanischen Cheerleader, die sich konkret dafür entschieden haben, den Staat Israel anfeuern.
Ich war eines von drei kleinen Kindern, die von unseren Ältesten aus einem mitteleuropäischen Land [2] weggebracht wurden, einen Monat bevor die Nazis in dieses Land einmarschierten und begannen die Juden zusammenzutreiben. Nur ein Teil meiner Grossfamilie blieb zurück, der Rest wurde deportiert; von diesen starben alle meine Cousins, Tanten und Grosseltern in den Konzentrationslagern oder Gaskammern der Nazis, mit Ausnahme von zwei Onkeln, die ich später erwähnen werde.
Ein Monat mehr und auch ich wäre einer derer gewesen, der der rational-wissenschaftlich geplante Auslöschung von Menschen unterzogen worden wäre, eine Schlüsselerfahrung von so vielen Menschen in einem Zeitalter hochentwickelter Wissenschaft und Produktivkräften – und ich hätte nicht darüber schreiben können.
Ich war einer derjenigen, die davon kamen. Meine Kindheit verbrachte ich unter Quechua sprechenden Menschen in den Hochebenen der Anden, aber ich lernte nicht Quechua sprechen und ich fragte mich nicht warum; ich sprach mit einem Quechua in einer Sprache, die uns beiden fremd war, in der Sprache der Konquistadoren. Ich war mir weder meiner selbst als Flüchtling noch der Quechuas als Flüchtlinge in ihrem eigenen Land bewusst; ich wusste nicht mehr über die Schrecken – die Enteignungen, Verfolgungen und Pogrome, die Vernichtung einer alten Kultur – die ihre Vorfahren erlebt hatten, als ich über die Schrecken wusste, die meine Vorfahren erlebt hatten.
Zu mir waren die Quechuas wohlmeinend gastfreundlich und arglos und ich blickte auf sie ähnlich wie eine meiner Tanten, die sie respektierte und mochte, anstatt wie ein andere Verwandte, die sie betrog und herablassend war und sie dreckig und primitiv nannte.
Der Betrug von dieser Verwandten war mein erster Kontakt mit der Doppelmoral, der Ausbeutung von Aussenstehenden zur Bereicherung von Innenstehenden, dem moralischen Sprichwort, das besagte: „Es ist in Ordnung, wenn wir es sind, die es tun.“
Die Geringschätzung von dieser Verwandten war meine erste Erfahrung mit Rassismus, was dieser Verwandten eine Gemeinsamkeit mit den Pogromisten verlieh, vor denen wir geflohen waren; ihre knappe Flucht vor ihnen machte sie nicht zu einer Kritikerin der Pogromisten. Die Erfahrung trug wahrscheinlich nichts zu ihrer Persönlichkeit bei, nicht einmal die Identifikation mit dem Konquistador, da diese von Europäern geteilt wurde, die nicht die Erfahrung meiner Verwandten teilten, knapp einem Konzentrationslager entkommen zu sein. Die unterdrückten europäischen Bauern hatten sich schon vor der Erfahrung meiner Verwandten mit den Konquistadoren identifiziert, die die Nichteuropäer noch schlimmer unterdrückten.
Meine Tante nutzte ihre Erfahrung Jahre später, als sie sich entschied, den Staat Israel anzufeuern, wobei sie ihre Verachtung für die Quechuas nicht aufgab: im Gegenteil, sie übertrug ihre Verachtung auf Menschen in anderen Teilen der Welt, Menschen, die sie nie kennengelernt hatte oder bei denen sie nie gewesen war. Aber zu jener Zeit war ich über den Charakter ihrer Entscheidungen nicht besorgt; ich machte mir mehr Sorgen über die Schokoriegel, die sie mir mitbrachte.
Als Teenager wurde ich nach Amerika gebracht, was selbst für die Quechuas, die bereits in Amerika waren, ein Synonym für New York war; es war ein Synonym für viel mehr, was ich sehr langsam lernen sollte.
Kurz nach meiner Ankunft in Amerika wurde die Staatsmacht des mitteleuropäischen Landes, aus dem ich stammte, von einer gut organisierten Bande von Gerechtigskeitskämpfern erobert, die glaubten, sie könnten die allgemeine Emanzipation zustande bringen, indem sie staatliche Stellen bekleiden und Polizisten werden. Der neue Staat Israel führte seinen ersten erfolgreichen Krieg und verwandelte eine einheimische Bevölkerung von Semiten in Binnenflüchtlinge, so wie die Quechuas, Exilanten und mitteleuropäische Juden. Ich hätte mich fragen sollen, warum die semitischen Flüchtlinge und die europäischen Flüchtlinge, die behaupteten, semitisch zu sein, zwei Völker mit so vielen Gemeinsamkeiten, nicht gemeinsame Sache gegen gemeinsame Unterdrücker machten, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Weg in Amerika zu finden.
Von einem Grundschulfreund, der von meinen Eltern als ein Rowdy betrachtet wurde, als auch von meinen Eltern selbst, lernte ich langsam, dass Amerika der Ort war, an dem jeder sein wollte, so etwas wie das Paradies, aber ein Paradies, das unerreichbar blieb, selbst wenn man nach Amerika kam. Amerika war ein Land der Angestellten und Fabrikarbeiter, aber weder Angestellte noch Fabrikarbeiter standen für Amerika. Mein Rowdyfreund fasste alles sehr einfach zusammen: Es gab sucker und hustler, und man musste dumm sein, um ein sucker zu werden. Meine Eltern waren weniger deutlich; sie sagten: Lernt fleissig. Die implizite Motivation war: Gott bewahre dich davor, ein Angestellter oder Fabrikarbeiter zu werden! Werde etwas anderes: ein Fachmann oder ein Manager.
Zu dieser Zeit wusste ich nicht, dass diese anderen Berufe auch zu Amerika gehörten und dass dieses mit jeder erreichten Sprosse das Paradies so unerreichbar blieb, wie zuvor. Ich wusste nicht, dass die Befriedigung des Fachmanns oder sogar des Angestellten oder Arbeiters nicht aus der Fülle seines eigenen Lebens, sondern aus der Ablehnung seines eigenen Lebens kam, aus der Identifikation mit dem grossen Prozess, der ausserhalb von ihm stattfand, dem Prozess der ungebremsten industriellen Zerstörung. Die Ergebnisse dieses Prozesses konnte man in Filmen oder Zeitungen sehen, wenn auch noch nicht im Fernsehen, das den Prozess bald in jedes Haus bringen sollte; die Befriedigung war die des Voyeurs, des Spions. Damals wusste ich noch nicht, dass dieser Prozess das konkreteste Synonym für Amerika war.
In Amerika angekommen, konnte ich meine Erfahrung, knapp einem Konzentrationslager der Nazis entkommen zu sein, nicht mehr gebrauchen; die Erfahrung konnte mir nicht helfen, die Leiter zum Paradies zu erklimmen und würde mich vielleicht sogar daran hindern; mein überstürzter Aufstieg wäre vielleicht erheblich verlangsamt oder sogar ganz gestoppt worden, wenn ich versucht hätte, mich in den Zustand der Insassen eines Arbeitslagers hineinzuversetzen, der ich vielleicht geworden wäre. Dann wäre mir klar geworden, was die Aussicht auf Fabrikarbeit so furchterregend machte: Sie unterschied sich von dem anderen Zustand dadurch, dass es keine Gaskammern gab und dass der Fabrikarbeiter nur seine Wochentage darin verbrachte.
Ich war nicht der Einzige, der keine Verwendung für seine mitteleuropäischen Erfahrungen hatte. Auch meine Verwandten hatten keine Verwendung dafür. In diesem Jahrzehnt lernte ich einen meiner beiden Onkel kennen, der tatsächlich ein Konzentrationslager der Nazis durchlebt hatte. In Amerika angekommen, hatte auch dieser Onkel keine Verwendung für seine Erfahrung; er wollte nichts weiter, als das Pogrom und alles, was damit verbunden war, vergessen; er wollte nur die Karriereleiter Amerikas erklimmen; er wollte nicht anders aussehen, klingen und handeln als andere Amerikaner. Meine Eltern hatten genau die gleiche Einstellung. Man erzählte mir, dass mein anderer Onkel die Lager überlebt hatte, nach Israel gegangen war und kurz nach seiner Ankunft von einem Auto überfahren wurde.
Der Staat Israel interessiert mich in jenem Jahrzehnt nicht, auch wenn ich davon hörte. Meine Verwandten sprachen mit einem gewissen Stolz über die Existenz eines Staates mit jüdischen Polizisten, einer jüdischen Armee, jüdischen Richtern und Fabrikmanagern, kurz gesagt, eines Staates, der ganz anders war als Nazideutschland und genau wie Amerika. Meine Verwandten identifizierten sich, unabhängig von ihrer persönlichen Situation, mit den jüdischen Polizisten und nicht mit den Personen, die von Repression betroffen waren [policed; A.d.Ü.], mit den Fabrikbesitzern und nicht mit den jüdischen Arbeitern, mit den jüdischen hustlers und nicht mit den suckers, eine Identifikation, die bei Menschen, die ihre unmittelbare Begegnung mit Arbeitslagern vergessen wollten, verständlich war. Aber keiner von ihnen wollte dorthin gehen; sie waren bereits in Amerika.
Meine Verwandten spendeten zähneknirschend für die zionistische Sache und waren – mit Ausnahme meiner rassistischen Verwandten – verblüfft über die uneingeschränkte Begeisterung von Amerikanern der zweiten bis neunten Generation für einen fernen Staat mit jüdischen Polizisten, Lehrern und Managern, denn diese Leute waren bereits Polizisten, Lehrer und Manager in Amerika. Meine rassistische Verwandte verstand, worauf diese Begeisterung beruhte: rassische Solidarität [racial solidarity]. Aber das war mir damals noch nicht bewusst. Ich war kein übermässig kluger amerikanischer Highschool-Schüler und dachte, rassische Solidarität sei etwas, das nur den Nazis, den Buren und amerikanische Südstaatlern vorbehalten sei.
Ich begann mit den Merkmalen der Nazis vertraut zu werden, die mich fast gefangen genommen hätten: dem Rassismus, der menschliche Wesen auf ihre blosse genealogischen Verbindung über fünf oder sechs Generationen reduzierte, der kreuzritterliche Nationalismus, welcher den Rest der Menschheit als Hindernis betrachtete, die Gleichhaltung [Deutsch i.O.], welche die Entscheidungsfreiheit des Individuums unterbindet; der technologischen Effizienz, welche kleine Menschen zu blossem Futter für grosse Maschinen machte, dem tyrannischen Militarismus, der Panzerwände gegen eine Kavallerie antreten liess und das Hundertfache der erlittenen Verluste forderte, die offizielle Paranoia, welche den Feind – schlecht bewaffnete Stadt. und Dorfbewohner – als eine fast omnipotente Verschwörung globalen Ausmasses darstellte. Aber ich sah nicht, dass diese Merkmale irgendetwas mit Amerika oder Israel zu tun hatten.
Erst im nächsten Jahrzehnt, als amerikanischer College-Student mit leichtem Interesse an Geschichte und Philosophie, begann ich, mir ein wenig Wissen über Israel und den Zionismus anzueignen, nicht weil ich mich besonders dafür interessierte, sondern weil es in meiner Pflichtlektüre enthalten waren. Ich war weder feindselig noch freundlich, ich war gleichgültig, denn ich hatte immer noch keine Verwendung für meine Erfahrungen als Geflüchteter.
Aber ich blieb Israel oder dem Zionismus gegenüber nicht gleichgültig. Es war das Jahrzehnt, von Israels spektakuläre Gefangennahme des Guten Deutschen Eichmann und [spektakulären] Prozesses gegen ihn und Israels spektakulärer Invasion in grosse Teile Ägyptens, Syriens und Jordaniens in einem sechstägigen Blitzkrieg [Deutsch i.O.], ein Jahrzehnt, in dem Israel eine Neuigkeit für alle war, nicht nur für Flüchtlinge.
Ich hatte keine ungewöhnlichen Gedanken über den gehorsamen Eichmann, bis auf den Gedanken, dass er nicht so aussergewöhnlich sein konnte, da ich in Amerika schon Leute wie ihn getroffen hatte. Aber einige meiner Lektüren brachten mich dazu, mir Gedanken über den Rassismus meiner zionistischen Verwandten zu machen.
Ich lernte, dass Menschen wie die alten Hebräer, Akkader, Araber, Phönizier und Äthiopier aus dem Land Sem (der arabischen Halbinsel) stammten und alle die Sprache Sem sprachen, was sie zu Semiten machte. Ich erfuhr, dass die jüdische Religion unter Semiten im alten levantinischen Staat Juda entstanden war, dass sich die christliche Religion unter Semiten in den alten levantinischen Städten Nazareth und Jerusalem entwickelte und dass die islamische Religion unter Semiten sich in den alten arabischen Städten Mekka und Medina entwickelte – die Region, die Palästina genannt wird und für die islamischen Semiten, die dort und in den umliegenden Regionen lebten, in den letzten 1300 Jahren ein heiliger Ort war.
Ich lernte auch, dass die Religionen der europäischen und amerikanischen Juden ebenso wie die Religionen der europäischen und amerikanischen Christen im Laufe von fast zwei Jahrtausenden von Europäern und in jüngerer Zeit von Amerikanern entwickelt wurden.
Wenn die europäischen und amerikanischen Juden im Hinblick auf ihre Religion Semiten waren, dann waren auch die europäischen und amerikanischen Christen Semiten, eine Vorstellung, die allgemein als absurd angesehen wurde.
Wenn die Juden aufgrund der Sprache ihres heiligen Buches Semiten waren, dann waren alle europäischen und amerikanischen Christen Griechen oder Italiener, eine Vorstellung, die ebenso absurd wäre.
Ich begann zu vermuten, dass die einzige Verbindung meiner zionistischen Verwandten zu Zion in der Levante eine genealogische Verbindung war, die nicht über sechs, sondern über mehr als sechzig Generationen zurückverfolgt wurde. Aber ich war dazu gekommen solche rassischen Berechnungen als eine Besonderheit der Nazis, Buren oder amerikanischen Südstaatlern zu verstehen.
Ich war beunruhigt. Ich dachte, dass da sicher mehr dahinter steckte; sicher waren diejenigen, die behaupteten, von den Opfern all dieses Rassismus abzustammen, nicht auch Anhänger eines zehnmal umfassenderen Rassismus.
Ich wusste nur wenig über die zionistische Bewegung, aber genug um davon abgestossen zu sein. Ich wusste, dass die Bewegung ursprünglich zwei Flügel hatte, von denen ich den einen, den sozialistischen, verstehen konnte, da ich begann mit den Opfern von Unterdrückung mitzufühlen, nicht durch Einsichten, die ich durch meine Erfahrungen gewann, sondern durch Bücher, die auch für andere verfügbar waren; der andere Flügel des Zionismus war für mich unverständlich.
Die egalitären oder linken Zionisten, wie ich sie damals verstand, wollten nicht in die europäischen Staaten assimiliert werden, die sie verfolgten, einige, weil sie nicht glaubten, dass sie jemals assimiliert sein könnten, andere, weil sie von dem sich industrialisierenden Europa und Amerika abgeschreckt wurden. Der Messias, ihre Bewegung, würde Israel aus dem Exil befreien und nach Zion führen, zu etwas ganz und gar anderem, in ein Paradies ohne suckers und hustlers. Einige von ihnen hofften, noch metaphorischer, dass der Messias die Unterdrückten von ihren Unterdrückern befreien würde, wenn nicht überall, dann zumindest in einem tausendjährigen egalitären Utopia in einer Provinz des Osmanischen Reiches, und sie waren bereit, sich mit den islamischen Bewohnern von Zion gegen die osmanischen, levantinischen und britischen Unterdrücker zu verbünden. Sie teilten diesen Traum mit den christlichen Millenaristen, die seit mehr als einem Jahrtausend versuchten, Zion in der einen oder anderen Provinz Europas zu gründen; beide hatten die gleichen Wurzeln, aber ich vermutete, dass die linken Zionisten ihren Millenarismus von den Christen geerbt hatten.
Die egalitären Zionisten waren arrogant zu glauben, die islamischen Bewohner Zions würden die europäischen Linken als Befreier empfangen, und sie waren genauso naiv wie die Gerechtigkeitskämpfer, die in meinem Geburtsland die Staatsmacht an sich gerissen hatten und hofften, das tausendjährige Reich würde beginnen, sobald sie Staatsämter besetzten und Polizisten wurden. Aber soweit ich sehen konnte, waren sie keine Rassisten.
Die anderen Zionisten, die Rechten, die zu der Zeit als ich das College erreichte, zumindest in Amerika die Linken verdrängt hatten, waren ausgesprochene Rassisten und Assimilatoren; sie wollten einen Staat, der von einer Rasse [Race] beherrscht wurde, die nur leicht als Religion getarnt war, einen Staat, der nicht etwas völlig anderes sein würde, sondern genau dasselbe wie Amerika und die anderen Staaten in der Familie der Nationen. Ich konnte das nicht verstehen, denn es schien mir, dass diese Zionisten, zu denen Statisten, Industrielle und Technokraten gehörten, nicht nur Rassisten, sondern auch Marranen [Conversos] waren.
Die frühen Marranen waren Juden im Spanien des 15. Jahrhunderts, die, um der Verfolgung zu entgehen, entdeckten, dass der lang erwartete jüdische Messias bereits anderthalb Jahrtausende zuvor in der Person des jüdischen Propheten Jesus, des Gekreuzigten, gekommen war. Einige dieser Marranen schlossen sich daraufhin der Inquisition an und verfolgten Juden, die diese Entdeckung nicht gemacht hatten.
Die modernen Marranen waren nicht katholisch geworden; der Katholizismus war im zwanzigsten Jahrhundert nicht das vorherrschende Glaubensbekenntnis, sondern Wissenschaft und Technologie.
Ich dachte, dass Jesus, wenn auch nur als Relikt, zumindest einige der Eigenschaften alter menschlichen Gemeinschaften bekräftigt hatte; wohingegen Wissenschaft und Technologie nichts Menschliches bekräftigten; sie zerstörten Kultur genauso wie Natur und menschliche Gemeinschaft.
Es schien traurig, dass die lange bewahrten und sorgsam geschützten Besonderheiten einer kulturellen Minderheit, die sich geweigert hatte absorbiert zu werden, dabei war zu zerbrechen, hatte sie doch entdeckt, dass der technokratische Staat der Messias war und der industrielle Prozess das lang erwartete Tausendjährige Reich. Das machte die ganze Geschichte bedeutungslos. Der Traum dieser rassistischen Marranen war für mich abstossend.
Erst im folgenden Jahrzehnt, als ich über dreissig Jahre war, begann mein Verhältnis zum Nazi-Pogrom für mich von Bedeutung zu werden. Diese Neubewertung meiner frühen Erfahrung geschah plötzlich und wurde durch eine Art Zufallsbegegnung ausgelöst, eine Begegnung, die, ebenfalls rein zufällig, einen seltsamen Bezug zum Staat Israel enthielt.
Es war das Jahrzehnt, in dem Amerika seinen Vernichtungskrieg gegen ein Volk und eine alte Kultur des Fernen Ostens führte.
Der Zufall wollte, dass ich meine amerikanisierten Verwandten zur gleichen Zeit besuchte, in der auch meine Tante aus den Anden zum ersten Mal seit ihrer Trennung wieder bei ihnen war. Es war die Tante, die die Quechua sprechenden Menschen respektiert hatte, wenn auch nicht genug um ihre Sprache zu lernen, und die bei ihnen geblieben war, als die anderen sie verlassen hatten.
Das Gespräch unter den Verwandten drehte sich um fromme Gedanken über den Onkel, der nach Israel gegangen und von einem Auto überfahren worden war, nachdem er die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatte.
Meine Tante aus den Anden konnte nicht glauben, was sie hörte. Sie fragte ihre Verwandten, ob sie alle verrückt geworden seien. Die Geschichte mit dem Autounfall war den Kindern so oft erzählt worden, dass die Erwachsenen sie inzwischen glaubten.
Dieser Mann ist nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen, schrie sie. Er hat Selbstmord begangen. Er hatte die Konzentrationslager überlebt, weil er als Techniker mit der Durchführung der chemischen Wissenschaft für den Betrieb der Gaskammern beteiligt war. Er hatte dann den Fehler begangen, nach Israel zu emigrieren, wo seine Kollaboration bekannt geworden war. Wahrscheinlich konnte er den anklagenden Blicken nicht standhalten; vielleicht fürchtete er Vergeltung.
Meine erste Reaktion auf diese Enthüllung war Abscheu vor einem Menschen, der moralisch so verkommen gewesen sein musste, dass er seine eigenen Verwandten und Mitgefangenen vergast hatte. Aber je mehr ich über ihn nachdachte, desto mehr musste ich zugeben, dass in seinem letzten selbstzerstörerischen Akt zumindest ein Fünkchen moralische Integrität vorhanden war; diese Tat machte ihn nicht zu einem moralischen Vorbild, aber sie stand in scharfem Kontrast zu den Taten von Menschen, denen jedes Fünkchen moralischer Integrität fehlte, Menschen, die aus dem Fernen Osten zurückkehrten und ihre Taten bekräftigten, ja sich sogar mit den abscheulichen Gräueltaten brüsteten, die sie ihren Mitmenschen angetan hatten.
Und ich fragte mich, wer die anderen wirklich waren, die Reinen, die Eichmann, den gehorsamen Deutschen, entlarvt und verurteilt hatten.
Ich wusste nichts über die Menschen in Israel und war noch nie einem Israeli begegnet, aber ich gab mehr und mehr acht auf die lautstarken amerikanischen Cheerleader des Staates Israels, nicht auf die linken Zionisten unter ihnen, sondern auf die Freunde meiner rassistischen Verwandten. Die Linken waren fast in einem dunklen sektiererischen Limbus [Vorhölle] verschwunden, in den kein Aussenstehender eindringen konnte, ein Limbus, der fast so stark stank wie jener, in dem die Thronfolgern von Messias Lenin und Stalin gefangen waren, samt Sekten, die durch die Existenz des Staates Israel aus dem Gleichgewicht gebracht waren, angefangen bei jenen, die behaupteten, ihre Machtergreifung war alles, was von Nöten sei, um Israel in eine egalitäre Gemeinschaft zu verwandeln, bis zu jenen, die behaupteten, die Existenz des Staates Israel wäre bereits die egalitäre Gemeinschaft.
Aber die linken Zionisten schrien sich nur gegenseitig an.
Es waren die anderen, die den ganzen Krach machten und die alle anderen anschrieen. Und diese sagten ausdrücklich, was sie am Staat Israel bewunderten; sie bekräftigten es, sie rühmten es, und es hatte nichts mit dem Egalitarismus des maroden Flügels zu tun. Was sie bewunderten, war:
- den Kreuzzugsnationalismus, der die ihn umgebende Menschheit nur als Hindernis für seine Entfaltung betrachtete;
- die industrielle Potenz der Rasse [Race], die es geschafft hatte, die Wüste zu denaturieren und sie zum Blühen zu bringen;
- die Effizienz der Menschen, die zu Bedienern von grossen Panzern und unglaublich präzisen Jets ausgebildet wurden;
- die technologische Raffinesse der Todeswerkzeuge selbst, die denen der Nazis bei weitem überlegen sind;
- die spektakulär agierende Geheimpolizei, deren Fähigkeiten für einen so kleinen Staat sicher nicht hinter denen der CIA, des KGB oder der Gestapo zurückbleiben;
- der tyrannische Militarismus, der die neuesten Erfindungen der lebensvernichtenden Wissenschaft gegen einen bunten Haufen von Waffen einsetzte und das Hundert- oder Tausendfache der erlittenen Verluste forderte.
Während dieses Jahrzehnt wurde der Rassismus, der Anti-Semitismus, um genauer zu sein, der Bewunderer des Staates Israel virulent. Die enteigneten Semiten von Zion wurden nicht länger als Menschen betrachtet; sie waren rückwärtsgewandte Araber; nur diejenigen unter ihnen, die zu guten, assimilierten Israelis werden konnten, wurden Menschen genannt; die anderen waren dreckige Primitive. Und Primitive hatten nach der Definition der Konquistadoren einige Jahrhunderte zuvor nicht nur kein Recht, sich gegen Erniedrigung, Enteignung und Verwüstung zu wehren; Primitive hatten zudem kein Recht zu existieren; sie vergeudeten nur die Ressourcen der Natur, sie wussten nicht, was sie mit Gottes kostbaren Gaben anfangen sollten! Nur die Auserwählten Gottes wussten mit den Geschenken des Grossen Vaters umzugehen, und sie wussten genau, was sie mit diesen tun wollten.
Doch selbst während noch auf der Rückständigkeit der Enteigneten beharrten, wurden die Cheerleader paranoid und zeichneten den pathetischen Widerstand der Enteigneten als eine riesige Verschwörung von ungeheurer Macht und von beinahe kosmischen Ausmass auf.
Sartres Ausdruck mauvaise foi [die übliche Übersetzung wäre Böswilligkeit] ist zu schwach, um die Haltung dieser Menschen zu charakterisieren, aber es mir jetzt auch nicht darum, einen anderen Ausdruck zu finden.
Ich überlebte bis in meine vierziger Jahre, auch Dank der Tatsache, dass Amerika sich selbst und den Rest der Menschheit immer noch nicht mit den hochleistungsfähigen Verbrennungsmitteln und Giften ausgerottet hatte, mit denen es sein eigenes Land und das anderer Menschen verminte [Minen im Sinne von explosiven Minen, um den Erdboden tödlich machen], oder besser gesagt untergrub.
Dieses Jahrzehnt kombinierte, was ich zuvor für nicht kombinierbar gehalten hatte: es verband eine Flut von Enthüllungen über den Holocaust in Form von Filmen, Theaterstücken, Büchern und Artikeln mit dem Pogrom, das der Staat Israel an levantinischen Semiten in Beirut verübte. [Diese Mitte August geschriebene Erklärung bezog sich auf die israelische Invasion und noch nicht auf das im September verübte Pogrom im engeren Sinne des 19. Jahrhunderts (16. bis 18. September 1982, um genau zu sein)]
Die Enthüllungen erwähnten den Holocaust in Vietnam nur am Rande; vielleicht müssen erst zwei Generationen vergehen, bevor solche Schweinereien an die Öffentlichkeit gelangen. Bei den Enthüllungen ging es fast ausschliesslich um den Holocaust, dem ich als Kind nur knapp entkommen war.
Wer die Freiheit des Menschen nicht versteht, könnte meinen, die schrecklichen Enthüllungen könnten nur eine Wirkung haben, nämlich die, dass die Menschen mit den Opfern mitfühlen und dazu beitragen, dass sich solche entmenschlichende Verfolgung und kaltblütigen Ermordung gar nicht erst wiederholen kann. Aber solche Erfahrungen, ob persönlich erlebt oder aus Enthüllungen erfahren, sind Im Guten wie im Schlechten nichts anderes als das Feld, über dem die menschliche Freiheit wie ein Raubvogel schwebt. Die Enthüllungen über das vierzig Jahre alte Pogrom haben sich sogar als Rechtfertigung für ein heutiges Pogrom erwiesen.
Pogrom ist ein russisches Wort, das in vergangenen Jahren, welche heute fast harmlos erscheinen, eine Ausschreitung von mit Knüppeln bewaffneten Personen gegen schlecht bewaffnete Dorfbewohner mit anderen kulturellen Merkmalen bezeichnete; je stärker der Staat in den Aufstand verwickelt war, desto abscheulicher war das Pogrom. Die überwiegend starken Angreifer projizierten ihren eigenen Charakter als Tyrannen auf ihre schwächeren Opfer, und redeten sich dabei ein, ihre Opfer seien reich, mächtig, gut bewaffnet und mit dem Teufel verbündet. Die Angreifer projizierten auch ihre eigene Gewalttätigkeit auf ihre Opfer und konstruierten Geschichten über die Brutalität der Opfer aus Details aus ihrem eigenen Repertoire an Taten. Im Russland des neunzehnten Jahrhunderts galt ein Pogrom als besonders gewalttätig, wenn fünfzig Menschen getötet wurden.
Im 20. Jahrhundert, als der Staat zum Hauptverantwortlichen für die Ausschreitungen wurde, erfuhr die Statistik eine völlige Veränderung. Die Statistiken der modernen deutschen, russischen und türkischen staatlich organisierten Pogrome sind bekannt; die Statistiken aus Vietnam und Beirut sind noch nicht veröffentlicht.
Beirut und seine Bewohner waren bereits durch die Anwesenheit der gewalttätigen Widerstandsbewegung der enteigneten und aus Zion vertriebenen Flüchtlinge verwüstet worden; wenn man die Opfer dieser Zusammenstösse zu der Zahl der durch die direkte Beteiligung des Staates Israel an den Ausschreitungen Getöteten hinzurechnet – aber ich höre auf damit; ich will keine Zahlenspiele spielen.
Der Trick, dem bewaffneten Widerstand den Krieg zu erklären und dann die unbewaffneten Verwandten der Widerständler sowie die umliegende Bevölkerung mit den grausamsten Produkten der Todeswissenschaft anzugreifen – dieser Trick ist nicht neu. Auch die amerikanischen Pioniere waren darin Vorreiter; sie machten es zur gängigen Praxis, indigenen Kriegern den Krieg zu erklären und dann Dörfer, in denen sich nur Frauen und Kinder befanden, zu massakrieren und niederzubrennen. Das ist bereits der moderne Krieg, das, was wir als Krieg gegen die Zivilbevölkerung kennen; man hat es auch offener als Massenmord oder Völkermord [genocide] bezeichnet.
Vielleicht sollte es mich nicht überraschen, dass die Täter eines Pogroms sich selbst als Opfer darstellen, im vorliegenden Fall als Opfer des Holocausts.
Herman Melville bemerkte vor über einem Jahrhundert in seiner Analyse der Metaphysik des Indianerhasses, dass diejenigen, die die Jagd und Ermordung der Ureinwohner dieses Kontinents zu ihrem Beruf machten, sich selbst immer als Opfer von Menschenjägern darstellten.
Den Nutzen, den die Nazis von der Jüdischen Weltverschwörung zogen, ist besser bekannt: während all der Jahre der Gräueltaten, die sich jeder Vorstellungskraft entziehen, sahen sich die Nazis selbst als Opfer.
Es ist, als würde die Erfahrung, ein Opfer zu sein, von der menschlichen Solidarität befreien, besondere Kräfte verleihen und eine Lizenz zum Töten geben.
Vielleicht sollte ich nicht überrascht sein, aber ich kann meine Wut nicht zurückhalten, denn eine solche Haltung ist die Haltung eines Salauds2, die Haltung eines Menschen, der die menschliche Freiheit leugnet, der leugnet, dass er sich selbst dazu entscheidet Mörder zu sein. Die Erfahrung, ob persönlich erlebt oder durch Enthüllungen gehört, erklärt und bestimmt nichts; sie ist nichts als ein falsches Alibi.
Melville analysierte die moralische Integrität des Indianerhassers.
Ich spreche von modernen Pogromisten und im engeren Sinne von Unterstützern von Pogromen. Ich spreche von Leuten, die persönlich weder fünfzig, noch fünf oder auch nur ein menschliches Wesen getötet haben.
Ich spreche von Amerika, wo es darum geht, in ein Paradies einzutauchen und dabei jeglichen Kontakt mit Drecksarbeit zu vermeiden, wo nur noch eine Minderheit in die persönlichen Verrichtung der Drecksarbeit involviert ist, wo die überwiegende Mehrheit Vollzeit-Voyeure, Gaffer, Professoren oder sonst etwas sind.
Unter den Voyeuren konzentriere ich mich auf die Voyeure von Holocausts und Pogromen. Ich muss mich immer wieder auf das beziehen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, denn dem wird besondere Beachtung geschenkt. Aber mir geht es um den Zuschauer, um denjenigen, der sich selbst zum Voyeur macht, insbesondere zum Voyeur von Massenvernichtungen [Holocausts] und zum Cheerleader von Todesschwadronen.
Erwähne einem solchen Menschen gegenüber die Worte Beirut und Pogrom im selben Satz, und er wird die ganze in ihm vorhandene Moral auskotzen: er wird nicht viel kotzen.
Die wahrscheinlichste Antwort, die man erhalten wird, ist ein dümmliches Kichern und ein zynisches Lachen.
Ich erinnere mich an meinen Onkel, derjenige, der nicht von einem Auto überfahren wurde, der wenigstens das Fünkchen moralischer Integrität besass, um zu sehen, was andere sahen, und es ablehnte, und ich stelle meinem Onkel diese Person gegenüber, die entweder gar nichts sieht oder zynisch bejaht, was sie sieht, sich selbst zynisch annimmt.
Wenn er ein Intellektueller ist, ein Professor ist, wird er mit dem genauen Äquivalent des schwachsinnigen Grinsens oder des zynischen Lachens antworten, aber mit Worten; er wird einen mit Spitzfindigkeiten, Halbwahrheiten und offenen Lügen bombardiert, die für ihn vollkommen durchschaubar sind.
Das ist nicht ein leichtfertiger, weitsichtiger Idealist, sondern einen grober, bodenständiger, eigentumsorientierter Materialist ohne Illusionen darüber, was die Enteignung dessen, was er Immobilien nennt, ausmacht. Doch dieser Immobilienbesitzer wird einem erzählen, dass das levantinische Zion ein jüdisches Land ist, und dabei auf einen zweitausend Jahre alten Eigentumstitel verweisen.
Er nennt Hitler einen Verrückten, weil er behauptet hat, das Sudetenland sei deutsches Land, denn er lehnt die Regeln völlig ab, die es zu einem deutschem Land gemacht hätten; internationale Friedensverträge gehören zu seinen Regeln, gewaltsame Enteignungen nicht.
Doch plötzlich zieht er eine Reihe von Regeln hervor, die, wenn er sie wirklich akzeptieren würde, das gesamte Gebäude des Grundbesitzes pulverisieren würden. Wenn er solche Regeln wirklich akzeptieren würde, müsste er Grundstücke in Danzig an Kaschuben verkaufen, die aus dem Exil zurückkehren, Gebiete in Michigan, Wisconsin und Minnesota an Ojibwas, die sich ihre Heimat wieder aneignen, Ländereien im Iran, Irak und in weiten Teilen der Türkei an heimkehrende indische Parsen abtreten und er müsste sogar Teile von Zion selbst an chinesische Nachfahren nestorianischer Christen verpachten und viele andere mehr.
Solche Argumente haben mehr mit dem schwachsinnigen Kichern als mit dem zynischen Lachen zu tun.
Das zynische Lachen in Worte gefasst würde lauten: Wir (sie sagen immer Wir) haben die Primitiven erobert, sie enteignet und verdrängt; die Enteigneten leisten immer noch Widerstand, und in der Zwischenzeit haben Wir zwei Generationen herangezogen, die keine andere Heimat haben als Zion; da wir Realisten sind, wissen wir, dass wir den Widerstand ein für alle Mal beenden können, indem wir die Enteigneten ausrotten.
Ein solcher Zynismus ohne ein Fünkchen moralischer Integrität könnte realistisch sein, aber er könnte sich auch als das herausstellen, was C.W. Mills als Crackpot-Realismus bezeichnete, denn der Widerstand könnte überleben und sich ausbreiten, und er könnte so lange weitergehen wie in Irland.
Es gibt noch eine andere Reaktion, nämlich die Reaktion des knüppelbewaffneten Schlägers von der Defense League, der meint, dass er durch das Fehlen eines braunen Hemdes nicht mehr zu erkennen sei.
Er ballt die Faust oder hält seinen Knüppel fester in der Hand und schreit: Verräter!
Diese Antwort ist die bedrohlichste, denn sie besagt, dass „Wir“ ein Club sind, in dem alle willkommen sind, aber die Mitgliedschaft für einige zwingend ist.
In diesem Sprachgebrauch bedeutet Verräter nicht Antisemit, da es sich an Menschen richtet, die sich in die Notlage der heutigen Semiten einfühlen. Verräter bedeutet nicht Pogromist, da es sich an Menschen richtet, die noch immer mit den Opfern des Pogroms mitfühlen. Dieser Begriff ist einer der wenigen Bestandteile des Vokabulars eines Rassisten im Wandel der Zeit; er bedeutet: Verräter an der Rasse.
Und hier komme ich zu dem einzigen Element, das der neue Antisemit noch nicht mit dem alten Antisemiten geteilt hatte: Die Gleichschaltung [Deutsch i.O.], die totalitäre „Synchronisation“ aller politischen Aktivitäten und Äusserungen. Die gesamte Rasse muss im Gleichschritt marschieren, zum gleichen Trommelschlag; alle haben zu gehorchen.
Die Einzigartigkeit des verurteilten Eichmann wird auf einen Unterschied im Feiertagsritual reduziert. Ich habe den Eindruck, dass solche Idioten keine Bewahrer der Traditionen einer verfolgten Kultur sind. Sie sind Marranen, aber nicht im Sinne des Katholizismus von Fernando und Isabela; sie sind Marranen im Sinne der politischen Praxis des Führers [Deutsch i.O.].
Das lange Exil ist vorbei; der verfolgte Flüchtling kehrt endlich nach Zion zurück, aber so stark vernarbt, dass er nicht wiederzuerkennen ist, er hat sein Selbst völlig verloren; er kehrt als Antisemit, als Pogromist und Massenmörder zurück; die Zeitalter des Exils und des Leidens sind immer noch in seiner Aufmachung enthalten, aber nur als Selbstrechtfertigung und als Repertoire des Schreckens, das er den Primitiven und sogar der Erde selbst aufzwingen kann.
Ich denke, ich habe jetzt gezeigt, dass die Erfahrung des Holocaust, ob miterlebt oder mitbekommen, an sich niemanden zu einem Kritiker von Pogromen macht, und dass sie auch niemandem besondere Befugnisse verleiht oder eine Lizenz zum Töten gibt oder jemanden zu einem Massenmörder macht. Aber ich habe die grosse Frage, die sich daraus ergibt, noch gar nicht aufgeworfen: Kann ich auch nur ansatzweise erklären, warum sich jemand zum Massenmörder macht?
Ich glaube, ich kann damit beginnen, eine Antwort zu geben. Auf die Gefahr hin, Sartres Porträt des alten Antisemiten zu plagiieren, kann ich zumindest versuchen, ein oder zwei Elemente aus dem Bereich der Wahl des neuen Antisemiten zu nennen.
Ich könnte damit beginnen festzustellen, dass der neue Antisemit sich nicht wirklich von jedem anderen Fernsehzuschauer unterscheidet und dass der Fernsehkonsum irgendwo in der Nähe des Kerns der Wahl liegt (ich schliesse Zeitungen und Filme unter der Abkürzung für „tell-a-vision“ ein).
Was der Zuschauer auf dem Bildschirm sieht, sind einige der „interessanten“ Ereignisse des monströsen Zusammenspiels, gesiebt und zensiert, in welchem er eine triviale, aber tägliche Rolle spielt. Die zentrale, aber nicht oft im Fernsehen gezeigte Tätigkeit dieses riesigen Zusammenspiels ist die Industrie- und Büroarbeit, Zwangsarbeit oder einfach nur die Arbeit, die frei macht. [„Arbeit macht frei": ein Slogan, der am Eingang der NS-Zwangsarbeitslager angebracht war.]
Solschenizyn hat in seinem mehrbändigen „Der Archipel Gulag“ eine tiefgründige Analyse dessen vorgelegt, was eine solche Arbeit [Deutsch i.O.] mit dem äusseren und inneren Leben eines Menschen anstellt; eine vergleichbar tiefgreifende Analyse der Verwaltung, die die Tätigkeit „synchronisiert“, steht noch aus – eine Analyse der Ausbildungseinrichtungen, welche Menschen wie Eichmann und Chemiker hervorbringen, die mit rationalen Mitteln die irrationalen Ziele ihrer Vorgesetzten durchsetzen.
Ich kann Solschenizyns Erkenntnisse nicht zusammenfassen; man muss seine Bücher lesen. Ich kann nur kurz sagen, dass der Teil des Lebens, der in der Arbeit [Deutsch i.O.], der trivialen Existenz als Verkäufer oder Kunde, Arbeiter oder Konsument in einem Warenmarkt verbracht wird, ein Individuum ohne Verwandtschaft, Gemeinschaft oder Sinn zurücklässt; es entmenschlicht ihn, entleert ihn; es bleibt nichts drinnen als die Belanglosigkeiten, die sein Äusseres ausmachen. Er hat nicht mehr die Zentralität, die Bedeutung, die Selbstermächtigung, die die alten Gemeinschaften, die es nicht mehr gibt, all ihren Mitgliedern gegeben haben. Er hat nicht einmal mehr die falsche Zentralität, die ihm von den Religionen verliehen wurde, die die Erinnerung an die alten Fähigkeiten bewahrten und die Menschen mit Welten versöhnten, in denen diese Fähigkeiten nicht vorhanden waren. Sogar die Religionen wurden entleert und auf inhaltslose Rituale reduziert, deren Bedeutung längst verloren gegangen ist.
Die Leere ist immer da; sie ist wie Hunger: Sie tut weh. Doch nichts scheint sie zu füllen.
Ah, aber es gibt etwas, das ihn füllt, oder zumindest so scheint; es mag Sägemehl sein und kein geriebener Käse, aber es gibt dem Magen die Illusion, dass er gefüttert wurde; es mag ein totaler Verzicht auf die eigenen Kräfte sein, eine Selbstvernichtung, aber es schafft die Illusion der Selbstverwirklichung, der Wiederaneignung der verlorenen Eigenkräfte.
Dieses Etwas ist die Erzählte Vision [Told Vision], die in der Freizeit und vorzugsweise die ganze Zeit über beobachten kann.
Indem er sich selbst zum Voyeur macht, kann der Einzelne alles beobachten, was er nicht mehr ist.
All die Eigenkräfte, die er nicht mehr hat, hat Es, Und Es hat sogar mehr Kräfte; Es hat Kräfte, die kein Individuum je hatte; Es hat die Macht, Wüsten in Wälder und Wälder in Wüsten zu verwandeln; Es hat die Macht, Völker und Kulturen zu vernichten, die seit Anbeginn der Zeit überlebt haben, und keine Spur zu hinterlassen, dass sie je existiert haben; Es hat sogar die Macht, die verschwundenen Völker und Kulturen wiederzubeleben und ihnen in der konditionierten Luft von Museen mit ewigem Leben auszustatten.
Falls der Leser es noch nicht erraten hat: Es ist das technologische Gebilde, der industrielle Prozess, der Messias namens Fortschritt. Es ist Amerika.
Das sinnentleerte Individuum entscheidet sich für den endgültigen Sprung in die Sinnlosigkeit, indem es sich mit dem Prozess identifiziert, der es beraubt. Er wird zu Wir, den Ausgebeuteten, die sich mit dem Ausbeuter identifizieren. Von nun an sind seine Kräfte Unsere Kräfte, die Kräfte des Ganzen, die Kräfte der Allianz der Arbeiter mit ihren eigenen Chefs, bekannt als die entwickelte Nation. Der machtlose Einzelne wird zu einem wesentlichen Schalter im allmächtigen, allwissenden, allsehenden Gott, dem Zentralcomputer; er wird eins mit der Maschine.
Sein Eintauchen wird zu einer Orgie bei gleichzeitigen Kreuzzügen gegen diejenigen, die noch ausserhalb der Maschine stehen: unberührte Bäume, Wölfe, Primitive.
Während solcher Kreuzzüge wird er zu einem der letzten Pioniere; er reicht über die Jahrhunderte hinweg die Hand den Konquistadoren des südlichen Teils und den Pionieren des nördlichen Teils dieses Doppelkontinents; er reicht die Hand Indianerhassern und Entdeckern und Kreuzrittern; er spürt endlich, dass Amerika in seinen Adern fliesst, das Amerika, das schon in den Kesseln der europäischen Alchimisten brodelte, lange bevor Kolumbus (der Marrane) die Kariben, Raleigh die Algonquianer oder Cartier die Irokesen erreichte; er gibt seiner verbliebenen Menschlichkeit den Gnadenstoss, indem er sich mit dem Prozess der Auslöschung von Kultur, der Natur und der Menschlichkeit identifiziert.
Wenn ich das weiter ausführen würde, käme ich wahrscheinlich zu Ergebnissen, die bereits von W. Reich in seinem Buch „Die Massenpsychologie des Faschismus“ gefunden hat. Es ärgert mich, dass ein neuer Faschismus die Erfahrungen der Opfer des früheren Faschismus zu seiner Rechtfertigung heranzieht.