Seit 1945 bestehen bis heute antisemitische Einstellungen in unterschiedlichen Ausformungen in Deutschland fort. Viele Untersuchungen belegen seit Langem einen Prozentsatz von etwa 20 Prozent latent antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung (1). Unter anderem bedingt durch den verstärkt auftretenden Rechtsradikalismus und den Aufstieg der extrem rechten AfD kommt es aktuell vermehrt zu antisemitischen Übergriffen.
Als ich vor einiger Zeit die liberale jüdische Gemeinde im westfälischen Unna besuchte, fragte ich dort, warum sie keine Veranstaltungstermine in der wöchentlich erscheinenden Jüdischen Allgemeinen bekanntgibt. Die Antwort beunruhigte mich. Unter anderem wegen der Nähe zur Nachbarstadt Dortmund mit seiner aggressiven Neonazi-Szene könne die Polizei einen Schutz der Versammlungen nicht gewährleisten. Deswegen wird hier auf eine öffentliche Werbung für Veranstaltungen verzichtet und nur im Nachhinein über sie berichtet.
Belästigungen nehmen zu
Antisemitische Angriffe im öffentlichen Raum und in Gesprächen haben im Vergleich zur restlichen EU besonders in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die EU-Grundrechteagentur FRA hat 2018 bei einer europaweiten Umfrage (2) festgestellt, dass 52 Prozent der jüdischen Befragten in der BRD Belästigungen und Angriffen ausgesetzt waren. 41 Prozent gaben an, im letzten Jahr mindestens einmal eine antisemitische Erfahrung gemacht zu haben. Dies ist aber nur die Spitze des Eisberges, da die Dunkelziffer sehr hoch ist, weil in 77 Prozent der Fälle die Opfer antisemitischer Belästigungen weder der Polizei noch einer anderen Stelle melden. Nicht nur laute und vulgäre Pöbeleien und offensichtliche Gewalt sind bei der Erfassung von Antisemitismus von Bedeutung, sondern ebenfalls sprachliche Entgleisungen, subtile Anspielungen und Mikroaggressionen im Alltag. Ganz gleich, ob JüdInnen streng religiös, liberal oder nicht religiös sind, wie sie sich zur politischen Lage im Nahen Osten positionieren oder wie sie sich konkret verhalten – es trifft sie alle, da AntisemitInnen ein bestimmtes vorurteilsbeladenes Bild von JüdInnen haben.Defizite in der Schule
Das Problem des Antisemitismus stellt sich ganz besonders in der Schule, wo sich Vorfälle wie Mobbing in den Klassenzimmern, Pausenhöfen oder auf dem Schulweg häufen. Jugendliche greifen oft Vorurteile auf, die sie bei FreundInnen oder Eltern aufgeschnappt haben. Die Soziologieprofessorin Julia Bernstein, die eine ausführliche Befragung und Studie zum Thema „Antisemitismus im Schulkontext“ (3) durchgeführt hat, ist über das Ergebnis ihrer Recherche schockiert: „Ich hatte in Deutschland, 73 Jahre nach der Shoah, nicht mit diesem Ausmass gerechnet – an Hakenkreuzen, Hitlergrüssen, Vernichtungsrhetorik. Antisemitismus, das ergab die Studie, ist an deutschen Schulen Normalität. ‚Du Jude' ist auf Pausenplätzen eine der häufigsten Beschimpfungen. Und die Lehrer schreiten nur selten ein. Weil sie antisemitische Äusserungen häufig nicht erkennen oder sie bagatellisieren“ (4).Bemerkenswert ist ebenfalls, dass ein nicht unerheblicher Teil von antisemitischen Diskriminierungen von LehrerInnen ausgeht. Im Schuljahr 2016/2017 gingen in Berlin von 147 geprüften und bestätigten Beschwerden 48 Fälle von Lehrkräften aus (5). Oft wird Hinweisen nicht nachgegangen, weil die Schulleitung um den guten Ruf der Schule fürchtet. Nach Übergriffen müssen meist die jüdischen Opfer die Schule verlassen. Findet ausnahmsweise eine intensivere Beschäftigung mit dem Judentum statt und wird eine Synagoge besucht, verbieten einige Eltern ihren Kindern die Teilnahme an dieser Veranstaltung (6). Notwendig wäre eine Verbesserung der LehrerInnenausbildung, da viele LehrerInnen über jüdische Geschichte und Religion unzureichend informiert und bei antisemitischen Vorfällen überfordert sind. Wenn elementares geschichtliches Wissen über den Holocaust in der Jugend nicht vermittelt wird, verfestigt sich der Antisemitismus schnell zu einem Weltbild und die Jugendlichen sind für spätere Bildungsprogramme nur noch schwer erreichbar.
80 Prozent der schulischen Belange sind Aufgaben der Bundesländer. Hier konstatiert Samuel Salzborn, Gastprofessor für Antisemitismus, verheerende Defizite und mangelnden Willen zur Aufklärung: „Nur in wenigen Bundesländern existieren Meldesysteme für antisemitische Vorfälle, viele Kultusministerien sehen sich nicht hinreichend in der Verantwortung und verschieben das Problem auf ausserschulische Bildung, und insbesondere die Schulbücher sind über weite Strecken defizitär. Antisemitismus gilt oft nur als thematisierenswert mit Blick auf den Nationalsozialismus und die Schoa. Über die Vorgeschichte erfahren Schüler nur selten etwas, noch weniger über die Nachgeschichte. Und damit auch nichts über die Frage, ob Antisemitismus Teil ihres persönlichen Alltags und auch ihrer Familiengeschichte ist. (…) Jüdische Religion und Kultur als selbstverständlicher Teil der deutschen und europäischen Geschichte fehlen hingegen fast vollkommen. Die Baustellen sind gross – am meisten liegt es aber schlicht am fehlenden Willen der Kultusministerien, die leicht erkennbaren Missstände wirklich zu beheben“. (7)
An anderer Stelle beklagt Salzborn, dass an der Uni in den Fächern Politikwissenschaft und Geschichte heute nur noch wenige Veranstaltungen über Rechtsradikalismus und Antisemitismus angeboten werden: „Das ist sehr bedauerlich, gerade weil diese Themen in den 50er Jahren für das Fach noch zentral waren. Heute ist Rechtsextremismus weitgehend aus den Kerncurricula der Bachelor/Master-Studierenden rausgefallen. Wenn es deutschlandweit in der Politikwissenschaft keine einzige Professur zum Rechtsextremismus gibt und die Antisemitismus-Professuren nur im Fach Geschichte, muss man sich fragen, woher angehende Lehrerinnen und Lehrer ihr Wissen dann nehmen sollen.“ (8) Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass bei der schulischen Bearbeitung des Themas Judentum nicht nur über JüdInnen geschrieben und geredet werden sollte, sondern mit ihnen zusammen und die jüdischen Gemeinden bei der inhaltlichen Gestaltung der Schulbuchbeiträge einbezogen werden.
Meldestellen
Aufgrund der immer rasanter ansteigenden Zahl antisemitischer Straftaten hat sich 2015 in Berlin die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) als Meldestelle für antisemitische Vorfälle gegründet, die nicht in amtlichen Polizeistatistiken auftauchen. Das mehrsprachige Online-Meldeportal wird von jüdischen und nichtjüdischen Organisationen betrieben und vom Land Berlin gefördert. Neben Beratungs- und Hilfsangeboten für die Opfer sollen hier Berichte von Betroffenen und ZeugInnen gesammelt und statistisch aufbereitet werden, um konkrete Zahlen zu gewinnen und um Tätergruppen genauer zu erfassen.Im April 2019 hat RIAS die erschreckende aktuelle Jahresbilanz für das Jahr 2018 vorgelegt. Demnach wurden 2018 allein in Berlin 1083 antisemitische Vorfälle gemeldet. Darunter befanden sich 46 direkte Personenangriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen und 46 Bedrohungen (9). Bei der Vorstellung des Berichts wurde von RIAS deutlich gemacht, dass auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft Grenzüberschreitungen zunehmen, die Hemmschwellen für Angriffe sinken und diese gewalttätiger werden. Ebenfalls wurde von einer zunehmenden Empathielosigkeit anderer Menschen mit den Betroffenen berichtet. Da sich die Angriffe in Alltagssituationen und in der Öffentlichkeit häufen, können sich JüdInnen nur noch unter Gefahren als solche zu erkennen geben und vermeiden den Aufenthalt an bestimmten Orten. „Viele Juden verstecken ihr Judentum selbst im Kollegen- oder Freundeskreis, unter anderem aus Angst vor Schikanen und Ausgrenzung.“ (10) Dreiviertel aller JüdInnen trauen sich heute nicht mehr, ihr Judentum offen zu zeigen und vermeiden das Tragen von Kippa und Davidstern-Anhängern.
Abbau des Befremdlichen
Trotz dieses alarmierenden Anstiegs antisemitischer Gewalt werden im etablierten Politikbetrieb weiterhin die seit Jahrzehnten immer gleichen Floskeln wie „Antisemitismus darf in unserer Gesellschaft nie wieder Platz finden“ wiederholt. Das Fundament, auf dem diese Verlautbarungen geäussert werden, ist allerdings brüchig. Obwohl mittlerweile aufgrund der Einwanderung von JüdInnen aus Osteuropa wieder über zweihunderttausend jüdische Menschen in Deutschland leben, finden nur wenige Begegnungen im Alltag zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen statt. Die Mehrheitsgesellschaft steht der jüdischen Kultur zum grössten Teil in einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Unverständnis gegenüber. Zum Abbau des Befremdlichen finden seit Jahren institutionell angebahnte Synagogenführungen, jüdische Kulturtage und ritualisierte Gedenkveranstaltungen statt. Es sind meist kurze oberflächliche Begegnungen, an denen die immer gleichen eher aufgeschlossenen Menschen teilnehmen. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung kann dagegen selbst mit einfachen jüdischen Begriffen wie Schabbat, Chanukka oder Tora kaum etwas anfangen.Exotismus
Während ganze Heerscharen von Sinnsuchenden sich für ideengeschichtlich weit vom mitteleuropäischen Erfahrungshintergrund entfernten asiatischen Religionen, Meditationspraktiken, Philosophien und Körperübungen interessieren und die Veranstaltungsangebote der Volkshochschulen hierzu überquellen, wird das reichhaltige, aufklärerische jüdische Erbe weitgehend ignoriert. Das Wissen um diese herausragende Kulturleistung des liberalen und modernen Judentums als Teil der gemeinsamen deutsch-jüdischen Geistesgeschichte ist heute grösstenteils nicht mehr präsent.Das gilt ebenso für die Bedeutung, die das Judentum für libertär-sozialistische und andere emanzipatorische Bewegungen hatte und hat. Wenn das Judentum heute folkloristisch inszeniert wird, wie etwa bei Klezmerkonzerten, dann erfreuen sich JüdInnen oft grosser Beliebtheit. Der Besuch einer solchen Veranstaltung bietet für deutsche NichtjüdInnen eine willkommene emotionale Entlastung, bei der unverbindlich eine „Wiedergutwerdung“ inszeniert werden kann. Das grassierende Problem des Antisemitismus wird dagegen im Alltag sichtbar, wenn „Jude“ heute, 74 Jahre nach Ende der Nazidiktatur, in vielen Schulen ein Schimpfwort ist. Oder wenn der Rabbi in Köln mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fährt, an der Kippa als Jude zu erkennen ist, und daraufhin beleidigt und angepöbelt wird. (11)
Verunsicherung in Jüdischen Gemeinden
Die deutliche Zunahme von verrohten Ausdrucksformen des Antisemitismus hat zu einer Verunsicherung innerhalb der Jüdischen Gemeinde geführt. Um ihre Mitglieder zu schützen und ihnen zu helfen, in der zugespitzten Situation zurechtzukommen, hat sie verschiedene Initiativen ergriffen. In Berlin, wo etwa 30.000 JüdInnen leben, gibt es seit 18 Monaten einen Antisemitismusbeauftragten der Gemeinde, der mit der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST), PsychologInnen, AnwältInnen und den zuständigen staatlichen Institutionen zusammenarbeitet. Er ist der Ansprechpartner, wenn Beschwerden über antisemitische Vorfälle nicht nachgegangen wird und die Opfer Hilfe benötigen.Inzwischen gibt es in sieben Bundesländern Landesbeauftragte gegen Antisemitismus, die unabhängig und ressortübergreifend Massnahmen koordinieren, Öffentlichkeitsarbeit durchführen und dazu beitragen sollen, antisemitische Vorfälle und Straftaten einzudämmen. Es wird angestrebt, dass Landesbeauftragte in allen Bundesländern berufen werden. Selbstverständlich ist es nachvollziehbar, dass die Jüdische Gemeinde ein starkes Interesse hat, Institutionen an ihrer Seite zu haben, die sich um ihren Schutz kümmern. Die Landesbeauftragten können sicherlich Expertenkommissionen einrichten, Initiativen vernetzen und versuchen, andere in Sachen Antisemitismus zu sensibilisieren. Weisungsberechtigt sind sie nicht. Gerade in den letzten Monaten haben sich die Medienberichte über rechte Netzwerke in Polizei, Justiz und Verwaltung gehäuft. AntisemitInnen befinden sich auch in staatlichen Institutionen und sabotieren die Bemühungen, Antisemitismus zurückzudrängen. Dieser Ansatz reicht also nicht aus.
Denunziationen?
Mit welchen Schwierigkeiten Initiativen gegen Antisemitismus zu kämpfen haben, zeigt auch der Fall RIAS. Wolfgang Benz, bisher renommierter Antisemitismusforscher und Buchautor, hat am 5. Februar 2019 im Badischen Tageblatt die Meldestelle auf eine sehr beschämende Weise angegriffen: „Wir haben eine Polizei, diese ist zuständig für alle kriminellen Taten, dazu gehört Gewalt gegen Minderheiten und Volksverhetzung. Warum brauchen wir dann speziell für antisemitische Vorfälle eine Meldestelle? (…) Die Meldestelle hat etwas Denunziatorisches. Der Vorwurf, Antisemit zu sein, ist der schwerste Vorwurf in der Bundesrepublik Deutschland. Mir ist nicht wohl dabei, wenn Frau Müller Herrn Maier als Antisemiten denunziert.“Gerade weil die Polizei antisemitischen Straftaten oft nicht konsequent nachgeht, da auch ein grosser Teil der Polizei rechts eingestellt ist und weil es auch Antisemitismus unterhalb der Strafschwelle gibt, ist das niedrigschwellige, mehrsprachige Melde- und Beratungsangebot notwendig! Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde in Berlin kommentiert die Auslassungen dieses „Experten“: „Das ist klassische Täter-Opfer-Umkehr! (…) Die Tatsache, dass Menschen antisemitisch angegriffen und traumatisiert werden interessiert ihn offenbar nicht. (…) In mühsamer Arbeit wird versucht, Vertrauen zu den Meldestellen aufzubauen. Man erläutert immer und immer wieder die Arbeit, die gemacht wird. Und dann kommt Herr Benz und disqualifiziert diese Arbeit als ‚Denunziation'.“ (12)
In Berlin gibt es seit März 2019 ein bis heute in der BRD einmaliges Landeskonzept gegen Antisemitismus, das auf Prävention setzt und einen relativ weitgehenden Ansatz als Querschnittsaufgabe verfolgt. Hierzu gehört die Weiterbildung von MitarbeiterInnen in Sozialarbeit, Justiz, Polizei und Schule. Diese sinnvollen Initiativen können nur ein erster Schritt sein. Sensibilität gegenüber Antisemitismus, Solidarität mit den Opfern und Anteilnahme kann nicht allein von oben angeordnet werden, sondern muss von den Menschen und Initiativen gelebt werden. Und es ist wichtig, die Handlungssicherheit der JüdInnen selbst bei Auseinandersetzungen zu stärken. Antisemitismus ist nicht das einzige Problem, sondern korrespondiert mit der Zunahme von Rassismus und Rechtsradikalismus. Was bei JüdInnen an Diskriminierung zugelassen wird, lässt man auch bei anderen Marginalisierten zu.
Gefühlserbschaften in der Familie
Auf einen interessanten Aspekt, der bei der Antisemitismusforschung bisher eine untergeordnete Rolle gespielt hat, wurde ich durch die Beiträge von Marina Chernivsky und Tom David Uhlig in der lesenswerten linksalternativen jüdischen Halbjahreszeitschrift „Jalta“ aufmerksam gemacht. (13) Sie weisen darauf hin, dass das antisemitische Ressentiment nicht nur als Vorurteil, das aufgrund falscher Informationen oder falscher Informationsverarbeitung entstanden ist, begriffen werden kann. Seine Überwindung ist somit auch nicht allein durch Aufklärungsarbeit möglich. Zu wenig beachtet wurde demnach, dass der Holocaust eine „Familiengeschichte“ ist, wie Raul Hilberg es bezeichnete. In jeder Familie gab es neben den möglicherweise unmittelbaren TäterInnen bei den Morden auch indirekt Beteiligte, HelferInnen, passive ZuschauerInnen und Duldende, DenuziantInnen, Verwaltungsbeamte, Profiteure, Nazi-Parteimitglieder, Wehrmachtsangehörige und andere Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie.Die Nachkommen der Tätergeneration erfuhren in der Regel sehr wenig über die aktive oder passive Beteiligung ihrer Eltern und Grosseltern an Verbrechen und Diskriminierungen jüdischer MitbürgerInnen. Es entstanden Leerstellen im Familiengedächtnis, die jahrelang unantastbar waren. Bei diesem Schweigen blieben die Eltern nicht stumm, sondern versuchten sich meist mit Rechtfertigungen, Entschuldigungen und erfundenen Geschichten aus der Affäre zu ziehen. Die Schuldgefühle der Tätergeneration wurden verdrängt und verleugnet. Nur diejenigen Erlebnisdimensionen gaben sie an die Kinder weiter, die das eigene Verhalten während dieser Zeit verschleierten oder beschönigten. Hierbei spielte ebenfalls eine Rolle, was nicht direkt zur Sprache kam, sondern sie durch körperliche Abwehrhaltung, Gestik und Mimik gefühlsmässig zum Ausdruck brachte. Auf diese Weise wurden die Kinder der verstrickten Generation zu unbewussten Erben der elterlichen Vergangenheit.
Die als unangenehm empfundene Situation, über die möglicherweise direkte oder indirekte Beteiligung an den Verbrechen an JüdInnen sprechen zu müssen, überträgt sich als Erfahrung auf die nächste Generation. Die noch lebenden JüdInnen verkörpern einen ständigen Vorwurf und werfen Fragen nach Schuldverstrickungen in der eigenen Familie auf. Institutionalisierte Formen des ritualisierten Gedenkens zu bestimmten Jahrestagen eröffnen die Möglichkeit, abstrakt und historisierend über das Thema zu reden, die eigene Familiengeschichte und persönliche Verstricktheit hierbei aber auszublenden.
Dass auch Linke Probleme damit haben, sich der möglichen Mittäterschaft eigener Familienangehöriger zu stellen, zeigt einer der bekanntesten Anführer der APO: „Bereits Rudi Dutschke soll auf die Frage, weshalb der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) nicht die Shoa verstärkt in den Fokus rückte, nach langer Überlegung geantwortet haben: ‚Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr heraus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen'.“ (14)
Wer Gefühlserbschaften in der eigenen Familie unreflekiert lässt, wird möglicherweise selbst unbewusst von antijüdischen Ressentiments und Aversionen beeinflusst. Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst über drei Generationen hinweg die jüngere Generation die Gefühle der Älteren annahmen, sie verstärkten und die Familiengeschichte hierbei zusätzlich verzerrten. Ziel müsste es also sein, in der Bildungsarbeit „selbstreflexive sowie lebensgeschichtliche Zugänge (weiter) zu entwickeln“ und dafür die entsprechenden Räume und Gelegenheiten zu schaffen.
„Die Pädagogik zu Antisemitismus soll daher nicht ‚nur' Wissen /über/ Antisemitismus vermitteln, sondern Reflexionsräume schaffen und auf die Möglichkeit des Dechiffrierens (Entschlüsselns, H. B.) antisemitischer Gedanken und Gefühle hinarbeiten.“ (15) Wichtig ist in diesem Zusammenhang, keine reflexartigen oder moralisierenden Identifizierungen anzustreben, sondern die Erarbeitung eigener kritischer Positionen zum eigenen Verhältnis zu JüdInnen zu ermöglichen. Ziel bei der Bearbeitung des Problems sollte nicht die „Wiedergutwerdung“, sondern Solidarität und Empathie mit den jüdischen Opfern sein.