Dystopische Zukunfts-Kakophonie „Die Wiederentdeckung der Langsamkeit“ und die Religion der bürgerlichen Gesellschaft
Gesellschaft
Unter diesem Titel berichtet die "Zeitung für die Mitarbeiter:innen der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach" im Juni 2024 über den Theologen und Wanderer Georg Magirius und sein neues Buch "Stilles Frankfurt - 13 Orte zum Staunen und Verweilen".
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18. September 2024
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"Ich widme mich den alten und doch immer wieder neuen Fragen nach Sinn, Glück, Trost, Mut, Aufbruch, Geborgenheit, Ruhe, und - ja Liebe" sagt der theologische Wandersmann. Seine Frau ist Pfarrerin - ihn zog es nach seinem Theologiestudium nicht in die "diese komplexe Organisation" Kirche, deren Mitarbeiter:innen das nun zu lesen bekommen. Stattdessen ist er arbeitet er in der Heilpraxis, als Coach, Berater, Wanderführer, Autor, Unternehmer, Mitarbeiter für ARD-Sendungen - als eine Art spirituelle Ich-AG. Dabei kann ich ihm nur von ganzem Herzen viel Glück und Erfolg wünschen.
Nicht zustimmen kann und will ich den Inhalten, die von ihm in "Evangelisches Frankfurt und Offenbach" berichtet werden.
"Wenn's um die Hütte stürmt und schneit, dann ist die hohe Zeit der Philosophie", soll Martin Heidegger gesagt haben, der es wissen musste.
Hierzulande könnten derzeit die Weichen mitgestellt werden für eine globale Entwicklung, aufgrund deren der Golfstrom in wenigen Jahren abreissen könnte, weil die Arktis als ein Kältepol der Erde ausfällt. Das würde im Lauf von Jahrzehnten einen Durchschnitts-Temperatursturz von bis zu 30 Grad Celsius in Mitteleuropa auslösen. Kälteschock als Ergebnis der Erderwärmung. Leben kann dann hier kaum noch jemand. Ich habe zwei Enkel, einer weniger als ein Jahr alt, der andere einige Monate älter. Sie werden das erleben.
Berechenbar verrinnt die Zeit von nur noch wenigen Jahren, in der der jährliche globale CO2-Ausstoss noch nicht zu atmosphärischen Kippunkten führt. Jenseits davon kann es gut sein, dass die natürlichen Grundlagen der uns bekannten Formen menschlicher Zivilisation zusammenbrechen.
Das ist nicht nur dystopische Zukunfts-Kakophonie. Wie vier apokalyptische Reiter bedrohen Krieg, globale Rechtsentwicklung bis hin zum offenen Faschismus, Unterentwicklung und Hunger sowie die Klimakatastrophe die Menschheit. Sie sind nicht vom Teufel geschickt. Ihr gemeinsamer Ursprung ist menschengemacht: die Produktionsweise des Kapitalismus und ihrer heute global mehr oder weniger weit entwickelten höchsten Entwicklungsetappe Imperialismus. Nicht nur die USA und Deutschland, die EU- und NATO-Staaten, auch Russland und China sind heute kapitalistische, imperialistische Staaten.
Die Zeit drängt, die Uhr tickt. Im Rahmen der kapitalistischen und imperialistischen Ordnung wird der blutige Zug der Apokalyptischen Vier und ihrer Begleiter nicht zu stoppen sein. Wer nicht heute zu formulieren versucht, was jenseits dieses Höllenszenarios an menschenmachbarer, möglicher Alternative anzusteuern ist, der erinnert mich an den Propheten Jeremia und die nationale Heilsprohetie seiner Zeit, die angesichts der drohenden Katastrophe Judas aus inneren und äusseren Gründen behauptete: "Friede! Friede!" "Weh denen, die da sprechen 'Friede, Friede!' - und ist kein Friede!" hielt Jeremia, Zeuge des Untergangs von Jerusalem, ihnen entgegen - und Paulus zitierte ihn später (Jeremia 8,11, vgl. 1Thess 5,3).
Die Suche nach "Sinn, Glück, Trost, Mut, Aufbruch, Geborgenheit, Ruhe, und - ja Liebe" ist zutiefst berechtigt. Aber sie ist es nur, wenn nicht die einen sie auf Kosten der anderen finden. In den mittlerweile militärisch gesicherten Wohlstandsinseln der Erde stellt sich diese Frage anders, als auf dem Mittelmeer, in einem griechischen oder albanischen Flüchtlingslager, in einem refugee-Knast in Ungarn oder auch in Deutschland. Wird diese Frage nicht für alle Betroffenen und Involvieret, also auch für und von uns, im Zusammenhang Aller und von allen gestellt und werden die Konsequenzen ihrer möglichen Antworten nicht strukturell geerdet, dann wird "Die Wiederentdeckung der Langsamkeit" zu einem geradezu - ich weiss, Kollege Magirius so meinen Sie es nicht! - höhnischen Werbegag für die Luxusprobleme der Privilegierten. Man muss sich nur vorstellen, er würde von aussen auf die Mauer rund um die Festung Europa projiziert, dann fühlt man vielleicht ein wenig, wie unendlich eng der gewählte gesellschaftliche Ausschnitt ist, in dem die "Heilspraxis" wirken möchte. "Heil", "Shalom", "salaam" aber heisst von der Wurzel her: Vollständigkeit, Zusammenhang, Ganzheit.
Ein Unrecht an einem ist ein Unrecht an allen. Heilspraxis als Beratungsangebot innerhalb der Mauern globaler Apartheid und Duldung des faktischen Ausschlusses der Mehrheit aller Bedürftigen ist ein glänzendes Beispiel bürgerlicher Religion: Sedativum, Opium des Volkes und Opium für's Volk. Das Evangelium aber ist, Jürgen Manemann hat es, zum Beispiel, in seinem Manifest „Revolutionäres Christentum“ durchdekliniert, umstürzlerisch und parteilich, seitdem Maria im Magnificat sang:
Meine Seele preist die Grösse des Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan,
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.
Er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Darüber, was das in der Praxis verrinnender Zeit heisst, kann man auch nachdenken, sprechen, Aktionen und Interventionen planen, Gegenentwürfe zum herrschenden Unrecht diskutieren, wenn man zB. wandert.
Hauptsache - es folgt etwas Handgreifliches gegen die Vier Apokalyptischen Reiter und den Kapitalismus daraus, der sie uns auf den Hals schickt. Denn es gibt nichts Gutes, ausser: man tut es.