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Über die Zeugen Coronas und den Ausstieg daraus

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Anarchistische Antworten und Perspektiven Über die Zeugen Coronas und den Ausstieg daraus

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Gesellschaft

Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich am 29.5. bei der Anarchistischen Buchmesse Mannheim hielt.

Über die Zeugen Coronas und den Ausstieg daraus.
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Über die Zeugen Coronas und den Ausstieg daraus. Foto: Pitxiquin (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 2. Juni 2022
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KorrekturKorrektur
Aufgrund des grossen Gesprächsbedarfs, aber auch einer auf medizinische Aspekte fokussierten Debatte – bei der etwa die von mir in den Vordergrund gestellten herrschaftskritischen Aspekte etwas untergingen – kam insbesondere die Frage nach den Konsequenzen aus den Erfahrungen der letzten 2 Jahre und die Frage nach den Perspektiven für die Zukunft zu kurz. Für alle in Mannheim Anwesenden – und natürlich darüber hinaus für alle Interessierten – deshalb hier noch einmal der Vortragstext.

2022 gehört erstmals in der Geschichte Deutschlands weniger als die Hälfte der Biodeutschen einer der christlichen Kirchen an. Eine neue medizinisch-technokratisch-biopolitische Religion hat das Christentum abgelöst. Diese neue Religion vertritt, wie andere Religionen, ein geschlossenes, praktisch beratungs- und erfahrungsresistentes Weltbild.

Wir haben es bei den Zeugen Coronas mit einer Religion im Entstehen zu tun. Nicht bei allen der gleich genannten Merkmale sind sich alle Gläubigen einig, analog zur Geschichte des Christentums, wo Waldenser, Hussiten, Täufer, urkommunistische Kommunen etc. sich gegen einige Dogmen des Katholizismus wandten, ohne dem Glauben gänzlich zu entsagen.

Gleich den Zeugen Jehovas – die übrigens betonen, keine Verschwörungstheorien zu verbreiten… - gehen übrigens in einigen Städten „Impf-Lotsen“ von Haus zu Haus, oder beglücken ausgewählte Einrichtungen. Man kann diese ganzen Zeugen also durchaus verwechseln…

Gleich religiösen Bewegungen wird jede abweichende Meinung als Ketzerei abgetan – bzw. in der modernen Variante heute als „Verschwörungstheorie“. Dabei machen es sich die Zeugen Coronas indessen zu einfach, hat sich doch so manche „Verschwörungstheorie“ später als wahr erwiesen. Nur ein Beispiel: das US-Geheimdienste das Internet überwachen und unzählige Daten sammeln, galt lange als Verschwörungstheorie. Mit Edward Snowden, der den NSA-Skandal aufdeckte, konnte diese Vermutung bewiesen werden.

Auch manche frühe Befürchtungen von Corona-Massnahmen-Skeptiker:innen erwiesen sich schliesslich als zutreffend, siehe z.B. die Debatte um eine (vorerst nicht umgesetzte) Impfpflicht, die noch wenige Monate zuvor vom damaligen Gesundheitsminister Spahn bestritten wurde. Daher: wenn alles Verschwörungswahn und alles Rechts ist, dann dient dies nicht der Kenntlichkeit, sondern führt zu Unschärfe, Beliebigkeit & Verharmlosung.

Bei der folgenden Aufzählung bitte ich alle, einmal kurz innezuhalten und selbstkritisch zu reflektieren, inwiefern zumindest manche dieser Überzeugungen zeitweise geteilt wurden.

Was macht nun die Zeugen Coronas aus?

Einige Merkmale der Zeugen Coronas sind diese Ansichten:

Der Glaube an medizinische Prognostik: Diese wird als legitime Basis für alle folgende Massnahmen angesehen wird. Diese Kaffeesatzleserei widerspricht jeder evidenzbasierten Medizin. So wurde die Richtigkeit eines vollkommen nichtssagenden Wertes wie der „Inzidenz“ lange nicht infrage gestellt. Und wenn diese Prognostik doch so toll ist, dass mensch an ihren Lippen hängt: warum wurde nicht rechtzeitig ein solides, nicht profitorientiertes Gesundheitssystem geschaffen? Warum gab es keine Bevorratung mit Hygienemitteln? So plötzlich kam die Pandemie nicht, sie war, nach den Sars- und Mers-Epidemien Anfang der 2000er Jahre, nur eine Frage der Zeit. Ökologischer Raubbau, Regenwaldvernichtung, Klimawandel und bauliche Verdichtungen machen solche Zoonosen schliesslich immer wahrscheinlicher.

Der Glaube an „Experten“: Übersehen wurde, dass selbst innerhalb der Virolog:innen-Zunft nur eine sehr verlesene Auserwählten-Schar zu Regierungsberatungen und Pressekonferenzen eingeladen wurde. Abweichende Ansichten wurden auch hier in den Bereich des Verschwörungsdenkens verwiesen. Die Expertokratie spricht allen emanzipatorischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte Hohn, in denen zu Recht eine Begrenzung von Expert:innenmacht gefordert wurde zugunsten von Selbst- und Mitbestimmung. Ein Lesetipp dazu ist bis heute das bereits in den 1970er Jahren veröffentlichte Buch „Entmündigung durch Experten“ von Ivan Illich. Das Buch ist heute aktueller denn je, hat sich doch seither der Beratungs-, Coaching- und Dienstleistungsbereich enorm ausgeweitet.

Der Glaube an die Wissenschaft: sie wird ehrfürchtig betrachtet als etwas, das irgendwie über allem steht. „Wissenschaftlich“ zu argumentieren – oder Wissenschaftler:in zu sein -, das bedeutete, besonderes Gewicht zu haben. Dies offenbart jedoch ein naives, geradezu blindes Vertrauen in die Wissenschaft, die per se irgendwie als „vernünftig“ gilt. Denn dabei wird übersehen, dass Wissenschaft nie von den Strukturen der sie umgebenden Gesellschaft zu trennen ist, sie also gerade auch im Corona-Zeitalter wieder bestimmten Interessen unterworfen ist. Nur in einer freien Gesellschaft, die Staat und Wissenschaft trennt, kann Wissenschaft eine befreiende Kraft entwickeln. In diesem Sinne ist das Buch „Erkenntnis für freie Menschen“ von Paul Feyerabend auch über 40 Jahre nach der Veröffentlichung immer noch eine inspirierende Lektüre.

Der Glaube daran, dass der Staat etwas irgendwie Positives sei: der Staat soll uns irgendwie unterstützen oder retten vor Bedrohungen. Deshalb soll ein starker, autoritär auftretender Staat gut und nötig sein. Wir erlebten solchen Staatsglauben bereits anlässlich des Neoliberalismus, wo vielfach der Staat als Schutz- und Hilfsinstanz vor einem „entfesselten Kapitalismus“ angerufen wurde. Das es dem Staat zuvorderst darum geht, den Fortgang der Geschäfte sicherzustellen, wird dabei übersehen. Ebenso wird übersehen, dass staatliche Gesetze – so auch das Bevölkerungsschutzgesetz – vor allem dazu dienen, politische Kontrolle zu erlangen und soziale Unruhen zu vermeiden bzw. niederzuhalten. Warum also sollte mensch irgendeiner Regierung – die die Staatlichkeit managt, ohne deren grundsätzlichen Charakter anzutasten - vertrauen?

Der Glaube daran, dass das Virus so gefährlich sei – und zwar für alle: Angst ist demnach die angemessene Reaktion. Dabei wird übersehen, dass buchstäblich jede „Normalität“ der Angst geopfert wurde, sich anzustecken (vom bisherigen sozialen Leben und Freundschaften bis hin zu bisherigen politischen und religiösen Überzeugungen) Angst führt zu Misstrauen und Vereinzelung. Dabei wurde die Angst erst produziert, um dann drakonische Massnahmen zur vermeintlichen Linderung ergreifen zu können. Vergleiche dazu das geleakte Szenario des RKI von 2013 mit prognostizierten 7,5 Millionen Toten und gezielter Angsterzeugung. Dabei haben wir es mit einem vergleichsweise freundlichen Virus zu tun: eindeutig trifft es vor allem Menschen, die älter als 80 Jahre sind (das Sterbealter der nachgewiesenen Corona-Toten liegt im Schnitt über der durchschnittlichen Lebenserwartung), was beispielsweise bei der „spanischen Grippe“ ganz anders war.

Der Glaube, dass es bei den Corona-Massnahmen darum geht, besonders verletzliche Gruppen zu schützen: Dabei wurden ältere Menschen vielfach gegen ihren Willen „geschützt“ wurden – bzw. eben auch nicht wirklich gezielt geschützt wurden, wie die Statistik zeigt. Die brutale Isolierung in Pflegeheimen hat vielmehr zu zahllosem Leid und zu unzähligen Demenztoten geführt, jedoch keinen Tod verhindert. Damit hat das Coronavirus auch den Finger auf ein auch in Mitteleuropa vollkommen desolates Pflegesystem gelegt – ohne das sich daran seither ausser warmen Worten und Beifall (der aufgrund dieses Zynismus entschieden zurückgewiesen gehört!) etwas getan hätte.

Der Glaube daran, dass auf Freiheit verzichtet werden muss, um die Freiheit zu retten: Die faktische Einstellung jeder Form von politischer Teilhabe – siehe Demonstrationsrecht – ist in dieser Logik die vollendete, weil „verantwortungsvollste“ Form der Beteiligung. Freiheitsentzug wurde hier zur pädagogischen Massnahme: ihr bekommt eure Freiheit wieder, wenn ihr geimpft seid. Da dies eine kollektiv ausgesprochene Drohung ist, ist sie auch der Basis für den Hass gegenüber Ungeimpften: die nehmen mir ja meine Freiheit. Von der unlogischen Figur des „durch Unfreiheit zur Freiheit“-Kommens einmal abgesehen wäre auch der doch offenkundig sehr reduzierte bürgerliche Freiheitsbegriff hier einmal auseinanderzunehmen.

Der Glaube an den Sinn von Lockdowns („Zero Covid“): und das, obwohl 1. längst erwiesen ist, dass global mehr Menschen an den Kollateralschäden von Lockdowns sterben als durch das Virus und 2. freiwillige Massnahmen (Abstand, Hygiene) viel erfolgreicher sind als staatlich verordnete (vergleiche hierzu den 2021 von Karl Heinz Roth publizierten Band „Blinde Passagiere“). So gibt es in Afrika mehr Corona-Opfer durch Lockdowns als durch das Virus, nicht zuletzt durch während der Lockdowns vollkommen vernachlässigte Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV und Tuberkulose. Die Armen dieser Welt sind durch Lockdowns besonders verletztlich, so bilanziert die Welthungerhilfe Millionen zusätzliche Hungertote. „Zero Covid“ ist insofern nichts weiter als zynische Klassenpolitik gegen die Armen.

Der Glaube daran, dass es alternativlos ist, in vielen Staaten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Ausgangssperren zu verhängen: teils sogar solche, die weitgehender waren als die Ausgangsbeschränkungen im 2. Weltkrieg. Dabei wird übersehen, dass die Gefahr des Virus primär in Innenräumen droht, was auch schon früh bekannt war. Monatelange Einschränkungen der Bewegungen im Aussenbereich haben die Gesundheit von Millionen Menschen massiv beeinträchtigt (psychische Erkrankungen, zugenommener Drogenmissbrauch, Übergewicht, Herz- und Kreislauferkrankungen).

Der Glaube daran, dass es unbedingt nötig ist, eine strikte soziale Distanzierung zu praktizieren: Dabei wird übersehen, dass gute Sozialbeziehungen ein positiver Gesundheitsfaktor sind (während Angst, Isolierung etc. negativ wirken). Die Corona-Massnahmen sind damit eine systematische Zerstörung des Immunsystems. Die Distanzierung kommt vor allem den Kapitalinteressen der Digitalwirtschaft entgegen sowie den staatlichen Kontrollinteressen. Das Virus war eine Möglichkeit, die Akzeptanz von Biotechnologien und fortschreitender Digitalisierung zu erhöhen. So wurde während der Pandemiezeit weitgehend unwidersprochen die soziale Kontrolle bis ins Uferlose ausgeweitet.

Der Glaube daran, dass es nötig ist, auf Spass und Zusammenkünfte zu verzichten und stattdessen im Verzicht gemeinsam „solidarisch“ zu sein: Übersehen wurde, dass der Kampf gegen alles, was Lust und Genuss bereitet, eines der Kernelemente des Faschismus ist. Vergleiche hierzu das wegweisende Buch „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit. Eine staatstragende Antifa hat dies allerdings nicht begriffen. Abweichende Ansichten wurden mindestens als „unseriös“ betrachtet und mit „Faktenchecks“ beantwortet, die eigentlich ihrerseits Faktenchecks erforderten.

Der Glaube daran, dass alle, die abweichende Meinungen vertreten, mindestens „Verschwörungsschwurbler“, wenn nicht „Rechts“ sind (was mehr oder weniger das selbe war): selbst vor dem Begriff des „Coronaleugners“ scheute man dabei nicht zurück, womit der Holocaust verharmlost wird. Übersehen wurde dabei die problematische, rassistische Ideologiegeschichte des RKI ebenso wie der Umstand, dass eine auf AfD etc. fokussierte Faschismusanalyse verengt ist, weil Faschismus aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Mit ihrem autoritären Agieren wurde die „Antifa“, die nicht davor zurückscheute, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, in der Pandemie ihrem Feindbild immer ähnlicher (https://wolfwetzel.de/index.php/2022/02/08/wir-impfen-euch-alle-warum-und-worin-der-covid-antifaschismus-den-rechten-so-aehnlich-ist/).

Der Glaube daran, dass der Körper nicht einfach mir gehört, sondern er legitimerweise Gegenstand öffentlichen Interesses ist: der Einzelkörper wird zum Volkskörper. Das Recht auf Gesundheit wurde zur Gesundheitspflicht. Verantwortung, das heisst nun: Verantwortung „für uns alle“, d.h. in einer staatsförmigen Welt letztlich: für den Staat, für die Volksgemeinschaft. Dabei gab es seit Jahrzehnten demokratische und emanzipative Konzepte von Gesundheit, in denen es um körperliche Selbstbestimmung ging, Traditionslinien, die nun umstandslos entsorgt wurden. Vergessen ist etwa eine selbstbewusste „Krüppelbewegung“, die den „unperfekten Menschen“ gegen jeden Optimierungs- und Gesundheitswahn ins Zentrum stellte (vgl. Christoph Franz/ Christian Mürner: Der Gesundheitsfetisch).

Der Glaube daran, dass Impfungen der einzige Ausweg aus der Pandemie sind, die Pandemie damit zu bewältigen sei, und dass Kontaktverfolgungen sinnvoll und nötig sind: so wurden zuvor weithin kritisierte Biotechnologien (Impfstoff!) und Überwachungstechnologien akzeptanzfähig. Kritik an den Interessen von Pharmakonzernen beschränkte sich einzig und allein nur noch an der Patentierung von Impfstoffen, während etwa die Gates-Stiftung mit ihren neoliberalen Gesundheitsparadigmen gegen Kritik verteidigt wurde.

Vergessen wurde die grundsätzliche Kritik am pharma-medizinischen Komplex, wie sie etwa die BUKO-Pharma-Kampagne jahrzehntelang formulierte. Ich bin kein grundsätzlicher Impfkritiker, festzuhalten ist aber, dass Alternativen zum Impfen kaum erforscht wurden und eine allgemeine Impfpflicht beim Coronavirus durch nichts zu rechtfertigen ist (vgl. dazu meine Broschüre „Wider den Impfzwang“).

Der Glaube daran, dass das Virus ökonomische und soziale Verwerfungen sichtbar gemacht hat: dabei haben im Gegenteil diese Verwerfungen die Verbreitung des Virus erst ermöglicht – von globalen ökologischen Raubbau über die Mobilität einer „Globalisierung von oben“ im Interesse der globalen Warenproduktion und -verteilung bis zu wachsenden Verarmungsprozessen sowie prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen. Indem „wir, du, alle zusammen gegen Corona“ sind (so die Werbung der linken bremischen Gesundheitssenatorin), werden Interessengegensätze und soziale Konflikte übertüncht. Es braucht keinen Blick in die Kristallkugel, um festzustellen, dass (in dem Masse, in dem die gesellschaftlichen Konflikte ignoriert bzw. zugespitzt werden) auch die nächste Pandemie wieder vor allem die Armen sowie die unterversorgten Alten treffen wird.

Diese Beispiele mögen genügen. Zusammenfassend muss man sagen, dass im Sinne der Foucaultschen Analysen von Bio-Politik die pandemische Medizin-Technokratie zum neuen Gefängnis geworden ist. Namentlich eine Linke, die die Lust in all ihren Formen negiert, nicht zuletzt die Lust am wilden Denken, die hat sich selbst aufgegeben. Sie wird den Ausstieg aus den Zeugen Coronas nicht mehr schaffen.

Die Art und Weise, wie linke Bewegungen einen Medizin-Fundamentalismus das Wort redeten, einen Gehorsam gegenüber staatlichen Massnahmen forderten, die Macht der Expertokratie und der Digital- und Pharmakonzerne verkannten oder verleugneten und sich mit dem Verweis auf „Verschwörungstheorien“ jedem Diskurs verweigerten, hat zur Selbstaufhebung dieses Spektrums geführt. Diese Ansicht teile ich mit namhaften Künstlern und langjährigen politischen Aktivisten mit linksradikaler Geschichte, die dies aber noch nicht öffentlich äussern wollen, in der Befürchtung, bei Auftrittsmöglichkeiten, Lehraufträgen etc. beschnitten oder sozial ausgegrenzt zu werden.

Von den politischen bzw. anti-politischen emanzipatorischen Bewegungen sehe ich einzig beim Anarchismus noch Lichtblicke, er ist die einzige Strömung, die nicht komplett kopflos geworden ist, wenngleich auch hier sich einige Teile den Zeugen Coronas zuwendeten.

Buenaventura Durruti äusserte: „Anarchisten bekämpfen keine Menschen, sondern Institutionen“ – unter dem Banner staatlich verordneter Solidarität wie auch der linken Selbstentmündigung und der Denunziationen gegen Andersdenkende geschah in den letzten 2 Jahren allerdings das Gegenteil. So haben Linke missliebige, ihnen „verdächtige“ Menschen bekämpft, indem sie den Staat und seine Massnahmen unterstützten und drohten: „Wir impfen euch alle“.

Der Begriff „Freiheit“ war in den letzten Jahren fast nur noch von Rechten zu hören (die, bevor sie ihr Alleinstellungsmerkmal in dieser Hinsicht entdeckte, noch zu Beginn des Jahres 2020 nach autoritären „Massnahmen wie in China“ rief). Wobei das Freiheitsverständnis von Rechten selektiv und zudem populistisch funktional ist. Kritisiert wird die Beschränkung dessen, was uns staatlich zugestanden wird, ein sehr reduzierter Freiheitsbegriff also, der vorrangig dem Stimmenfang dient, weil man sich darüber nun vom restlichen Parteienspektrum abheben kann. Sich primär an den (realen oder angeblichen) Spaziergangs-Rechten abzuarbeiten statt an Staat & Kapital scheint mir allerdings die falsche Stossrichtung zu sein.

Die anarchistische Geschichte bietet mir hingegen Werkzeug, aus der herrschenden Misere hinauszukommen.

Ich zitiere Michael Bakunin: „Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, dass sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können“.

Anarchismus kann also weiterhin einen Beitrag dazu leisten, den gerade in der Pandemie epidemisch gewordenen Gehorsam gegenüber Staat und Autorität zu zerstören. Dies auch deshalb, weil Anarchist:innen noch am ehesten eine konsequente Staatskritik betreiben, die gegen staatliche Zumutungen immunisiert. Eine zentrale Aufgabe wird es sein, Staatlichkeit, Autoritarismus und Konformismus wieder aus den Köpfen derer herauszubekommen, die (noch) keine Anarchist:innen sind.

Zurückgreifen können Anarchist:innen auch auf das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Dabei geht es nicht zuletzt darum, partizipatorische, ressourcenerweiternde Prozesse zu unterstützen, auf das ein möglichst unabhängiges, selbstbestimmtes, gutes Leben für alle möglich wird. Angesichts der bestehenden globalen wie lokalen Spaltungen, Ausschlüsse und Lebensunsicherheiten, die durch die Corona-Massnahmen extrem verstärkt wurden, ist die gegenseitige Hilfe ein gegenwartstauglicher Baustein einer empowernden, inklusiven Unterstützungskultur. Ein derartiger, konkreter Anarchismus kann die anarchistische Theorie und Praxis auch für Menschen attraktiv machen, die (noch) keine Anarchist:innen sind. Denn das gute Leben für alle, das sollten gerade die Corona-Jahre doch gezeigt haben, wird eben nicht vom Staat garantiert.

Den Prinzipien von gegenseitiger Hilfe und Selbstbestimmung liesse sich noch das Prinzip der Solidarität hinzufügen. In der Pandemie war diese nur noch als staatlich bzw. moralisch verordnete Verpflichtung sichtbar, in Form einer exklusiven, ausgrenzenden Solidarität, die begleitet wurde von verbalen Vernichtungsphantasien gegenüber Ungeimpften und einer völligen Verkennung der sozialen Realitäten. „Stay at home“ – was bedeutet das in überfüllten, zu kleinen Wohnungen, oder für Wohnungs- und Obdachlose? Es ist keine einfache Aufgabe, das Prinzip der Solidarität aus dieser autoritären Herabwürdigung herauszulösen und wieder mit anarchistischem Gehalt zu füllen.

Anarchismus verwirft die autoritäre Ent-Mündigung, die im Corona-Zeitalter durch Masken geradezu buchstäblich versinnbildlicht ist. Anarchismus ist anti-politisch im Sinne der Ablehnung von Appellen an die Herrschaft, da die hierarchischen Institutionen konsequent abgelehnt werden, und er setzt den Zwängen von oben eine Selbstorganisierung von unten auf entgegen. Eine ganze Reihe anarchistischer Prinzipien sind auch für das Zeitalter der Pandemien anregend. Eine anarchistisch inspirierte Wissenschaftskritik und eine Kritik der Expertenherrschaft etwa wären gerade höchst aktuell.

Anarchistische Grundhaltungen können dazu beitragen, den Vorhang „aus Angst, Hass, nicht überprüfbaren Informationen, widersprüchlichen Massnahmen und einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen Zielen und Methoden“ freizulegen und gegen ihn zu opponieren, so die Anarchistische Initiative Ljubljana 2020, die auch schrieb: „Verbreiten wir das Virus des Widerstandes an Arbeitsplätzen, in Nachbarschaften und auf den Strassen“.

Das ist, angesichts der fast konsensualen Zustimmung zum Corona-Regime und seinen ideologischen Grundlagen, keine einfache Aufgabe. Aber diese Aufgaben ist wahrhaft alternativlos. Beginnen wir also damit: nehmen wir den Dirigenten den Taktstock und schreiten wir voran auf dem Weg aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (vergleiche Immanuel Kant, wobei der Kampf um eine Mündigkeit kein individueller, sondern ein gesellschaftlich-emanzipatorisches Projekt ist!). Es ist an der Zeit, sich nicht länger von Angst dirigieren zu lassen.

Es ist Zeit, Staat, kapitalistisch determinierter Wissenschaft und dem medizinisch-biotechnologisch-digitalem Komplex das Vertrauen zu entziehen und Zeit, für eine befreite Gesellschaft zu kämpfen.

Es ist Zeit für die Zurückweisung der Autoritäten und Zeit für eine antiautoritäre Rebellion. Nicht die alte sterile Normalität, die alles und jede:n zur Ware degradiert, braucht es, sondern eine neue, diverse Normalität. Es ist, mit Peter Brückner gesprochen, Zeit für die „Zerstörung des Gehorsams“.

Gerald Grüneklee

Anmerkung: die „Zeugen Coronas“ sind kein patentierter Markenbegriff. So bleibt es nicht aus, dass dieser Begriff auch von zweifelhaften Veröffentlichungen genutzt wird, wie mir nach Abfassung dieses Textes zur Kenntnis gelangte.