Vielmehr kämen in dem »verkehrte[n] Weltbewusstsein« die Widersprüche einer »verkehrte[n] Welt« zum Ausdruck. Die Religion ist demnach nicht einfach unwahr, sie ist im Unwahren eine – wenn auch nicht unbedingt die einzige oder beste – Statthalterin des Wahren. Der blosse Frontalangriff auf sie ist reaktionär. Den »Kampf gegen die Religion« konnte Marx nur als »Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist«, gutheissen.
Allerdings hockten auch Feuerbach und Marx nicht ausser der Welt; bei ihren im Vormärz verfassten Religionskritiken hatten sie sich nicht mit dem Christentum an sich, sondern mit der Christentümelei der Restaurationszeit herumzuschlagen. Sie hatten nicht die bürgerliche Gesellschaft an sich, sondern die des 19. Jahrhunderts vor Augen, genau genommen sogar die zu dieser Zeit so gar nicht bürgerliche deutsche. Auch dürfte Marx wohl nichts von den Katastrophen geahnt haben, die »der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist«, im 20. Jahrhundert mit sich brachte.
Am wenigsten konnten die beiden um die Gefahr einer neuen Barbarei wissen, wie sie 100 Jahre später in Deutschland Wirklichkeit wurde. Anstatt mit einem drohenden Rückfall waren sie mit Fortschritt beschäftigt, wobei sie es mit Kirchen und einem Glauben in der Bevölkerung zu tun hatten, die mächtig genug waren, den Fortschritt im Denken wie in der gesellschaftlichen Verfassung zu blockieren. Eine derartige blockierende Funktion kann Religion immer noch haben, doch gibt es auch andere.
Im Positiven kann religiöses Bewusstsein nicht nur ein Platzhalter des zukünftigen Glückes sein, sondern selbst Anteil am Heraustreten aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, an geistigem und gesellschaftlichem Fortschritt haben. So ist festzuhalten, dass die Kritiker der Religion auf den Schultern religiöser Denker standen. Das Abarbeiten an der Christlichkeit seines Lehrmeisters Hegel war für den Junghegelianer Feuerbach zentral, Kant war kein Atheist, sondern ein Christ, der nicht wenig Zeit mit Gottesbeweisen verbrachte, und ohne das theologische Denken des Muslim Averroës, des Juden Maimonides und des Christen Thomas wäre es zur Aufklärung, wie wir sie kennen, wohl gar nicht gekommen. Insofern ist nicht (nur) die Kritik der Religion, sondern (auch) religiöse Kritik eine Voraussetzung von Marxens, vielleicht sogar aller Kritik.
Die heute am weitesten verbreitete Form der Religiosität dürfte hierzulande aber ihre Kümmerform sein: die weitgehend konsequenzlose religiöse Identität und Spiritualität, die auf politische Entscheidungen kaum einen Einfluss hat.
Die Kritik der Religion im Allgemeinen kann hierzulande nur noch im historischen Sinne als Voraussetzung aller Kritik bezeichnet werden: Hätte es sie in vergangenen Jahrhunderten nicht gegeben, wäre Kritik heute nicht möglich. Wo Religion harmlos-individualistisch oder gar selbst in Form reflektierender Vernunft auftritt, ist sie zwar immer noch eine falsche Denkform und somit zu kritisieren, aber in der Regel gibt es Wichtigeres zu tun. Im Fokus der Kritik müssen jene Denkformen stehen, die das Streben nach Glück aufgegeben haben und ihre Erfüllung im Kampf gegen individuelle Freiheit oder im projektiven Hass auf reale oder imaginierte Gruppen finden, an denen sie das Unglück zu strafen suchen. Einige dieser Ideologien sind religiös.
Anstatt Religion im Allgemeinen als Aberglauben zu verspotten, wie es der Neue Atheismus der letzten Jahre tut, gilt es also, die unterschiedlichen Formen von Religion in ihrer Funktionsweise, ihrem Inhalt, ihren Bedingungen und Konsequenzen zu verstehen und zu kritisieren, die reaktionären zu bekämpfen. Insofern ist Stephan Grigat unbedingt zuzustimmen, wenn er sich gegen den »abstrakten Wald- und Wiesenatheismus« wendet. Stattdessen »ginge [es] darum, deutlich zu machen, inwiefern Religionen unterschiedlich weit entfernt sind vom Gedanken materialistischer Aufklärung und Kritik«.
Dies gestaltet er dann so aus, dass »jüdischer Messianismus«, dem materialistischen Gedanken recht nahe, der Islam ihm denkbar fern und das Christentum irgendwo in der Mitte steht. Doch wie Lothar Garlow-Bergemann und Markus Mersault anmerken, befindet sich Grigat mit dieser Differenzierung, welche die drei grossen Monotheismen in abstracto gegeneinander abwägt, auf einem »Holzweg«. Als empirische Urteile mögen seine Beobachtungen reale Tendenzen benennen: Sowohl hierzulande als auch weltweit sind reaktionäre, antisäkulare Ausprägungen von Religion im Islam weiter verbreitet als in Christentum oder Judentum.
Dies aber zu einem weder zeitlich noch örtlich eingeschränkten Urteil über die Religionen an sich aufzublähen, ist unhaltbar.
Dabei handelt es sich nicht bloss um eine Ungenauigkeit, wie sie sich beim Gebrauch von Begriffen nicht vermeiden lässt, sondern um einen grundsätzlichen und folgenreichen Denkfehler. Denn werden Religionen derart abstrakt, wird ihnen ein historisch und geographisch stabiler Wesenskern unterstellt, der die Glaubenspraxis ihrer AnhängerInnen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten prägt. Eine solche These lässt sich schwerlich durchhalten; Reformations-, Spaltungs-, Säkularisierungs-, Restaurations-, Fundamentalisierungs- und Umwälzungsprozesse innerhalb von Religionen sind so nicht zu erfassen. Statt zwischen »dem« Islam, »dem« Christentum, »dem« Judentum usw. (meist bleibt die Diskussion ja bei diesen drei Monotheismen stehen) wäre eher zwischen verschiedenen Religiositäten zu differenzieren, deren sich in den jeweiligen Religionen verschiedene ausmachen lassen.
Doch droht hier wiederum eine Falle. Während Grigats Fehler darin besteht, im Längsschnitt Homogenität in den einzelnen Religionen zu unterstellen, läge der umgekehrte Irrtum darin, im Querschnitt eine Gleichheit unter den verschiedenen Religionen zu unterstellen. Dies drückt sich in den ebenso wohlfeilen wie täuschenden Bekenntnissen gegen Fundamentalismus und Extremismus beziehungsweise für gemässigte und säkulare Kräfte in allen Religionen aus. Diese implizieren eine Analogie zwischen den Religionen, die empirisch einfach nicht gegeben ist.
Nicht die Gefahr, die von protestantischen FundamentalistInnen, die in den USA Abtreibungskliniken und in Zentralafrika Schwule verbrennen, ausgeht, nicht das verhängnisvolle päpstliche Engagement gegen Kondome, nicht die Umtriebe ultraorthodoxer jüdischer AuschwitzleugnerInnen und nicht das mörderische Treiben der HindunationalistInnen muss verharmlost werden, um festzuhalten, dass all dies sich sowohl in der Intensität als auch in der Qualität vom Djihadismus klar unterscheidet. Wichtiger noch: Es gibt im Christentum weder in der Form noch im Gewicht eine Entsprechung für die islamische Orthodoxie, die sich auch in ihren Inhalten folgenreich abhebt.
Die unterschiedlichen Religiositäten in den verschiedenen Religionen herauszuarbeiten, ist heute eine vordringliche Aufgabe kritischer Forschung. Dabei wäre es falsch, ja würde von Vorurteil und Ressentiment zeugen, Probleme einzig im Islam zu suchen. Jedoch deutet alles darauf hin, dass sie gerade hier zu finden sind, weshalb es sich verbietet, ihre Kritik aus Angst vor »Islamophobie« zu unterlassen.
Vom Wesentlichen zum Unwesentlichen
Einen fruchtbaren Ansatz für die Kritik reaktionärer islamischer Religiositäten bieten Thomas Mauls jüngste Einlassungen, die einen der ambitioniertesten Versuche linker »Islamkritik« darstellen. In Sex, Djihad und Despotie. Zur Kritik des Phallozentrismus geht Maul den von Grigat gewiesenen Holzweg bis zum Ende. Dabei zeigt er einerseits unwillentlich zu welchen Abgründen dieser führt, andererseits sammelt er unterwegs viel brauchbares Material.Den Dreh- und Angelpunkt seiner Kritik bildet das Konzept des Phallozentrismus, mithilfe dessen er die »Symbiose aus Patriarchat, Eschatologie, Ritual, Djihad und Despotie […] auf den kritischen Begriff bringen« (9) will, durch die er den Islam geprägt sieht. Bei der Bestimmung dieses Begriffes geht Maul von islamischen Darstellungen der Zeit Mohammeds aus, die er als »Ursprungsmythos« (18) des Islam versteht. Hauptmotiv dieses Mythos sei die Zivilisierung der in Ignoranz (Dschahilija) lebenden arabischen Stämme durch die Unterwerfung unter einen Gott, durch Islamisierung.
Im Zentrum dieser Zivilisierung stehe dabei die Ersetzung eines nichtpatriarchalen Geschlechterverhältnisses durch eines, das sich auch von dem das Christentum und Judentum prägenden Patriarchat qualitativ unterscheide, dieses zuspitze. Den Hauptunterschied sieht Maul darin, dass hier die männliche Lust als ununterdrückbarer Drang verstanden werde, der Phallus im Zentrum stehe. Dies führe einerseits dazu, dass nicht nur aussereheliche Sexualität verboten, sondern die innereheliche zur religiösen Pflicht erhoben werde – insbesondere zur Pflicht der Frau(en) gegenüber dem Mann und seinen Trieben, aber auch als Pflicht zur Reproduktion für Gott und Umma. Andererseits werde zum Schutz dieser legitimen Sexualität gegen den kaum zu bremsenden Phallus eine durch Ausschluss beziehungsweise Einschliessen der Frauen geprägte Geschlechtertrennung durchgesetzt.
Führte die Zivilisierung zu einer neuen Geschlechterordnung, so habe sie zugleich der Einigung der arabischen Stammesgesellschaft zur islamischen Gemeinschaft gedient. Dabei sei es zur »Verschiebung der alten anarchistischen Raub- und Kriegsökonomie auf ein äusseres Ziel […] – die geschlossene, expansive Bekämpfung, Unterwerfung oder Vernichtung der Polytheisten und Schriftgläubigen (Djihad-Doktrin)« (19, Hervorh. i. O.) gekommen. Sowohl das Verhältnis des Souveräns zu den Subjekten als auch das innereheliche Verhältnis des Mannes zur Frau oder den Frauen als auch das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung beschreibt Maul als despotisch.
Damit meint er eine Unberechenbarkeit für die Beherrschten, die darin begründet liege, dass die Herrschaft sich nicht durch ein verlässlich vollstrecktes Gesetz, sondern durch Willkür auszeichne (26-32). Es gelingt Maul, viele Belege für diese Thesen zu finden und somit zu plausibilisieren, dass der so verstandene Phallozentrismus in verschiedenen Jahrhunderten Bestandteil des durch autoritative Texte ausgedrückten islamischen Selbstverständnisses war und ist.
Allerdings ist Mauls Darstellungsweise alles andere als ausgeglichen und verlangt an zahlreichen Punkten nach Widerspruch. Einige dieser Punkte dürften als Ergebnis seines polemischen Stils zu verstehen sein, andere schiessen auch dafür viel zu weit über das Ziel hinaus oder völlig daneben. Dies macht das Buch schwer geniessbar, ändert aber nichts an der Stärke der zentralen Thesen. Um diese aber für die oben geforderte Kritik der Religiositäten produktiv zu machen, sind sie wenigstens von den beiden grundlegenden Problemen zu befreien: von Mauls textueller Attitüde und seinem Essentialismus.
Ersteres bezieht sich auf die Grundlagen seiner Thesen. Maul begründet die Wahl seiner Quellen ausführlich. Hauptkriterien sind die Autoritativität und der Einfluss der Texte, die er weiterhin so wählt, dass sie verschiedene Abschnitte der islamischen Geschichte repräsentieren. Er nennt fünf grundlegende Quellen: erstens den Koran, zweitens die als kanonisch anerkannten Berichte über Mohammeds Leben, drittens die Scharia, wie sie die Orthodoxie der Rechtsschulen vorgibt, viertens ein Buch des konservativen Theologen al-Ghazali (1058-1111) sowie fünftens mit dem Werk Ruholla Khomeinis die Schriften eines modernen Islamisten. Auch wenn diese Auswahl seine durchaus überzeugend gewählten Kriterien befriedigt, sind all diese Quellen religiöse Schriften. Das, was Maul als Islam analysiert, ist somit zuvorderst ein Text, nicht aber gelebter Glaube, soziale Praxis oder Lebenswelt.
Das wäre noch nicht weiter schlimm, hätte Maul eine polemische Geistesgeschichte der orthodoxen islamischen Schriftlehre verfassen wollen. Doch mit einem solch bescheidenen Unterfangen wäre er nicht zufrieden. Stattdessen folgt er – und dies ist der zweite Knackpunkt – dem essentialistischen Anspruch, das »Wesen des Islam« (17) gefunden und beschrieben zu haben. Dabei nutzt Maul den sich durch das Buch ziehenden Wesensbegriff nicht nur metaphorisch, sondern im strikten Sinne essentialistisch: Der Phallozentrismus ist ihm das Wesen des Islam, alles Islamische, jede von Muslimen oder Muslimas vorgenommene Handlung seine Erscheinung. Wenn er dabei zugesteht, dass die islamische Welt »kein monolithischer Block« ist, dann nur um direkt im Anschluss zu suggerieren, dass die Unterschiede »nicht viel mehr bezeichnen als unterschiedliche Niveaus auf ein und derselben apokalyptischen Krisenlösungsspirale« (170). Das Wesen kommt mal stärker, mal schwächer zum Vorschein, einen nicht-apokalyptischen Islam gibt es jedoch nicht.
Dabei springt Maul recht unvermittelt von der Ebene religiöser Texte zum »ordinäre[n] Alltagsislam«, zur »normale[n] islamische[n] Lebenswelt« (164). Die einzigen von Maul zusätzlich genannten Quellen, auf denen er seine Urteile über diese gründet, sind »Erfahrungsberichte muslimisch sozialisierter Frauen und Mädchen« (13) (Alaiyan, Hirsi Ali, Kelek, Ates) sowie vereinzelt eingestreute spektakuläre Umfrageergebnisse. Ansonsten basieren die Phänomene, die Maul durch das phallozentrische Wesen zu erklären trachtet, selbst auf nichts als Hörensagen, Spekulation oder Projektion.
Weil er für die lebensweltliche Ebene kaum Belege hat, aber durch seine Entdeckung des islamischen Wesens doch zu wissen glaubt, was dort geschieht, neigt er zu wilder Generalisierung. Dies zeigt sich nicht nur in Ausdrücken wie »die Vergesellschaftung der Individuen unterm Islam insgesamt« (177), sondern auch in zahlreichen kleineren Aussagen. Wenn er etwa behauptet, dass die Worte des ägyptischen Grossmufti Ali Gomaa »den Muslimen grundsätzlich als Rechtsgutachten gelten« (76), ist man versucht ihn zu bitten, die von ihm wiederholt herbeizitierten muslimischen Jugendlichen an Berliner Hauptschulen einmal zu fragen, wer das überhaupt ist.
Wohlgemerkt essentialisiert Maul nicht den einzelnen Menschen. Bei ihm sind die muslimischen Gläubigen keine bewusstlosen, zur Reflexion unfähigen, phallusgesteuerten Roboter. Weil er jedoch den Islam essentialisiert, kann die Reflexion für ihn nur einen Weg nehmen: Das »Gebot der Stunde« ist der »Abfall vom Islam« (187) beziehungsweise die Befreiung »aus den Fängen des Islam« (208). Ja, auf lange Sicht sieht er Muslime wie Muslimas sogar vor »die Alternative [ge]stellt: Abkehr vom Islam oder suizidaler Amoklauf in seinem Namen« (8). Entsprechend meint Maul, es müsse »jedes Verständnis für den Islam […] in eine Preisgabe der Zivilisation, mithin des Individuums und seines Anspruches auf Glück« (208) münden. Reformen und Umbrüche im Islam sind nach seinem Ansatz schlechterdings nicht denkbar.
Islam is as Islam does
Jener Gefahr einer unzulänglichen Essentialisierung des Islams kann nur entgangen werden, wenn sich um einen nicht essentialistischen Begriff des Islams und seiner GlaubensanhängerInnen bemüht wird. Sinnvollerweise sollte als Muslim oder Muslima bezeichnet werde, wer sich selbst als solcheR versteht, ganz egal wie viel oder wenig er oder sie von den religiösen Schriften, der Tradition islamischen Rechts oder dem, was die Wissenschaft so über den Islam schreibt, versteht; auch ganz unabhängig davon, an wie viele oder welche religiösen Regeln er oder sie sich hält. Islamisch wiederum ist, was so verstandene Muslime und Muslimas als islamisch verstehen und praktizieren. Da auf diese Art einander ausschliessende Religiositäten als islamisch bestimmt sind, ist klar, dass der so verstandene Islam kein Wesen hat.In Bezug auf Mauls Phallozentrismusthese wäre dann dreierlei zu leisten. Erstens wäre zu untersuchen, inwieweit dieser anhand von Textanalyse gewonnene Begriff überhaupt für die Lebenswelt und Glaubenspraxis von Muslimen und Muslimas prägend ist. Darauf basierend wären zweitens verschiedene Religiositäten analytisch zu trennen und ihre Verbreitungsgrade herauszuarbeiten. Drittens wäre es für eine nicht essentialistische Analyse wichtig, die Mechanismen in Betracht zu nehmen, durch die insbesondere reaktionäre Religiositäten reproduziert oder gebrochen werden.
Im Hinblick auf deutsche Muslime und Muslimas wäre es für die ersten beiden Schritte von grossem Nutzen, neben den von Maul zitierten Erlebnisberichten und quantitativen Umfragen auch die qualitative Sozialforschung insbesondere aus der Jugend- und Migrationsforschung kritisch einzubeziehen.(8) Diese bieten nur selten die sensationellen und griffigen Ergebnisse wie die von Maul genutzten Quellen, dürften aber gerade dadurch zu einem realistischeren Bild beitragen. Unter anderem dürfte sich herausstellen, dass die von Maul analysierten Texte an den Lebenswelten vieler Muslime und Muslimas schlicht vorbeigehen.
Wo sie dies nicht tun, ist im dritten Schritt herauszuarbeiten. Hier legt Mauls Darstellung drei Reproduktionsmechanismen nahe, durch die der Phallozentrismus Subjektivierung und Vergesellschaftung prägt.
Der erste Reproduktionsmechanismus ist die unmittelbar religiöse Perpetuierung des Phallozentrismus durch den Bezug auf konservative Gelehrte, ihre Texte und Fatwas. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Einfluss des auch in Europa unter jungen Muslimen und Muslimas populären Yusuf al-Qaradawi; ein anderes sind die von Maul mehrfach zitierten konservativen Verbände in Deutschland – und solche, die nicht als konservativ zu bezeichnen wären, gibt es kaum.
Wenn die Lehren dieser Autoritäten, der Koranschulen und Moscheegemeinden in Deutschland orthodoxe oder in Mauls Sinn phallozentrische Inhalte predigen, wird dies bei der Sozialisation muslimischer Jugendlicher sicher Spuren hinterlassen. Allerdings besuchen in Deutschland bei weitem nicht alle jungen Muslime und Muslimas solche Einrichtungen. Auch bei denen, die es tun, sollte man jedoch nicht allgemein davon ausgehen, dass sie dadurch viel nachhaltiger geprägt würden als ProtestantInnen durch den Konfirmandenunterricht.
Der zweite von Mauls Phallozentrismusthese nahegelegte Mechanismus besteht darin, dass die entsprechenden Normen auch dort reproduziert werden können, wo kein expliziter Bezug auf den Islam oder Religion überhaupt besteht. Hierunter wäre dann die Übernahme von in Familie und persönlichem Umfeld propagierten Werten, insbesondere von Geschlechternormen, zu verstehen. Dies müsste – nicht um den Islam zu verteidigen, sondern um die wirkenden Kräfte besser zu verstehen – eher als Tradition denn als Religion bezeichnet werden.
Ausführlich thematisiert Maul den dritten, entwicklungspsychologischen Mechanismus. Wenn mit dem Phallozentrismus entsprechende Familienstrukturen und elterliche Verhaltensweisen einhergehen, muss dies die Entwicklung der Kinder auch unabhängig von explizit formulierten religiösen Aussagen und Werten beeinflussen. Die von Maul zitierten Berichte von (ehemaligen) Muslimen und Muslimas zeigen, dass dies auch heute und auch in migrantischen Communities geschieht.
Ergänzend zu diesen Mechanismen ist es letztlich notwendig, den Begriff der religiösen oder kulturellen Identität einzuführen. Dabei sind drei Verklärungen zu vermeiden. Erstens darf Identität/Identifikation nicht als widerständiges Moment romantisiert werden. Auch wenn kollektive Identität im Einzelfall zeitweilig widerständig sein kann – man denke an die Szene in Casablanca, in der die Marseillaise angestimmt wird, um Die Wacht am Rhein zu übertönen –, ist sie zu Ende gedacht doch das Gegenteil von Reflexion und somit notwendig Gegenstand der Kritik.
Der Identitätsbegriff ist nicht einzuführen, um kulturelle Vielfalt oder Hybridität zu feiern, sondern um stattfindende Prozesse zu verstehen, auch politisch abzulehnende. Dafür verbietet sich zweitens die Frage, ob eine Identität authentisch ist oder nicht. Vielmehr ist sie immer performativ als ein der steten Wiederholung bedürfender und kontingenter Prozess, als Identifikation zu verstehen. Identität ist immer künstlich und nie echt. Drittens darf die Kontingenz der Identifikation schliesslich nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Es kann nicht alles und jedes jederzeit Teil einer islamischen Identität werden. Damit es dazu kommt, muss es zum jeweiligen Zeitpunkt eine gewisse Plausibilität und Attraktivität haben.
Durch einen so verstandenen Begriff von islamischer Identität lassen sich sowohl Reproduktionen alter Normen als auch Brüche verstehen. Einerseits können die drei oben skizzierten Mechanismen insbesondere in Verbindung mit realer oder wahrgenommener Diskriminierung dazu führen, dass die starke Identifikation mit orthodoxen Werten attraktiv erscheint. Andererseits können auch von der Orthodoxie abweichende Werte als islamisch verstanden und Teil einer islamischer Identität werden. Beispielsweise die Koranverse, nach denen alle Menschen tötet, wer einen Unschuldigen tötet, und es keinen Zwang im Glauben geben darf.
Maul macht plausibel, dass diese Sätze sowohl im koranischen als auch im orthodoxen Kontext weder ein allgemeines Verbot zu töten (22, 183) noch ein Gebot zur Toleranz gegenüber Anders- und Nichtgläubigen darstellen (178f.). Was jedoch, wenn junge Muslime und Muslimas diesen Kontext einfach nicht so gut kennen wie Maul, den einen Satz wirklich als Toleranzgebot, den anderen wirklich als Tötungsverbot verstehen und sich ihre islamische Identität um sie herum aufbauen? Täuschen sie sich dann und müssen vom »Islamkritiker« über das wirkliche Wesen des Islam aufgeklärt werden?
Was, wenn jemand auf die Idee kommt – die von Maul zitierte Fatima Mernissi tut es ja – den Koran historisch-kritisch zu verstehen und eine phallozentrische Geschlechterpolitik im Namen des Islam abzulehnen. Muss die »Islamkritik« ihnen dann vorhalten, dass sie sich und andere täuschen? Konkreter: Es gibt keinen vernünftigen Grund das islamische Kopftuch in irgendeiner Weise gutzuheissen. Wenn aber eine Muslima sagt, für sie sei es nur ein Ausdruck ihrer Religiosität und ihres Verhältnisses zu Gott, auf welcher Grundlage kann sich ein Kritiker herausnehmen, zu behaupten, das gehe gar nicht, wie Maul es tut?
Insbesondere in Sachen bewusst historisch-kritischem und säkularem Reformismus darf man sich freilich keiner Illusionen über eine allzu weite Verbreitung hingeben. Aber es kann nicht Aufgabe der kritischen Forschung sein, konservativen Verbänden zu bescheinigen, Hadithen »korrekt interpretiert« (109) zu haben, nichtreaktionäre beziehungsweise nichtmilitante Islamauslegungen aber als »eigenwillig« (38) oder »voluntaristisch« (213) also weniger authentisch islamisch abzuqualifizieren. Es ist schlimm genug, wenn IslamistInnen und »Islamophobieexperten« dies tun. Die kritische Forschung dagegen sollte sich darauf beschränken, islamische Religiositäten so zu thematisieren, wie sie auftreten, und da schonungslos zu kritisieren, wo sie reaktionär sind.