Salafismus in Europa Das Problem heisst Ausgrenzung
Gesellschaft
Kids, die auf Salafismus und Dschihad abfahren, sind derzeit in allen Medien. In Österreich wurden während der vergangenen Wochen erneut mehrere Jugendliche festgenommen, die auf dem Weg nach Syrien waren, um sich dem IS anzuschliessen.
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6. September 2014
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LCM: In mehreren Kommentaren in österreichischen Medien war zuletzt davon zu lesen, dass es sich bei Salafismus-Hype und IS-Begeisterung um eine neue „Jugendkultur“ handelt. Wie beurteilst du dieses relativ neue Phänomen?
Fabian Reicher: Religion ist etwas Identitätsstiftendes. Gerade für Jugendliche, die von vielen Ausschlussmechanismen in unserer Gesellschaft betroffen sind, bedeutet Religion die Möglichkeit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die ihnen Kraft und Identität gibt und die Welt überschaubarer macht. Salafisten, die in Frankreich, Grossbritannien und Deutschland schon seit Jahren aktiv sind, sind nun auch in Österreich angelangt. Die Jugendlichen erreichen sie durch Koranverteilungen oder in einigen wenigen kleinen Gotteshäusern, wo solche Prediger auftreten. Vor allem wird die Ideologie und Propaganda aber über die neuen Medien verbreitet. Leute wie den deutschen Salafisten Pierre Vogel kennt fast jeder von den Kids.
LCM: Welche Rolle spielen die Themen Salafismus und Dschihad in deinem Arbeitsalltag?
Fabian Reicher: Ich arbeite als Sozialarbeiter bei der mobilen Jugendarbeit im 20. Wiener Gemeindebezirk. Unsere Zielgruppe sind alle Jugendlichen zwischen 12 und 23 Jahren, wobei wir in erster Linie als erwachsene Ansprechpersonen für alle Anliegen und Bedürfnisse der Jugendlichen fungieren. Das Thema begleitet uns seit etwa einem Jahr. Damals haben wir zum ersten Mal gemerkt, dass sich etwas verändert. Religion begann eine grössere Rolle für viele Kids zu spielen. Wir arbeiten prinzipiell mit allen Jugendlichen, aber viele, mit denen wir zu tun haben, sind Muslime oder bezeichnen sich als solche. Wir haben uns dann erstmal sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt und uns mit vielen Menschen vernetzt, die sich darauf spezialisiert haben. Unter anderem haben wir einen Islamwissenschaftler eingeladen, der mit den Jugendlichen, die das interessiert, über Religionsthemen spricht.
LCM: Was hat dieses neue Interesse am Islam ausgelöst?
Fabian Reicher: Bei vielen Jugendlichen, mit denen ich arbeite, war der Syrien-Krieg ein grosses Thema. Viele empfanden eine grosse Hilflosigkeit und Ohnmacht, weil anscheinend niemand was gegen das Blutvergiessen unternommen hat. Damals haben einige Kids angefangen, sich Videos von Organisationen wie der Al-Nusra-Front anzusehen. Durch die neuen Medien sind diese Konflikte einfach sehr präsent, Fotos und Videos werden geteilt, und die Jugendlichen schauen sich das an, ob sie wollen oder nicht, und werden dadurch emotionalisiert. Angesichts der unzähligen Bilder von Toten im Syrien-Konflikt hatten viele das Gefühl, dass ausser den radikalen Gruppen niemand etwas unternimmt.
LCM: Dennoch: weshalb hat salafistische Propaganda so eine Anziehungskraft auf europäische Jugendliche?
Fabian Reicher: Meines Erachtens kann man das recht einfach erklären, und ich glaube auch nicht, dass es sich wirklich um ein neues Phänomen handelt, sondern um eine neue Erscheinungsform. Die Attraktivität salafistischer Gruppierung, welcher konkreten Auslegung auch immer, ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, eine klare Unterteilung in „gut“ und „böse“. Letzteres betrifft nicht nur die ccrUnterscheidung zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“, sondern zwischen allen, die die Regeln der Gruppe befolgen und jenen, die das nicht tun. Diese Zugehörigkeit führt zu einer Selbstermächtigung. Das Anknüpfen des Salafismus an die frühe Geschichte des Islam – also die Flucht Mohammeds aus Mekka und spätere Rückkehr als Kämpfer – bietet Jugendlichen, deren Eltern nach Europa geflüchtet sind, einen Bezugspunkt.
Viele fühlen sich nicht heimisch, nicht Teil der hiesigen Gesellschaft, und dem können sie nun einen religiösen Sinn geben. Auffällig ist, dass derartige Ideologien weniger Jugendliche mit einem fundierten religiösen Wissen anziehen, sondern eher religiöse Analphabeten oder solche Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen. Die Zugehörigkeit ist extrem einfach: es ist egal wer du bist, woher du kommst, welche soziale Stellung, welche Hautfarbe oder Geschlecht du hast. Du musst nur das Glaubensbekenntnis ablegen und dich an die auf den ersten Blick sehr einfachen Regeln halten.
LCM: Würdest du also auch von einer „Jugendkultur“ sprechen?
Fabian Reicher: Generell muss man bei der Frage der Radikalisierung zwischen „Jugendlichen“ und „jungen Erwachsenen“ unterscheiden. Im Jugendalter ist es normal, dass man provoziert und sich abgrenzt, durch Kleidung und Verhalten. Dabei geht es darum, eine eigene Identität zu entwickeln. Deshalb würde ich bei einem Jugendlichen, der den Dschihad gutheisst, nicht von einem „Salafisten“ oder „Dschihadisten“ sprechen, sondern von einem Sympathisanten. Wenn ein 30jähriger das immer noch gut findet, ist das natürlich etwas anderes. In einer Gesellschaft, wo Punk, Hip Hop und Pornographie im Mainstream angelangt sind – womit soll man als Jugendlicher provozieren? Die unglaubliche Empörung in den Medien über die „Dschihad“-Begeisterung unter Jugendlichen macht es für diese noch anziehender: man fällt auf, man grenzt sich ab, man zeigt, dass man gegen diese Gesellschaft ist.
Es sind alle Anzeichen einer Jugendkultur vorhanden, bis hin zu stilistischen Merkmalen. Hinzu kommt, dass die Propaganda unglaublich gut gemacht ist. Wenn man sich orientierungslos fühlt, weil man keinen Zugang zu Bildung hat, von vielen kulturellen Sphären ausgeschlossen ist, aus armen Verhältnissen kommt, wenn man vielleicht ein Ideal von Haus, Frau und Auto hat, das man nie erreichen wird, da gibt einem so etwas Orientierung.
LCM: Surft man durch einschlägige Seiten und Accounts in sozialen Netzwerken, ist man mit Unmengen an äusserst brutalen Bildern und Videos konfrontiert. Wie verarbeiten Jugendliche so etwas überhaupt?
Fabian Reicher: Wir erleben, dass sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Dann werden auch mal Tötungsszenen „nachgespielt“, weil die Kids keine andere Möglichkeit finden, sich damit auseinanderzusetzen. Hier wäre natürlich wieder das Bildungssystem gefragt. Facebook, WhatsApp etc. – hier passieren so rasche Entwicklungen, und in der Schule wird darüber nicht gesprochen. Aber das Leben spielt sich für Jugendliche mittlerweile zu einem grossen Teil in den sozialen Netzwerken ab, und das wird in der Schule kaum thematisiert.
LCM: Wie geht ihr mit dem Phänomen in eurem Arbeitsalltag um?
Fabian Reicher: Wir versuchen, das Ganze besprechbar zu machen. Wir nehmen die Jugendlichen ernst, egal ob ich nun glaube, der will mich nur provozieren. Die Kids wollen von Erwachsenen ernst genommen werden, und dass sich jemand mit ihnen beschäftigt. Wir begegnen ihnen mit Anerkennung und Wertschätzung und versuchen, so mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Notwendig ist natürlich ein ehrliches Interesse an den Themen, die die Jugendlichen bewegen fcsund Wissen darüber. Bezogen auf die Religion heisst das etwa auch, Islamfeindlichkeit, die in Medien oder durch persönliche Erfahrungen der Jugendlichen extrem präsent ist, mit ihnen gemeinsam zu bekämpfen. Beispielweise versuche ich sie darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle Menschen in Österreich islamfeindlich sind. Oder wir schreiben gemeinsam Leserbriefe an Zeitungen, in denen hetzerische Artikel veröffentlicht wurden, über die sich die Kids aufregen.
LCM: Welche Rolle spielt dieser antiislamische Rassismus, der ja in Österreich nicht zuletzt durch Plakate der FPÖ überall präsent ist?
Fabian Reicher: So etwas drängt die Jugendlichen in ein Eck und drückt ihnen einen bestimmten Stempel auf. In Österreich wurde seitens der Politik extrem viel versäumt. Immer noch wird MigrantInnen in vielen Bereichen der gleichberechtigte Zugang verwehrt. Da bilden sich logischerweise irgendwann eigene Strukturen, und nun haben wir die Situation das etwa Ausläufer der türkischen AKP in Österreich gefestigte Strukturen haben, oder dass Vereine ihre eigenen Kindergärten gründen. Zu dieser strukturellen Ausgrenzung kommt die offene Islamfeindlichkeit, also etwa wenn Jugendliche den Fernseher aufdrehen und da in Zusammenhang mit Islam eigentlich nur von Terrorismus die Rede ist. Hinzu kommen eigene Erfahrungen der Jugendlichen mit Rassismus und Islamfeindlichkeit, durch die sie sich komplett ausgeschlossen fühlen.
Das Gefühl, von allen – von den Medien bis zur Polizei – gehasst zu werden, führen zu einer tiefen Skepsis gegenüber der gesamten Gesellschaft. Und das passiert vor dem Hintergrund, dass für viele Religion die einzige Möglichkeit ist, sich eine Identität aufzubauen, weil sie etwa keinen Job oder sonstige Möglichkeiten für Identitätsbildung haben. Zusammengefasst würde ich das ganze Thema nicht als Religionsproblem, sondern als Ausgrenzungsproblem sehen. Das merkt man auch daran, dass es so viele Konvertiten gibt. Für alle, die Ausgrenzung erfahren, ist Salafismus momentan das Neue.
LCM: Wie sieht es geschlechtsspezifisch aus? In Österreich gab es im Frühjahr den Fall zweier junger Frauen, die nach Syrien gefahren sind. Dennoch scheinen sich überwiegend männliche Jugendliche für den Dschihad zu interessieren.
Fabian Reicher: Viele Studien zeigen, dass junge migrantische Frauen eher Gewinnerinnen und beispielsweise an Universitäten prozentmässig im Vergleich zu „autochthonen“ Österreicherinnen überrepräsentiert sind. Hinzu kommt, dass – wie etwa die PISA-Studie und ähnliche Untersuchungen zeigen – Mädchen im Bildungsbereich Burschen ohnehin überholen. Daneben haben wir die Situation, dass traditionell als „männlich“ bezeichnete Eigenschaften zwar den Jugendlichen immer noch vorgegaukelt werden, gleichzeitig aber nur mehr in bestimmten Erscheinungsformen gesellschaftlich akzeptiert sind. Also derimages erfolgreiche rücksichtslose Manager ist ok, der Schläger oder Kämpfer nicht mehr. Insofern sind Burschen von diesen traditionellen Rollenbildern, an die sie nicht herankommen, in mancher Hinsicht stärker betroffen.
Und die salafistischen Strukturen arbeiten natürlich genau mit diesen klassischen Rollenbildern: du hast die Chance, ein „Held“ zu sein – alles was du tun musst, ist dir ein Flugticket um 120 Euro zu kaufen und dann nochmal vier Stunden zu fahren. Das ist klassische Abenteuerromantik, die es immer schon gegeben hat. Die Strukturen sind also so aufgebaut, dass sie eher männliche Jugendliche anziehen, als Männerbünde mit entsprechenden Ritualen.
Gleichzeitig tritt aber auch das Phänomen auf, dass es immer mehr Mädchen gibt, die sich verschleiern. Die Gründe hierfür sind dieselben wie bei den den Burschen: sie wollen auffallen und provozieren. Da gibt es viele Fälle, wo die Eltern überhaupt nicht erfreut darüber sind, nicht zuletzt weil die Verschleierung in den Herkunftsländern der Eltern, etwa der Türkei, natürlich überhaupt keine Tradition hat. Auch hier geht es also wieder darum, diese neue Identität auszuleben, die eben derzeit eine salafistische ist. Und natürlich kommt auch hier hinzu, dass wenn „ihr“ ständig sagt, das Kopftuch ist böse, dann setz ich es erst recht auf. Mit einem Minirock kann man niemanden mehr provozieren, aber mit einer Burka – da schauen die Leute!
LCM: Was kann dieser salafistischen „Jugendkultur“ entgegengehalten werden?
Fabian Reicher: Zum einen geht es um langfristige Massnahmen, die ohnehin fast jedes soziale Problem lösen würden, nämlich Geld ins Bildungssystem zu stecken – also das befolgen, was alle ExpertInnen sagen. Und natürlich müsste die Schere zwischen arm und reich geschlossen werden. Das ist die Wurzel allen Übels. Kurzfristig müssen spezialisierte Stellen für Angehörige eingerichtet werden. Ein Problem ist, dass die meisten Menschen sich vor dem Thema fürchten und nicht wissen wie sie damit umgehen sollen. Dass Jugendliche etwa von der Schule suspendiert werden, ist der falsche Weg, ganz im Gegenteil brauchen sie noch zusätzlich Aufmerksamkeit, und ihre Eltern brauchen ebenfalls Unterstützung. Viele wenden sich etwa an den Verfassungsschutz weil sie nicht wissen, was sie sonst tun sollen. Mittlerweile gibt es ein paar Ansätze zu derartigen Einrichtungen, aber es fehlen immer noch offizielle Stellen.