Anita – Tänze des Lasters „Diese Zitrone hat noch viel Saft”
Kultur
Was wäre wenn ... ? Da stolpert eine Frau, anscheinend sich gegen Anfeindungen wehrend, durch Berlin und protestiert: „Ich bin eine Künstlerin und keine Nutte.”
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1. Juni 2021
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„Die ganze Welt ist nur ein Arsch
und wir sind seine Fürze
ein jeder stinkt auf seine Art,
das gibt dem Leben Würze
und da das nun einmal so ist,
pass auf, dass dir keiner in die Suppe pisst
und fall nicht in die Pfütze,
Mut ist die grösste Stütze,
und fall nicht in die Pfütze,
Mut ist die grösste Stütze.“
(Lotti Huber)
Die Passanten allerdings sind entsetzt, empört, wie das bei Passanten oft der Fall ist, wenn in ihren Alltag und ihre „Normalität” etwas einbricht, was sie nicht verstehen. Schnell ist die Polizei da und noch schneller findet sich Frau Kutowski alias Anita Berber in der Klapse wieder. Wer kennt dort schon Anita Berber? Und selbst wenn: Anita Berber war am 28. November 1928 in Berlin gestorben – am Laster, an der Ausschweifung, am Alkohol und am Kokain, sagen die Leute. 29 Jahre alt war sie gerade mal geworden. Also kann Frau Kutowski nicht Anita Berber sein.
Doch für Rosa von Praunheim, den Skandalumwobenen, der mit „Die Bettwurst” und „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt” 1970 eine kleinbürgerliche Welt in ihren Grundfesten und in ihrem Glauben an „das Normale” erschütterte, ist Frau Kutowski Frau Berber. Und ein bisschen ist auch Lotti Huber Anita Berber.
„Anita – Tänze des Lasters” spielt mit dieser Verwechslung, Identifizierung und der Distanzierung der grauen – folgerichtig auch in Schwarz-Weiss, vor allem Grau gefilmten – Gegenwart gegen die bunte, lasterhafte Vergangenheit. Neben einer, die sich für Rosa Luxemburg hält (Eva-Maria Kurz), einem religiös-fanatischen Patienten (Friedrich Steinhauer) und etlichen anderen gibt Frau Kutowski/Berber jedoch nicht etwa auf. Nein, sie reimt, schreit, lacht, und dreht den Ärzten und Psychologen, Schwestern und Pflegern das Wort im Mund herum, damit es passt – zu ihrer Situation. Und uns passt das auch vorzüglich.
Letztlich ist es völlig gleichgültig, ob sie nun die Kutowski ist oder die Berber – oder die Huber. Sie lebt als Anita. Und Rosa von Praunheim wechselt zwischen dem eintönigen Grau der psychiatrischen Gegenwart und dem farbenprallen erinnerten Vergangenen der 20er Jahre. „Anita – Tänze des Lasters” ist auch die Lebensgeschichte der Anita Berber, die 1916, mitten im ersten Weltkrieg, ihre kurze Karriere als femme fatale und Tänzerin begann.
Berühmt wurde die Berber vor allem durch ihre Nackttänze in den grossen Vergnügungspalästen Berlins, durch einige Rollen in Filmen, wie Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler” oder auch in dem Stummfilm „Der Graf von Cagliostro” von Richard Oswald. Sie feierte den Ausdruckstanz, der nur noch wenig mit dem klassischen Tanz zu tun hatte, und wurde gross in der Inflation, im Berlin der Schieber und Prostituierten, das Stefan Zweig „das Babel der Welt” nannte.
Die Leute gingen hin – und gleichzeitig geiferte, tobte oder frohlockte die Presse (je nach Gusto) von Anita Berber als personifiziertem Ausdruck des Lasters, denn sie verband Ausdruckstanz, Pornographie, Kunst und Striptease zu einer künstlerisch neuen Form der Darbietung. Gemeinsam mit Sebastian Droste (im Film Mikael Honesseau, der auch einen Arzt in der Psychiatrie spielt), ihrem zweiten Ehemann, entstanden Choreographien wie „Die Tänze des Grauens, des Lasters und der Ekstase” und „Cocain” [1].
Von Praunheim zeigt dieses Leben in erinnerten Rückblicken der Kutowski in Art eines Stummfilms mit Zwischentexten und einer exzellenten, aufwühlenden und äusserst sympathischen Musik von Konrad Elfers. Wie in den Bildern von Otto Dix, der die Berber in eng anliegendem roten Kleid malte, zeigt er in dem Betrachter mal hautnahen, mal in verzerrt wirkenden, knallbunten Bildern die Atmosphäre des Varietés, zwischen Transvestiten, Nackttänzerinnen, Gaunern, Prostituierten und Lebemännern, die Frivolität und Dekadenz, aber auch die Doppelmoral des Milieus, den Zynismus der Berber und den Zerfall dieser aussergewöhnlichen Frau. All diese erinnerten Rückblicke sind selbst in Form eines Varietés inszeniert, was der biografischen Erzählung eine besondere Note gibt. Von Praunheim benötigt kaum Dialoge (lediglich ab und an Zwischentexte), die Bilder, der Tanz, die Gesichter, die Bewegungen, das Halbdunkel des Milieus sagen alles.
Wechsel in die Psychiatrie: Lotti Huber alias Frau Kutowski alias Anita wird zur Psychiaterin (Hannelene Limpach, die das Drehbuch mit verfasste) gebracht und wundert sich über die gähnende Leere des Raums, die Trostlosigkeit, die hier herrscht. Die Psychiaterin hat keine Chance bei Frau Kutowski. Irgendwann sitzt letztere auf dem Schoss der Ärztin und sagt: „Fummel doch nicht immer an meiner Seele herum.
Fummel doch mal an was anderem rum.” Lotti Hubers Frau Kutowski füllt jeden Raum in dieser Psychiatrie mit Leben, mit Anzüglichem, ja mit Erotischem, mit Zynischem und Enthüllendem, mit Lebensfreude, etwa wenn sie ihre Mit-Patienten zum Tanz auffordert und sie ihr folgen. Frau Kutowski nimmt Raum, und als die Ärzte am Schluss denken, sie sei gestorben, ist dies auch nur ein Treppenwitz. Sie fällt in Ohnmacht, als die Schwester (ebenfalls gespielt von Ina Blum) sie fragt, warum sie ausgerechnet Anita Berber sein wolle – und nicht Inge Meysel. Und dann steht diese Frau, Anita-Lotti-Kutowski wieder auf und geht hinaus aus der Anstalt.
Keine von ihnen wird jemals aussterben, auch wenn sie gestorben sind. -
[1] Zu Anita Berber. Das Zitat in der Überschrift stammt von Lotti Huber und bezieht sich auf sie selbst.
Anita – Tänze des Lasters
Deutschland
1988
-89 min.
Regie: Rosa von Praunheim
Drehbuch: Rosa von Praunheim, Lotti Huber, Hannelene Limpach, Marianne Enzensberger
Darsteller: Lotti Huber, Ina Blum, Mikael Honesseau
Produktion: Rosa von Praunheim, Road Movies/ZDF
Musik: Konrad Elfers, Rainer Rubbert, Alan Marks, Wilhelm Dieter Siebert, Ed Lieber
Kamera: Elfi Mikesch (Farbe/s-w)
Schnitt: Mike Shephard, Rosa von Praunheim