Die ehemalige Geschichtslehrerin Lia (Mzia Arabuli) erwartet nicht mehr viel vom Leben. Geheiratet hat die Georgierin nie, und seit der Pensionierung fehlt ihr eine Aufgabe. Nun ist auch noch ihre Schwester gestorben, mit der sie viel verband. Auf dem Sterbebett gab Lia ihr das Versprechen, Thekla zu suchen, die Tochter der Schwester, die als Trans-Frau lebt und von der Familie verstossen wurde. Die Recherche führt Tante Lia zu Achi (Lucas Kankava), einem 25-jährigen Arbeitslosen, der in Batumi, der georgischen Hafenstadt am Schwarzen Meer, keine Zukunft für sich sieht.
Istanbul in der benachbarten Türkei wäre für ihn ein Traumziel. Und genau dorthin soll Thekla verschwunden sein. Gemeinsam bricht das ungleiche Paar auf, um mithilfe der Istanbuler Anwältin Evrim (Deniz Dumanlı), ebenfalls Trans-Frau, Thekla zu finden. Daraus wird ein berührender Trip in eine flirrende Metropole, in der auch die queere Community ein offenes, selbstbewusstes Leben führt. Bei der diesjährigen Berlinale gab es dafür den „Teddy“-Award und den zweiten Platz beim „Panorama“-Publikumspreis.
Ein Sehnsuchtsort
„Hier sieht es gar nicht anders aus“, wundert sich Achi, als er mit Lia von der georgischen Hafenstadt Batumi aus die nahe Grenze zur Türkei überquert. „Was hast du erwartet?“ fragt die Lehrerin. Anders werde es erst in Istanbul. Die türkische Metropole ist ein Sehnsuchtsort und ein zusätzlicher Protagonist in diesem humorvoll unterfütterten Roadmovie. Schon der erste Blick aus dem Reisebus ist eine Verheissung. Folkloristisch angehauchte Lautenklänge setzen ein, als die Kamera zurückfährt und die vom Morgenlicht verklärte Skyline ins Bild rückt. Bereits als Kind hat Regisseur Levan Akin (Als wir tanzten, 2019) die Reise vom georgischen Batumi nach Istanbul gemacht. Denn dort lebten seine Grosseltern, während der Filmemacher mit georgischen Wurzeln in Schweden geboren wurde, aber viele verwandtschaftliche Bindungen sowohl nach Batumi und Tiflis als auch nach Istanbul hat.Ähnlich klug komponiert wie die Ästhetik ist auch die Dramaturgie der lose auf Tatsachen beruhenden Geschichte. Bevor Lia und Achi auf ihre künftigen Istanbuler Helfer treffen, lernen wir diese in einer vorübergehenden Parallelhandlung kennen: Bei der Schiffsfahrt über den Bosporus macht sich die Kamera von Lisabi Fridell plötzlich selbstständig. Sie verliert das Paar der Suchenden aus den Augen und wendet sich dem bunten Treiben auf der Fähre zu, um dann in einem eleganten Schwenk bei der Anwältin Evrim sowie später bei zwei Strassenkindern zu landen, die ebenfalls noch eine Rolle spielen werden. Auch die Art der Handkameraführung ändert sich. Waren die Aufnahmen von Achi und Lia eher unruhig, so dominieren im Handlungsstrang um Evrim eher wohlgeordnete Bilder – quasi als Symbol für ein trotz aller Anfeindungen selbstbestimmtes und gefestigtes Leben. Die queere Gemeinschaft, wie sie hier gezeigt wird, ist voller Hilfsbereitschaft und Solidarität – ein Ort der Akzeptanz inmitten des homophoben Umfeldes sowohl der türkischen wie der georgischen Gesellschaft.
Reise nach innen
Dabei bezieht sich das titelgebende Crossing – also Überqueren – nicht nur auf die Reise in ein anderes Land und auch nicht nur auf das Überschreiten der Geschlechtertrennung, sondern vor allem auf das Sprengen innerer Ketten, auf die Zurückeroberung verschütteter Persönlichkeitsanteile. Lia, die stolze, aber verhärmte Seniorin, wird durch die Begegnung mit Transfrauen und Prostituierten eine andere werden. Hauptdarstellerin Mzia Arabuli spielt das ebenso rau wie herzlich, sie lässt die harte äussere Schale sanft zerbröseln. Vielleicht hängt ihre beeindruckend authentische Interpretation der in Traditionen gefangenen Frau auch damit zusammen, dass die 72-jährige Schauspielerin vor den Dreharbeiten noch nie mit Trans-Menschen zu tun hatte, aber während der Film-Arbeit in Istanbul viele neue und tiefe Beziehungen zur Community entwickelte, wie Regisseur Levan Akin im Presseheft mitteilt.Bis kurz vor Schluss vermittelt der Film die Reise nach innen vor allem durch Blicke und Gesten und besonders durch den Einsatz von Tänzen und Liedern, die das Gegen- und Miteinander von Konservatismus und Moderne wunderschön rhythmisieren. Ein westliches Arthouse-Publikum bräuchte daher die explizite Verbalisierung der filmischen Botschaft am Filmende nicht. Aber man kann es einem schwulen Regisseur auch nicht verdenken, dass er es an Deutlichkeit nicht fehlen lassen will, besonders in Bezug auf Gesellschaften wie Georgien und die Türkei, in der es die queere Gemeinschaft deutlich schwerer hat, als wir uns das hierzulande vielleicht vorstellen können. Immerhin musste Akins Vorgängerfilm Als wir tanzten teilweise an geheimen Orten gedreht werden, weil homophobe Übergriffe drohten. Und die Tifliser Premiere wurde dann tatsächlich von schwulenfeindlichen Protesten überschattet.