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Das Millionenspiel

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Das Millionenspiel Quote machen um jeden Preis: ein TV-Klassiker

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Kultur

18. Oktober 1970. Zuschauer rufen beim Westdeutschen Rundfunk an und melden sich – „freiwillig“ – als Kandidaten einer mörderischen Fernsehshow, die an diesem Tag ausgestrahlt wurde.

Der deutsche Schauspieler Jörg Pleva spielt im Film die Rolle eines Kanditaten der Spielshow.
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Der deutsche Schauspieler Jörg Pleva spielt im Film die Rolle eines Kanditaten der Spielshow. Foto: Udo Grimberg (CC BY-SA 3.0 cropped)

Datum 23. März 2022
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In dieser Show jagen drei Killer einen Mann, der 1,2 Mio. DM erhält, wenn er die Jagd überlebt. Töten ihn die drei Killer, erhalten diese 120.000 Mark. Die Fernsehshow heisst „Das Millionenspiel“ und ist eine Fiktion, ein Fernsehspiel. Die Anrufer haben ernst genommen, was sie im Fernsehen kurz zuvor gesehen hatten – eine groteske Reaktion, die das bestätigt, was Drehbuchautor Wolfgang Menge und Regisseur Tom Toelle mit ihrem Millionenspiel dokumentieren wollten: Die Jagd nach der Quote gepaart mit der Gier nach Sensationen und einem guten Schuss Voyeurismus würden die Zukunft (nicht nur) des deutschen Fernsehens bestimmen.

30 Jahre lang konnte der Film nach seiner Erstausstrahlung nicht mehr gesendet werden. Durch einen Irrtum der Verantwortlichen des WDR, dass man die Filmrechte an der Romanvorlage Robert Sheckleys erworben habe, konnte der Film erst jetzt wieder ausgestrahlt werden. Inzwischen waren in Frankreich 1982 „Le Prix du Danger“ mit Michel Piccoli und 1987 in den USA „Running Man“ mit Arnold Schwarzenegger in die Kinos gekommen, Filme, die beide auf der Grundidee von „Das Millionenspiel“ bzw. Sheckleys Roman basierten, auch wenn für „Running Man“ Stephen King als Autor fungierte, der die Geschichte nur wenig änderte (indem er Straftäter als Kandidaten auftreten liess).

Wolfgang Menge, der am 10.4.2004 seinen achtzigsten Geburtstag feierte, war schon 1970 kein unbeschriebenes Blatt mehr. Zusammen mit Jürgen Roland zeichnete er in den 60er Jahren verantwortlich für die beliebte Krimiserie „Stahlnetz“, für die „Tatort“-Reihe erfand er nach 1970 die Figur des Zollfahnders Kressin (gespielt von Sieghardt Rupp). Am bekanntesten wurde Menge durch die satirische Serie „Ein Herz und eine Seele“ (Ekel Alfred und Familie), dann aber auch durch von Wolfgang Petersen inszenierte Filme wie „Smog“ (1973) zum Thema Umweltverschmutzung und „Planübung“ (1977) zum Thema „Kalter Krieg“. Ausserdem zählte Menge zu den Initiatoren der Talkshow „III nach neun“ in den 80er Jahren bei Radio Bremen. Seine späteren Projekte wie „Motzki“ (1993) oder „Das Lied zum Sonntag“ (1998) stiessen dagegen auf wesentlich weniger Resonanz.

Bernhard Lotz (Jörg Pleva) hat sich freiwillig bei der Fernsehshow „Millionenspiel“ gemeldet, in der eine Woche lang – zwischen Freitag und Freitag – ein Kandidat von drei Killern, der sog. „Köhlerbande“ (Dieter Hallerworden, Theo Fink, Josef Fröhlich), quer durch die Bundesrepublik Deutschland gejagt wird. Moderiert wird die Sendung von Showmaster Uhlenhorst (Dieter Thomas Heck), unterbrochen von Rückblenden, Zuschauerbefragungen, Werbung. Veranstalter ist der Fernsehsender TETV. Eigens für diese Sendung wurden die Gesetze geändert: Der Kandidat darf getötet werden, sofern er nicht vorzeitig aufgibt. Ihm winken 1,2 Mio. DM, den Killern bei Tötung des Kandidaten lediglich 120.000 DM. Am „Schaltpult“ der Sendung sitzen TETV-Chef Moulian (Friedrich Schütter) und seine rechte Hand Ziegler (Peter Schulze-Rohr). Das Ziel des Senders ist klar: Die Show muss so lange wie möglich, so spannend wie möglich so viele Zuschauer wie möglich binden, kurz: die Quote muss stimmen. Dafür ist den Machern von TETV jedes Mittel recht.
Lotz ist schon fast am Ende, als er sich in einem Hotel verbarrikadiert hat. Es ist Donnerstag, und er hat es weiter gebracht als die 16 Kandidaten vor ihm, von denen acht erschossen wurden und einer, der aufgegeben hatte, sich „wegen der Schande“ wenig später das Leben genommen hatte. Die Killer andererseits dürfen nur auf Lotz schiessen; die Verletzung anderer Personen oder Anrichten von Sachschäden sind verboten und werden mit Punktabzug bestraft. Als ein Zimmermädchen Lotz verrät, flüchtet der in eine leer stehende Wohnung und wird von Köhler und den beiden anderen ins Visier genommen. Nur mit Mühe und durch Rauchgranaten, die den Killern die Sicht nehmen – gestiftet von der Zuschauerin Gabriele Steinfurth (Elisabeth Wiedemann) –, kann Lotz durch ein mit Pappe notdürftig verschlossenes Fenster entkommen. Auf der weiteren Flucht über freies Gelände kann Lotz nur mit Hilfe von Claudia von Hohenheim (Suzanne Roquet) in deren Auto fliehen.

Die letzten Stunden bis zum Ende der Sendung werden für Lotz zu einem physischen wie psychischen Martyrium. Wenn er es bis zur Sendeanstalt schafft, steht ihm noch die Todesröhre bevor – ein Kanal, durch den Lotz hindurch muss. Allerdings dürfen die Killer dabei dreimal auf ihn schiessen. Drei unterschiedlich grosse Öffnungen der ansonsten schusssicheren Röhre bieten ihnen die Möglichkeit, Lotz im letzten Moment doch noch zu erwischen. Ob er jedoch jemals so weit kommt, ist fraglich ...

Ein in jeder Hinsicht makabres Spiel, was Tom Toelle und Wolfgang Menge 1970 inszenierten. In fast allen Punkten übertrifft die Qualität dieser TV-Sendung den später mit Arnold Schwarzenegger inszenierten Film „Running Man“. Ohne Schnörkel und vor allem ohne die üblichen Hollywood-Manierismen zauberten die beiden ein Spiel, das an Skrupellosigkeit, Heuchelei, Voyeurismus und Menschenverachtung kaum zu überbieten ist – und das in einer Zeit, in der das Fernsehen noch weit entfernt von sog. „Reality-Shows“ und ähnlichem war. So feuert die Mutter von Lotz (Annemarie Schradiek) ihren Sohn in der Show im Beisein von Showmaster Uhlenhorst an: „Junge, mach dich auf die Socken. Pass schön auf dich auf“ – so, als ob es um einen normalen sportlichen Wettkampf gehe. Drei Reporter von TETV (gespielt von den Sportreportern Arnim Basche und Heribert Fassbender und der damals relativ bekannten und kritischen Journalistin Gisela Marx) befragen Passanten, deren Reaktionen lauten: „sehr modern“, „egal, Hauptsache spannend“ oder „verwerflich“. Aber selbst dieses „verwerflich“ wird in ruhigem Ton vorgebracht, als wenn es nicht um Leben und Tod, d.h. inszenierten Mord gehen würde.

Showmaster Uhlenhorst (gespielt von dem späteren Hitparaden-Moderator Dieter Thomas Heck) bietet die Show an, wie er jede andere moderieren würde. Er lobt die „hilfreichen Samariter“, etwa den Hotelkellner (Joachim Richert), der Lotz gewarnt hatte, oder die Rauchgranaten stiftende Frau Steinfurth (Elisabeth Wiedemann, später Mutter Tetzlaff in „Ein Herz und eine Seele“, in einer glänzenden Rolle als vordergründig schüchterne, aber nichtsdestotrotz sich dem modernen Gladiatoren-Kampf hingebende „einfache“ Frau), während er gleichzeitig im Studio im Verein mit Moulian und Ziegler demonstriert, wie gleichgültig ihm das Schicksal von Lotz ist und alle drei dafür sorgen, dass die Killer Lotz möglichst erst gegen Ende der Woche, am besten im Todesrohr erwischen: Sie organisieren teilweise die „hilfreichen Samariter“, um die Sendung möglichst lange am Kochen zu halten, und als Lotz am Ende zusammenbricht, Sanitäter, um ihn für die Todesspirale wieder fit zu machen.

In Rückblenden wird Lotz Weg in die Show gezeigt. Zunächst musste er sich in der Sendung „Bahn frei“ gegen 54 andere Rennfahrer behaupten. Dies war die Qualifikation für die Sendung „Ernstfall“, in der er betäubt in eine Cessna gesetzt wurde. Aus ihr sprang der Pilot ab und Lotz hatte nach dem Aufwachen aus der Narkose noch fünf Minuten, um das Flugzeug zu landen.

Bevor Dieter Hallervorden als mehr oder weniger gelungener Komiker im Fernsehen Karriere machte, spielte er im „Millionenspiel“ an der Seite Josef Fröhlichs und Theo Finks einen eiskalten Killer mit Gangster-Visage. Die Moderation von Dieter Thomas Heck ist auch deshalb so überzeugend, weil sie sich von der Moderation etwa der Hitparade in Tonfall und Wortwahl kaum unterscheidet. Hecks „meine Damen und Herren“, das er fast in jedem dritten Satz benutzte, und sein Wechsel zwischen schnellem und extrem langsamem Sprechen wirken daher im „Millionenspiel“ wie eine bitterböse Persiflage auf alle TV-Shows. Der zusätzliche Einsatz von wirklichen Reporten (Fassbender, Basche und Marx) als TETV-Reporter lässt die Grenzen zwischen wirklichen TV-Shows und dieser Fiktion fast verschwimmen.

Jörg Pleva schliesslich spielt Lotz als einen verzweifelten, doch zugleich geldgierigen Mann, dem dann allerdings nach knapp einer Woche fast alles egal ist. Plevas Lotz ist zum Schluss nur noch ein gehetztes Tier, es geht nur noch ums nackte Überleben.

Menge und Toelle schufen mit „Das Millionenspiel“ nicht nur ein Stück Fernsehgeschichte. In vielerlei Hinsicht war diese groteske Posse weitsichtig, was die Entwicklung des Fernsehens angeht, insbesondere auch im Hinblick auf die spätere Zulassung von privaten Fernsehveranstaltern und die damit verbundene noch grössere Bedeutung der Jagd nach der Quote und dem Knüller, der alles bisherige in den Schatten stellen sollte. Leider dauerte es 30 Jahre, bis endlich im Frühjahr 2002 der WDR sich mit „Studio Canal Image“ (dem jetzigen Besitzer der Filmrechte an Sheckleys Roman) auf eine Wiederausstrahlung einigen konnte.

Ulrich Behrens

Das Millionenspiel

Deutschland

1970

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95 min.

Regie: Tom Toelle

Drehbuch: Wolfgang Menge

Darsteller: Jörg Pleva, Dieter Thomas Heck, Dieter Hallervorden

Produktion: Peter Märthesheimer

Musik: Irmin Schmidt

Kamera: Rudolf Holan, Jan Kalis

Schnitt: Marie Anne Gerhardt