Die Jagd Vom beliebten Dorfmitglied zum Aussenseiter

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Kultur

Die Jagd ist ein erschütterndes wie packendes Drama über eine kleine Gemeinde, die nicht mehr zwischen begründeter Angst und hysterischer Selbstjustiz unterscheiden kann.

Mads Mikkelsen an der Comic Con in Stuttgart, 26. November 2022.
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Mads Mikkelsen an der Comic Con in Stuttgart, 26. November 2022. Foto: Raboe001 - Wikipedia (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 22. Juni 2024
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Das geht zwar an manchen Stellen etwas zu schnell, bleibt dank der guten Darsteller und einer insgesamt neutralen Erzählweise aber erschreckend glaubhaft.

Wie heisst es doch so schön: Wenn eine Tür sich schliesst, öffnet sich irgendwo ein Fenster. Wenn das stimmt, sollte für Lucas (Mads Mikkelsen) demnächst eine ganze Fensterwand offen stehen: Die Frau ist weg, den Sohn bekommt er kaum zu Gesicht und auch seine Stelle als Lehrer hat er verloren, nachdem die Schule geschlossen wurde. Immerhin, ein paar Lichtblicke gibt es in seinem Leben. Da wären zum Beispiel seine Freunde, allen voran Theo (Thomas Bo Larsen). Mit ihm und seiner Familie hat er ein so enges und intimes Verhältnis, dass er bei ihnen quasi ein- und ausgehen kann. Und einen neuen Job hat er auch schon. Okay, Kindergärtner mag im Vergleich zu Lehrer nach einem Schritt zurück aussehen, aber Lucas liebt die Kinder. Es geht also aufwärts, so scheint es zumindest. Doch die Idylle am Anfang von Die Jagd trügt, denn schon bald werden diese vermeintlichen Lichtblicke zum Verhängnis.

Eines der Kinder, die Lucas anvertraut wurden, ist nämlich die kleine Klara (Annika Wedderkopp), Tochter von Theo. Es versteht sich von selbst, dass das Mädchen in ihrem Betreuer eine enge Bezugsperson sieht. Als Lucas eines Tages versehentlich die Gefühle Klaras verletzt, läuft diese zur Kindergartenaufsicht und behauptet, Lucas habe sie sexuell belästigt. Natürlich nicht in diesen Worten, denn das vierjährige Mädchen weiss überhaupt nicht, was Sex bedeutet. Vielmehr gibt sie das wieder, was sie bei ihrem älteren Bruder aufgeschnappt hat, der – auch dank Pornos – einen guten Schritt weiter ist. Was sie da genau erzählt, weiss sie selbst nicht. Und zuerst will ihr die Leiterin auch nicht glauben. Lucas? Der macht doch so was nicht.

Aber was wenn doch? Was wenn da mehr dran ist? Schliesslich kann sich ein kleines Mädchen etwas Derartiges nicht einfach ausdenken. Und so wird aus der mehr als verständlichen Absicht, kein Risiko einzugehen, Misstrauen und recht bald auch Feindseligkeit. Nachweisen kann man Lucas nichts – wie auch, wenn er unschuldig ist? – aber das ändert im Grunde nichts, denn für die anderen ist die Schuld längst bewiesen. Lucas wird von der Arbeit suspendiert, das Dorf stellt sich gegen ihn, nicht einmal Theo weiss noch, wie er sich seinem Freund gegenüber zu verhalten hat. Selbst Lucas' Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm), der für einige Zeit zu seinem Vater ziehen und ihn unterstützen will, wird bald zur Zielscheibe der Gemeinde.

Kindesmissbrauch ist immer ein schwieriges Thema. Dass der dänische Regisseur Thomas Vinterberg vor Unbequemem nicht zurückschreckt, bewies er 1998 schon in Das Fest. Damals liess er auf einem Familienfest eine Bombe platzen: In einer Rede zum 60. Geburtstag seines Vaters verkündet der älteste Sohn, wie er und seine Schwester regelmässig von diesem sexuell missbraucht wurden. In Die Jagd geht Vinterberg nun den umgekehrten Weg und zeigt, dass Kindesmissbrauch auch ganz andere Opfer hervorbringen kann und wie schnell manchmal eine kleine, unbedachte Lüge eine gefährliche Eigendynamik entwickelt und so ein ganzes Leben zerstören kann.

Das Gemeine an dem Drama ist, wie es klare Schuldzuweisungen vermeidet. Natürlich wissen wir als Zuschauer, dass Lucas Klara nie etwas angetan hat und alles letztendlich ein Missverständnis ist. Aber den anderen Figuren fehlt dieses Wissen und sie tun lediglich das, was sie für richtig halten – auch wenn es das nicht ist. Natürlich nimmt die Verfolgung von Lucas irgendwann Züge an, die nicht mehr zu rechtfertigen sind. Doch dahinter steckt die durchaus begründete Angst, dass den eigenen Kindern etwas zustossen könnte. Nachvollziehen können wir das Verhalten der anderen also durchaus. Wenn überhaupt etwas an dem Film unglaubwürdig ist, dann die Schnelligkeit, in der die Stimmung umkippt und alle Zweifel ausgeräumt sind. Immerhin kommt so auch keine Langeweile auf. Teilweise meint man sogar, in einem Thriller zu sitzen und wartet geradezu darauf, dass es zu einer wirklichen Menschenjagd kommt, Fackeln und Scheiterhaufen inklusive.

Dass Die Jagd derart intensiv geworden ist, verdankt Vinterberg aber auch seinem Hauptdarsteller: Mads Mikkelsen – den meisten als Bond-Gegenspieler Le Chiffe in Casino Royale bekannt – brilliert als Mann, der vom beliebten Dorfmitglied zum Aussenseiter und später sogar zum Gehetzten wird und ebenso verzweifelt wie wütend dagegen ankämpft. Und so lässt uns der Film nach zwei Stunden ebenso ohnmächtig und ratlos wie seine Hauptfigur zurück und wir können gar nicht anders, als uns zu fragen: Wer muss hier eigentlich vor wem geschützt werden? Aber eben auch: Hätte ich wirklich anders reagiert, wenn es um mein Kind ginge?

Oliver Armknecht
film-rezensionen.de

Die Jagd

Dänemark

2012

-

115 min.

Regie: Thomas Vinterberg

Drehbuch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm

Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp

Produktion: Thomas Vinterberg, Morten Kaufmann, Sisse Graum Jørgensen

Musik: Bent Fabricius-Bjerre, Jeppe Kaas

Kamera: Charlotte Bruus Christensen

Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 4.0) Lizenz.