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Die Karabinieri

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Die Karabinieri Durch! Rücksichtslos!

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Kultur

Der Film "Die Karabinieri", der nach seinem Start auch heftige Proteste auslöste, dekliniert den Krieg und seine Bedingungen und Voraussetzungen auf ein einfaches Mass zurück.

Jean-Luc Godard in Berkeley, 1968.
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Jean-Luc Godard in Berkeley, 1968. Foto: Gary Stevens (CC-BY 2.0 cropped)

Datum 5. Juni 2024
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Lesezeit7 min.
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„In dealing with war, I followed
a very simple rule. I assumed I
had to explain to children not
only what war is, but what all
wars have been from the
barbarian invasions to Korean
and Algeria, by way of Fontenoy,
Trafalgar, and Gettysburg.”
(Jean-Luc Godard)

Irgendwo eine karge Landschaft. Als ob hier einmal Industrieanlagen standen, die längst abgeräumt worden sind, während der Boden von Gras überwuchert wurde. In ebenso kargen Bretterverschlägen leben Michelangelo (Albert Juross), Ulysses (Marino Masé), Venus (Geneviève Galéa) und Cleopatra (Catherine Ribeiro). Eines Tages erscheinen zwei Karabinieri (Jean Brassat, Gérard Poirot) und überbringen den beiden Männern einen Brief vom König. Sie sollen dem Vaterland dienen und in den Krieg ziehen. Und Ulysses und Michelangelo fragen, was sie davon hätten. Und sie erhalten die Antwort: alles. Sie könnten haben, was sie wollten, sich nehmen, was sie finden: Frauen, Kinos, Apotheken, ganze U-Bahn-Stationen, Füllhalter – „Alles gehört euch”, antworten die Karabinieri. Sie könnten dem Feind alles wegnehmen. Sie könnten mit dem Feind alles machen, was sie wollten. Niemand würde deswegen bestraft. Die beiden Frauen sind begeistert, die Männer auch. Und als wenn sie zum Einkaufen gehen wollten, schreiben die Frauen auf einen Zettel, was die Männer ihnen aus dem Krieg mitbringen sollen.

Und so ziehen Michelangelo und Ulysses in den Krieg.

„Ich komme mit der Zeit immer
mehr zur Einfachheit. Ich gebrauche
die abgegriffenen Metaphern. Im
Grunde ist es das, was ewig ist.
Die Sterne sehen aus wie Augen,
zum Beispiel, oder der Tod ist
wie der Schlaf.”
(Borges)

Innerhalb weniger Minuten gelingt es Godard auf eine gewollt naive und simple Weise, die Bedingungen für die Herstellung von Front und Heimatfront zu schaffen. Durch die Einblendung von Auszügen aus den Briefen, die die beiden Männer den Frauen aus dem Krieg schreiben, wird der Kontext von Front und Heimatfront hergestellt. Mit weisser Schreibschrift auf schwarzem Grund, vorgelesen von einer Stimme aus dem Off, berichten die beiden von ihren Taten zum Wohle des Vaterlandes. Godard montiert zusätzlich in den Film Szenen aus realen Kriegen, u.a. aus dem zweiten Weltkrieg. Und Michelangelo und Ulysses ziehen von Land zu Land, nach Italien, Mexiko, Nordschlesien, Spanien. Die Bezüge zum zweiten Weltkrieg sind dabei zwar am stärksten, etwa wenn die Männer in der Legion Condor kämpfen, doch der Film handelt streng genommen nicht von einem, sondern von allen modernen Kriegen.

Godard zeigte Tausende von Leichen, Zerstörung, Erschiessungen. Vor allem aber zeigt er zwei Männer, durch die nur ein Gedanke strömt: sich zu nehmen, was man will, was man findet, koste es was es wolle, vor allem das Leben der Feinde. Sie terrorisieren eine Frau, nehmen an Massenerschiessungen teil, berichten den Frauen in Briefen von den Gräueltaten, die sie begehen:

„Unser Weg ist von Blutspuren
und Toten gesäumt. Wir grüssen
Euch ganz herzlich.”

„Es gibt keinen Sieg, nur Fahnen
und Männer, die fallen.”

Zwischen Toten, Verstümmelten und brennenden Häusern gehen sie ihren Weg, als ob sie auf Reisen wären, um Andenken, Postkarten und Erinnerungen mit nach Hause zu bringen.

Der Krieg wird – in einer vordergründig absurden Weise – zur Lebenswelt, zur Lebensweise, das Töten zu einer nicht nur alltäglichen, sondern geradezu natürlichen Verhaltensweise, das nur einem Zweck dient: zu nehmen, was man will und bekommt. Diese vordergründige Absurdität der Inszenierung wird besonders in zwei Szenen deutlich. Irgendwo im Wald nehmen Michelangelo, Ulysses und einige andere Soldaten zwei Kommunisten fest. Während die Frau Lenin zitiert, der von den Kapitalisten als Ungeziefer spricht, das als solches zu behandeln sei, wollen die Soldaten sie erschiessen. Doch sie erzählt eine Geschichte von Majakowski; die Soldaten hören zu, bis zum Ende, und erschiessen sie dann. Gerade diese Szene ist – wie der Film ansonsten auch – von einer gerade primitiven, gnadenlosen Gefühllosigkeit geprägt, die in ihrem Ausmass an Absurdität grenzt.

Noch absurder wirkt ein Kinogang der beiden Soldaten in Mexiko. In dem Film, der dort gezeigt wird, zieht sich eine Frau aus zum Baden. Michelangelo steht auf, glotzt auf die Szenerie, geht zur Leinwand und macht Anstalten, in das Bild zu springen. Dabei zerreisst er die Leinwand. Realität und Fiktion verschwimmen. Krieg und kriegen sind nicht nur identisch geworden; in der Szene erreicht diese Identität ein abstruses Mass, weil in den Gedanken es selbst möglich zu werden scheint, Fiktionales als Reales zu besitzen. Und als die beiden aus dem Krieg heimkehren – der König musste kapitulieren –, bringen sie nichts als einen Koffer voll von Postkarten mit. Sie können den Frauen nur noch zeigen, wo sie waren, gliedern die Karten nach Themen (Geschichte in Epochen, Transportmittel, Naturwunder, die grossen Kaufhäuser, die Säugetiere usw.).

Die Lüge wird immer offenbar. Nichts haben sie mitgebracht, was ihnen versprochen war. Und trotzdem erkennen sie nicht, welchen Weg sie gegangen sind. Die Postkarten sind in diesem Kontext ebensolche Lügen. Denn sie berichten nicht vom Krieg, sondern von den schönen Dingen des Lebens. Godard kontrastiert diese minutenlange Postkartenszene später mit Szenen aus dem Bürgerkrieg (gemeint sind hier die Kämpfe zwischen Rechten und Linken nach 1918), der „Dolchstosslegende”, den Plünderungen nach dem ersten Weltkrieg usw.

Der Film, der nach seinem Start auch heftige Proteste auslöste, dekliniert den Krieg und seine Bedingungen und Voraussetzungen auf ein einfaches Mass zurück. Die Absurdität, die dies erzeugt, ist jedoch „nur” die Absurdität des Krieges selbst – jedes Krieges. Die Herausnahme jeglicher Emotionen – sei es nun Hass auf den Feind, sei es Mitgefühl, sei es ein schlechtes Gewissen wegen der Taten, die man als Soldat begangen hat, sei es die Gefühllosigkeit gegenüber den „Feinden” – aus der Handlung reduziert den Krieg auf das, was er wirklich ist: Mord und Massenmord um welcher Zwecke auch immer. Selbst die Kommunistin, die erschossen wird, stirbt ohne Regung, Lenins Satz vom „Ungeziefer” im Kopf. Da kommt die Frage gar nicht erst auf, ob es gerechte und ungerechte Kriege gebe, ob man für etwas „Gutes” schiesst usw. Der Krieg wird seiner Moral entkleidet, mit dem ihn alle Ideologien ummanteln, die sich in jeder Hinsicht als Unmoral erweist, erweisen muss.

„Trotz allem
ein schöner Sommer.”

heisst es in einer Postkarte, die die Männer nach Hause schreiben. Das erinnert mich an die von Ernst Klee offengelegten Kontext zwischen soldatischer Mentalität, Front und Heimatfront im zweiten Weltkrieg (siehe z.B. sein Buch: „Schöne Zeiten”: Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt am Main 1988). Die z.B. an Massenerschiessungen im Baltikum beteiligten deutschen Soldaten schrieben genau solche Postkarten nach Hause: Wir freuen uns auf Weihnachten mit der Familie. Der Krieg dekliniert die Verhältnisse neu: Das eigene Heim, die eigene Heimat, das eigene Land werden zum vermeintlichen Hort alles Guten, Edlen, während alles andere als Mittel zum Zweck deklariert wird. Der „Feind” wird zur beweglichen Sache, mit der man anstellen kann, was man will. Die „Fremde” wird zur Funktion der „Heimat”. Die „verbrannte Erde” und der Völkermord sind die scheinbar letzten „Rettungsanker”, um es auch dabei zu belassen: dass der Feind eben eine bewegliche Sache ist, die man zur Not destruieren muss, um seine Ziele zu erreichen.

Und immer noch suchen die beiden Soldaten nach den Reichtümern, die ihnen versprochen waren – auch nach dem Krieg. Sie geraten an einen der Karabinieri, der sie in den Krieg gelockt hatte. Und finden den Tod als Kriegsverbrecher. Die Logik dieses Schlussakkords ist die Logik des Krieges. Denn auch die Soldaten, die – geblendet von Versprechungen und ideologisiert – gegen den Feind gezogen waren, waren eben nur das berühmt-berüchtigte, ideologisch aufgeladene Kanonenfutter, das nun nichts mehr taugt.

Godard lässt seine Schauspieler in einer kindlich-naiven Weise agieren, die allerdings eben im Kontext des Films zu einem todbringenden Verhalten führt. Das Erschreckende dieser Darstellung kommt auf diese Weise noch deutlicher zum Vorschein.

Ulrich Behrens

Die Karabinieri

Frankreich

1963

-

85 min.

Regie: Jean-Luc Godard

Drehbuch: Jean-Luc Godard, Jean Gruault, Beniamino Joppolo, Roberto Rossellini

Darsteller: Albert Juross, Marino Masé, Catherine Ribeiro

Produktion: Jean-Jacques Fabre

Musik: Philippe Arthuys

Kamera: Raoul Coutard

Schnitt: Agnès Guillemot, Lila Lakshmanan