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Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

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Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer Das private ist politisch

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Kultur

Hatten bis in die 1950er-Jahre hinein die SP und Gewerkschaften die Schweizerische Arbeiter:innenkultur geführt, verloren diese Institutionen mehr und mehr an Bedeutung.

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Datum 29. August 2024
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Die Werktätigen wurden unterteilt in «Einheimische» und «Migrant:innen». Heute spricht niemand mehr von der «Arbeiterklasse». Und der Begriff «Arbeiter» ist zum Synonym von «Ausländer» geworden.

Regisseur Samir erzählt einmal mehr auf unterhaltsame Weise mithilfe von Animationen, Musik-Clips, Zeitzeug:innen, privaten Familienfotos und unbekanntem Archivmaterial die Geschichte der Migration aus den südlichen Nachbarländern in die Schweiz, von der Nachkriegszeit bis heute.

Wundersam

Die sozialdemokratische Partei und Gewerkschaften prägten für über 100 Jahre eine solidarische Schweizer Arbeiter:innenkultur. Dennoch waren sie es, die in den 60er Jahren gegen ein Abkommen mit Italien intervenierten, das die soziale Situation der italienischen Migrant:innen in der Schweiz verbessern sollte.

Mittlerweile hat sich eine rassistische Haltung in der Gesellschaft etabliert, mit der wir auch in der Gegenwart konfrontiert sind. Heute gibt es keine «Arbeiter» mehr. Arbeiter:in heisst heute «Ausländer». Heute wird der Begriff «Arbeiter» von fast niemandem mehr benutzt. Aber wenn jemand «Ausländer:in» sagt, meint er meist jemand der harte Arbeit macht. Kann es sein, dass ihr Ursprung in den fremdenfeindlichen Strömungen der Gewerkschaften liegt?

Verwandlung

Vom 2. Weltkrieg unversehrt profitierte die Schweiz vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die fehlenden Arbeitskräfte werden im Ausland angeworben. Sie tragen einen Grossteil zur Verwandlung der Schweiz in eine der wohlhabendsten Industrienationen bei.

Um die soziale Situation der italienischen Migrant:innen zu verbessern, wurde das sogenannte «Saisonnier-Statut» ausgehandelt. Aufgrund der Verhandlungen mit Italien wurde den Migrantinnen einige Verbessungen im «Saisonnier-Statut» gewährt. Doch grundlegenden Forderungen, wie der um Familiennachzug, kam die Schweiz nur widerwillig entgegen.

Arbeiterklasse

Ab Anfang der 60er Jahre kommt fast eine Million migrantischer Arbeitskräfte aus Italien. In ihrer Heimat von Armut bedroht, suchen sie in der Schweiz Arbeit und eine gesicherte Zukunft. Aber getrennt von ihren Familien, leben die meisten unter menschenunwürdigen Verhältnissen in Baracken oder kleinen Kämmerchen.

Das Verbot die Kinder in die Schweiz mitzunehmen, führte zu tausendfachen Tragödien. Die sogenannten «Schrankkinder» wurden von ihren Eltern vor der Fremdenpolizei versteckt. Auch ihnen und ihren Eltern will dieser Film eine Stimme geben.

Ausländer

Ende der 60er Jahre lanciert der bürgerliche Politiker James Schwarzenbach eine Initiative. Seine Forderung: Mehr als die Hälfte der sogenannten «Gastarbeiter» soll ausgewiesen werden. Zwar lehnten die Schweizer Stimmbürger (Frauen hatten noch kein Stimmrecht!) die Initiative knapp ab. Doch der Rassismus war in der Mitte der Gesellschaft angekommen und dieser Schock hat in den Biografien der Migrant:innen bis heute Spuren hinterlassen.

Seither gab es unzählige Abstimmungen zur Migrationsfrage und die gesetzlichen Bestimmungen wurden jedes Jahr verschärft. Dies im Gegensatz zum realen Leben in der Schweiz, welches durch die Diversität der Migration weltoffener geworden ist.

Stand der Dinge

Über 40% der Schweizer Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Und 25% der Menschen die hier leben, haben keine bürgerlichen Rechte, dürfen sich in der Politik nicht einbringen und die Gesellschaft nicht mitgestalten, in die sie hineingeboren wurden. Und das, obwohl die Mehrheit der Migrant*innen schon über Jahrzehnte hier leben, arbeiten und Steuern bezahlen. Deswegen unterstützen wir mit diesem Film auch die Demokratie-Initiative 4/4 für eine erleichterte Einbürgerung. In den letzten 40 Jahren hat sich diesbezüglich nicht viel geändert und es wird immer noch unterschieden zwischen «Ausländer:innen» und Schweizer:innen. Wir leben in einer Zweiklassengesellschaft und bewegen uns immer mehr in Richtung stiller Apartheid.

Relevanz

Im neuen Projekt greift Samir die Ereignisse der 60er und 70er Jahre auf, beleuchtet die Hintergründe dieses historischen Prozesses, der heute noch erschreckend aktuell ist und uns als Bürger:innen beschäftigen. Daraus ergibt sich die hohe gesellschaftliche Relevanz seines neuen Filmes.

Persönlicher Bezug

In seinen Dokumentarfilmen «Babylon 2», «Forget Baghdad» und «Iraqi Odyssey» hat er bereits bewiesen, wie er Aspekte seiner persönlichen Geschichte geschickt in einen historischen Kontext stellen kann.

Diese Filme haben eine grosse gesellschaftliche Relevanz und sind in der Aufarbeitung ihrer Themen nach wie vor gültig und zeitlos. An diese Tradition wollen wir mit «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» anknüpfen.

Warum dieser Film? Anmerkung des Regisseurs.

Als Kind der 68er-Generation habe ich stets aktiv an gesellschaftlichen Ereignissen teilgenommen. In meinen Dokumentarfilmen beschäftige ich mich daher mit der Frage, ob und wie ich mein persönliches Erleben und meine politische Reflexion in die künstlerische Arbeit integrieren kann. Der Ausgangspunkt für diesen Dokumentarfilm ist der bekannte 68er-Leitsatz: «Das Private ist politisch».

Das private ist politisch

Bereits 1992 versuchte ich in BABYLON 2 mithilfe von persönlichen Beobachtungen zu zeigen, wie junge migrantischen Menschen in der Schweiz eine eigenständige neue Kultur entwickeln. Der Film prägte und etablierte den Begriff «Secondos».

In FORGET BAGHDAD (2002) habe ich durch die Suche nach ehemaligen jüdischen Genossen meines irakischen Vaters den Nahost-Konflikt thematisiert.Und mit IRAQI ODYSSEY (2015) erzählte ich die Geschichte meiner irakischen Familie, die sich durch die britische Kolonisation, endlose Kriege und imperiale Interventionen gezwungen sah, zu fliehen und sich über die ganze Welt verstreute. Dabei zeigte sich, wie tief sich politische Ereignisse in die private Geschichte einer Familie einbrennen.

In "Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer" wollte ich meine Lebenszeit als Migrant in der Schweiz nicht nur als persönliches Resumé gestalten. Wichtig war mir die Aufarbeitung der Schweizerischen Arbeiter-Bewegung - deren Teil ich mal war - und diese in all ihren Widersprüchen darzustellen. Ich bin selbst einer von vielen Zeitzeugen bedeutender historischer Ereignisse und gehöre zu den migrantischen Arbeitskräften, welche die Infrastruktur und Kultur der Schweiz in den letzten 70 Jahren grundlegend verändert haben. Die Recherchen zeigten, dass die Ursprünge der xenophoben Politik in der faschistischen Bewegung der 20er und 30er Jahre liegen. Der Film nimmt dezidiert die Sichtweise der sogenannten «Gastarbeiter» ein, welche den roten Faden der Narration bildet.

Hommage

Nicht zuletzt ist der Film auch eine Hommage an alle meine Vorgängerinnen und Vorgänger aus dem Schweizer Filmschaffen. Ich durfte viele Ausschnitte aus ihren zum Teil unbekannten oder vergessen gegangenen Arbeiten benutzen. Durch ihr scharfes Auge konnte ich die damaligen Verhältnisse aufzeigen und in den aktuellen Kontext einordnen. Ich stehe auf ihren Schultern und möchte ihnen mit diesem Film meine Reverenz erweisen.

Für die Jugend

Ein weiterer persönlicher Antrieb für diesen Film ist meine Tochter und ihre Generation der 20-Jährigen. Obwohl sie durch den Klimastreik und antirassistische Bewegungen politisiert wurde, wusste sie kaum etwas über die jüngere politische Geschichte der Schweiz. In der Schule wurden die Schwarzenbach-Jahre nicht behandelt, und als wir durch den Gotthard-Tunnel fuhren, war ihr nicht bewusst, dass hunderte italienische Arbeiter bei dessen Bau verletzt oder getötet wurden. Ihr war auch die fortlaufende Segregation der migrantischen Bevölkerung durch immer schärfere Gesetze nicht bewusst. Sogar dass Auberginen, Zucchinis und Pasta erst seit kurzem zur Schweizer Küche zählen, wusste sie nicht.

Genug Gründe dieser jungen Generation die Geschichte des Kulturtransfers durch Migration und deren politische und historische Hintergründe zu erzählen.

pm

Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

Schweiz

2024

-

129min.

Regie: Samir