Fritz Lang, der Spieler, der erste Spieler der Filmgeschichte, der in diesem Mammutwerk des Stummfilms eine relativ einfache Geschichte erzählt, die aber dennoch über die ganze Länge des Films hin nicht zu langweilen vermag, weil Lang den dramatischen Spannungsbogen immer wieder durch tragische Momente, stilistisch sichere Erzählmomente und nicht zuletzt durch fein gezeichnete Charaktere zu halten vermag. Und nicht zuletzt vermeidet Lang störende Subplots. Alles ist auf die Person des unheimlichen Mabuse konzentriert bzw. auf den Versuch, diesen Mann zu finden, seine Identität zu ermitteln und ihm den Garaus zu machen.
Inspiriert durch einen in einer Berliner Zeitung veröffentlichten Fortsetzungsroman von Norbert Jacques schuf Lang mit diesem ersten Mabuse-Film, der 2001 in einem aufwändigen Verfahren auf Basis mehrerer noch vorhandener Filmkopien restauriert und mit neuer Musik bestückt wurde, im wahrsten Sinn des Wortes einen Meilenstein der Filmgeschichte – Vorbild für viele Filme seit seiner Entstehung. Aber nicht nur das. Der Film rekurriert in einer schier unglaublichen Weise auf die damalige Zeit nach dem ersten Weltkrieg – auf die Zerrissenheit eines Landes, das einen von ihm angezettelten Krieg verloren hatte, das durch den Versailler Vertrag unter harte finanzielle Bedingungen gestellt worden war und in dem vor allem die restaurativen, reaktionären und nationalistischen Kräfte daran gingen, ihre Vormachtstellung, die sie im Kaiserreich inne gehabt hatten, zu erneuern.
Die Bildung explizit faschistischer Gruppierungen, die ohne Umschweife gegen jede Form von Demokratie polemisierten und in der Beamtenschaft, im Militär zahlreiche Anhänger hatten, verschärfte nicht nur die sozialen und politischen Gegensätze – auch verursacht durch das Erstarken einer kommunistischen Bewegung. Die Nachkriegsarmut auf der einen Seite und das Kriegsgewinnlertum auf der anderen (so hatte etwa Krupp im ersten Weltkrieg auch Waffen an die verfeindeten Länder geliefert) machten es den ersten demokratischen Parteien nicht gerade leicht, diese erste deutsche Demokratie auf den Weg zu bringen.
Mabuse – das ist auch der Scharlatan, der Verführer, der Trickbetrüger im grossen Massstab, der Blender, der psychologisch geschulte Manipulator, der deutlich formuliert, worum es ihm geht: Menschen und ihre Schicksale zu beherrschen, zu beeinflussen, als Werkzeug zu benutzen. Es mag sein, dass Lang mit diesem ersten Mabuse-Film den Anstreicher aus Braunau noch nicht im Visier hatte – wie auch, wenn Hitler zu diesem Zeitpunkt noch ein nicht sehr bekannter Politiker war. Doch das Gespür für den Volksverführer, der alle Register der Manipulation zieht, um seinen Allmachtsphantasien zum Durchbruch zu verhelfen und vor Mord nicht zurückschreckt, ist über die gesamte Handlung hin deutlich – geboren aus der Zerrissenheit eines Landes, die auch Zukunftsängste und Aggressionen hervorrief und damit Scharlatanen aller Art Tür und Tor öffnete.
Schon in dem Eingangsakt des Films demonstriert der als Psychoanalytiker tätige Dr. Mabuse seine Manipulationsfähigkeiten. Er lässt durch einen seiner Gehilfen einen geheimen Handelsvertrag zwischen der Schweiz und den Niederlanden stehlen. Er weiss, dass das dessen Veröffentlichung zu einer internationalen Börsenkrise führen würde. Und Mabuse nutzt die fallenden Kurse, um Aktien spottbillig zu kaufen, um sie nach dem von ihm initiierten Wiederauftauchen des Vertrags – als die Kurse wieder zu steigen beginnen – teuer zu verkaufen. Durch einige ältere blinde Männer lässt er an einem geheimen Ort falsche Dollarnoten drucken – in rauen Mengen.
Im zweiten Akt sehen wir Mabuse – der in allerlei mögliche Rollen schlüpft, um nicht erkannt zu werden – als Falschspieler an den Spieltischen der reichen Leute in Casinos, Bars usw. Vor allem den jungen reichen Hull hat er im Visier. Und Mabuse demonstriert erneut, wie er durch Gewalt, vornehmlich durch seine Helfershelfer ausgeübt, Verkleidung und Hypnose seiner Opfer – er verschafft ihnen Kopfschmerzen und lässt sie zumindest kurzzeitig zu seinem Werkzeug werden – an das Geld anderer Leute gerät. Hull verliert ein Vermögen an Mabuse, der sich als Balling ausgibt. Und Hull weiss nicht, dass die Tänzern Cara Carozza, in die er verliebt ist, ebenfalls ein Werkzeug Mabuses ist. So gerät Hull an den ermittelnden Staatsanwalt von Wenck, der Hull von der Suche nach einem unbekannten Falschspieler informiert und Hull überredet, ihm bei der Suche zu helfen.
Im folgenden beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mabuse hier und vor allem von Wenck dort. Auf der Strecke bleiben etliche Opfer des bösen Spielers, der alle Schwächen und Fehler seiner Gegenspieler ausnutzt.
Dabei sind vor allem die persönlichen Verwicklungen der Agierenden wichtig für den Verlauf der Handlung:
- die Liebe von Hull zu Cara, die ihm zum Verhängnis wird;
- die bedingungslose, aber völlig sinnlose Liebe Caras zu Mabuse, der nichts von ihr wissen will, sie lediglich als Werkzeug seiner Absichten betrachtet;
- die verhängnisvollen Lebensumstände der Gräfin Told, die einer Klasse angehört, in der man sich entweder nur noch langweilt – wie sie – oder dem Wahnsinn verfällt wie ihr Mann, der schwache Graf Told;
- die unverbrüchliche Absicht von Wencks, den zunächst unbekannten und gesichtslosen Verbrecher, der die Stadt mit seinen Machenschaften überzieht, zu fangen und kalt zu stellen;
- und der Willen Mabuses, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen – wenn nötig auch durch Ermordung seiner Gegner.
„Es gibt keine Liebe,–
es gibt nur Begehren!–
Es gibt kein Glück,–
es gibt nur Willen zur Macht!.”
In dieser Äusserung Mabuses kommt nicht nur dessen Mentalität zum Ausdruck. Das Zitat geht zurück auf keinen geringeren als Friedrich Nietzsche (wenn auch nicht wörtlich). Und mit dieser Mentalität und der Charakteristik des Dr. Mabuse zieht Lang eine deutliche Linie zu dem, was in der Weimarer Republik sich bereits ankündigt: die Angriffe auf die erste deutsche Demokratie aus einem Konglomerat von nazistischer Ideologie und ihren Trägern und den alten, abgewirtschafteten, aber nichtsdestotrotz sich in Machtpositionen befindenden Klassen (Adel, Grossgrundbesitzer, teilweise auch Industrie, Beamte usw.). Mabuse steht nicht unbedingt für den späterer „Führer”; aber er steht für einen Typus von Mensch, der durch seine Allmachtsphantasien andere von sich abhängig machen will. Man weiss, wie Hitler in stundenlangen Übungen die Massenmanipulation geübt hat, um Massenhysterie, aber in geordneten Bahnen im Sinne des Führerkults („Führer befiehl, wir folgen”), zu erzeugen und die Instrumentalisierung von Massen zu bewerkstelligen. Dies alles ist bereits in der Figur des Mabuse angelegt.
Rudolf Klein-Rogge spielt diesen Mabuse als einen wahren Verkleidungskünstler mit finsterer Miene und stechendem Blick. Gerade diese Verkleidungen symbolisieren bereits im Ansatz das „Versteckspiel” zwischen Realität und Ideologie, d.h. die Überformung der Realität durch eine Ideologie, so dass die Realität auf die Ziele dieser Ideologie zugeschnitten wird – was natürlich auch andererseits einen Verlust an Realität und Realitätssinn mit sich bringt und bringen muss: Was in das ideologische Korsett nicht hineinpasst, wird geleugnet.
In der oben zitierten Äusserung Mabuses werden die beiden unsere Welt durchziehenden „Prinzipien” mehr als deutlich: Liebe und Glück hier, rücksichtloses Begehren und Macht dort. Selbst Mabuses vehementester Antipode, Staatsanwalt von Wenck, gerät kurzfristig in den Bann des Verbrechers.
Und selbst das Ende Mabuses nimmt das Ende aller Diktatoren der realen Welt so konkret voraus, wie es kaum ein anderer Film vor diesem darstellen konnte: Der Wahnsinn übermannt Mabuses und macht ihn machtlos. Das Ende ist voraussehbar wie bei jeder Diktatur. Aber genauso deutlich wird, wie viele Opfer bis dahin zu beklagen sind.
„Dr. Mabuse, der Spieler” war nicht der einzige Film, in dem die Nachkriegsatmosphäre im Deutschland der 20er Jahre in der beschriebenen Weise eingefangen wurde. Zu nennen sind hier sicherlich noch „Nosferatu” und „Das Kabinett des Dr. Caligari”. Und später griff Lang die Thematik zwei weitere Male auf in den Filmen „Das Testament des Dr. Mabuse” (1933) und „Die tausend Augen des Dr. Mabuse” (1960). Die Strategie von Terror und Destabilisierung, die die alten restaurativen und reaktionären Kräfte gegen die Weimarer Republik verfolgten, äusserte sich noch während der Dreharbeiten bzw. kurz danach in der Ermordung der beiden Politiker Matthias Erzberger und Walter Rathenau. Und wenige Jahre zuvor waren die beiden kommunistischen Politiker Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von rechtsradikalen Mördern getötet worden. Insgesamt zählte man seit 1919 376 politische Morde, die eben auch zur Destabilisierung der jungen Demokratie im Werden massgeblich beitrugen und eine Grundlage für das Aufkommen faschistischer Gruppierungen bildeten.
Diese düstere soziale und politische Atmosphäre fängt der Film Fritz Langs in dunklen, düsteren, angstvollen Bildern auf erschreckende Weise ein.
In einem 30 Minuten langen Special auf der Blu-ray werden diese und andere Zusammenhänge, u.a. auch durch Ausschnitte aus einem Interview mit Fritz Lang aus den 60er Jahren, erläutert. Ein weiteres Feature beschäftigt sich mit der neu dem Film beigegebenen Musik (12 Min.) und in einem dritten Feature wird den Spuren des literarischen Erfinders Mabuses, Norbert Jacques nachgegangen (9,5 Min.). Eine Fotogalerie, Produktionsnotizen und Biografien ergänzen das Zusatzmaterial auf der DVD, die im übrigen auch Teil einer drei Filme umfassenden Fritz-Lang-Collection ist (darin enthalten sind auch die restaurierten Filme „Spione” und „Frau im Mond”).