Ein Mann und eine Frau Ein langer Augenblick der Zartheit
Kultur
„Ein Mann und eine Frau“ reduziert die romantische Beziehung zwischen zwei Menschen auf das wesentliche, abstrahiert völlig von den Unterfütterungen der romantischen Komödie respektive der romantischen Tragödie, wie wir sie alle zur Genüge kennen.
Mehr Artikel
13. September 2024
1
0
4 min.
Drucken
Korrektur
„Ein Mann und eine Frau“ reduziert die romantische Beziehung zwischen zwei Menschen auf das wesentliche, abstrahiert völlig von den „Zutaten“ und Beigaben, den Unterfütterungen der romantischen Komödie respektive der romantischen Tragödie, wie wir sie alle zur Genüge kennen. Anne (Anouk Aimée) ist irgendeine Frau, Jean-Louis (Jean-Louis Trintignant) irgendein Mann, beide haben ein Kind, Anne ihre Tochter Françoise (Souad Amidou), Jean-Louis seinen Sohn Antoine (Antoine Sire), die beide zufällig das gleiche Internat besuchen. Bei einem Besuch der Kinder verpasst Anne den Zug zurück nach Paris, und die Rektorin bittet Jean-Louis, Anne in seinem Auto mitzunehmen.
Es regnet in Strömen, es ist dunkel. Anne und Jean-Louis sitzen zunächst schweigend nebeneinander. Beide waren verheiratet, beider Ehegatten sind tot. Anne erzählt von ihrem Mann, Pierre (Pierre Barouh), einem Sensationsdarsteller beim Film, der bei Drehaufnahmen durch eine Explosion ums Leben kam. Jean-Louis erzählt, er habe einen Beruf, der sehr viel Geld einbringe. Lelouch zeigt in Rückblenden Ausschnitte aus dem Leben der beiden Paare, das, was sie sich gerade erzählen. Diese Rückblenden sind in grellen Farben, vor allem Gelb- und Rottönen gedreht und wirken wie Urlaubsaufnahmen. Jean-Louis ist Test- und Rennfahrer. Lelouch zeigt mehrmals in langen Einstellungen Bilder von Testfahrten und von Autorennen in Monte Carlo; sie wiederum wirken wie Sportberichte und sind meist in Schwarz-Weiss gehalten.
Jean-Louis möchte Anne wiedersehen, Anne, diese geheimnisvolle Frau, die etwas zu verbergen scheint. Aber auch Jean-Louis erzählt erst viel später, dass seine Frau Valérie (Valérie Lagrange) nach einem schweren Renn-Unfall von Jean-Louis einen derart gravierenden Nervenzusammenbruch erlitten hatte, dass sie Selbstmord beging.
Die beiden gehen mit den Kindern essen, unternehmen lange Strandspaziergänge, lieben sich das erste Mal in einem Hotelzimmer – bis Anne sich von Jean-Louis zurückzieht. Sie liebt ihren Mann noch immer, sagt sie. Und Jean-Louis schliesst daraus, ihr Mann würde noch leben.
Liebeslieder von Baden Powell, der berühmt gewordene Titelsong von Francis Lai – fern jeglicher Rührseligkeit – begleiten diesen 100 Minuten dauernden Augenblick der Nähe, der zeitweiligen Distanz und des Happyends, unterbrochen nur von den Rückblenden und den Rennszenen. Die Umgebung, in der sich Anne und Jean-Louis bewegen, ist trist, kühl, selbst die Spaziergänge am Meer wirken in den Farben des Films eher matt, das einzige was glänzt, sind die Augen Annes und Jean-Louis Blick, das Lächeln, das sie sich zuwerfen. Vorsichtig, behutsam kommen sich beide näher, eine Handbewegung, ein kurzer Blick, ein Lächeln, eine Geste.
In der Schlusseinstellung umkreist die Kamera – von Lelouch zumeist selbst geführt – die sich Umarmenden auf einem Bahnhof in Paris. Es ist diese Ankunft, dieses Ankommen, sie mit dem Zug und er mit dem Auto, ihr nachfahrend, um sie abzuholen und auf ihrer beider Liebe zu insistieren, diese Absage an die Nekrophilie, die den entscheidenden und völlig überzeugenden Schlusspunkt dieser langen Momentaufnahme setzt.
Lelouch ist im wahrsten Sinn des Wortes anti-modern, wenn man dies auf den gängigen Liebesfilm und die damit verbreiteten Klischees bezieht. „Un homme et une femme“ enthält keine Klischees und ist doch romantischer als jede Hollywood-Romanze. Den Film beherrscht eine unproblematische Schwerelosigkeit, ein gut 100 Minuten dauerndes angenehmes Gefühl, und trotzdem ist er nicht problemlos. Lelouch schafft sozusagen Urformen von Mann und Frau, Archetypen, in denen jeder Betrachter ein bisschen sich selbst wiederfinden kann, ohne nicht zugleich zwei konkrete Menschen, eben Anne und Jean-Louis, zu zeigen, die sich einem konkreten Augenblick in einer konkreten Umgebung hingeben.
Wir haben uns mehr oder weniger alle an eine bestimmte Form der romantischen Komödie oder Tragödie gewöhnt, das heisst vor allem an ihre unrealistischen, verträumten und zum Teil albernen Zutaten, und vor allem an ihre immer wieder reproduzierten Handlungsstränge. Aus diesem Grund ist ein in dieser Hinsicht schnörkelloser Film wie „Ein Mann und eine Frau“ ungewohnt, gewöhnungsbedürftig. Man muss sich auf ihn einlassen können, in ihn eintauchen können, um seine Widersprüche und Kontraste, seine Zartheit und seine Romantik empfinden, um den Augenblick geniessen zu können.
Ein Mann und eine Frau
Frankreich
1966
-102 min.
Regie: Claude Lelouch
Drehbuch: Claude Lelouch, Pierre Uytterhoeven
Darsteller: Anouk Aimée, Jean-Louis Trintignant, Pierre Barouh
Produktion: Claude Lelouch
Musik: Francis Lai, Baden Powell de Aquino
Kamera: Jean Collomb
Schnitt: Claude Barrois, Claude Lelouch