UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Einer flog über das Kuckucksnest

5689

Einer flog über das Kuckucksnest Normaler Wahnsinn und wahnsinnige Normalität

film-677583-70

Kultur

In seinem Meisterwerk „Amadeus“ zeigte Miloš Forman 1984 zwei völlig unterschiedliche Menschen: den egozentrischen, selbstverliebten, verbissenen und gerissenen Salieri hier, den lebenslustigen, jeglicher Konvention gegenüber zweifelnden Mozart.

Drehbuchautor Bo Goldman mit Produzent Michael Douglas am Set von «Einer flog über das Kuckucksnest».
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Drehbuchautor Bo Goldman mit Produzent Michael Douglas am Set von «Einer flog über das Kuckucksnest». Foto: Maryemark (PD)

Datum 3. Oktober 2019
2
0
Lesezeit10 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Auf beiden Seiten stellte sich Wahnsinn ein: auf seiten Salieris der Wahnsinn der Anmassung, auf seiten Mozarts der des musikalischen Genies. Würde man beide Charaktere als Repräsentanten sozialer Mechanismen verstehen, könnte man vom Gegensatz von Macht und Phantasie, produktivem Chaos und lebloser Ordnung sprechen. F. Murray Abrahams Salieri und Tom Hulces Amadeus allerdings bezogen sich aufeinander, mussten sich aufeinander beziehen, ob sie es wollten oder nicht. Denn sie waren gewissermassen beide Produkte einer ständischen Gesellschaft. Ihr Handeln und Denken gruppierte sich um die gleichen Dinge, vollzog sich in ein und demselben Machtgefüge der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Angst vor der Revolution und die Sehnsucht nach Neuem (hier der Musik Mozarts) trieb den (Reform-)Kaiser Joseph II. mal auf die Seite Salieris, mal auf die des Komponisten.

Man könnte dies auch als eine Art personelle wie soziale Auseinandersetzung zwischen Individualität und Zwang, Subjektivität und Ordnung begreifen, Gegensätze, die Forman bereits früher zum Inhalt eines inzwischen als Klassiker geltenden filmischen Meisterwerks gemacht hatte, der Geschichte von McMurphy in „Einer flog über's Kuckucksnest“. Die Verhältnisse zwischen dem nach Freiheit dürstenden Individuum und der vorgegebenen Ordnung sind in beiden Filmen zwar unterschiedlich ausgeprägt, aber doch vergleichbar.

Inhalt

„Unzucht“ lautet der Vorwurf, der den eigensinnigen und lebhaften, wortgewandten und intelligenten Randle Patrick McMurphy (Jack Nicholson) in eine psychiatrische Anstalt bringt, in der er auf seinen „Geisteszustand“ untersucht werden soll. Irgendwie hat er es geschafft, hierher statt ins Gefängnis zu kommen. McMurphy hatte Sex mit einer Minderjährigen; er behauptet, dies nicht gewusst zu haben. Das Mädchen habe ausgesehen wie 18. Zudem wurde McMurphy „unehrenhaft“ aus der Armee entlassen, war in etliche Schlägereien verwickelt und des öfteren alkoholisiert.

Der Leiter der Anstalt Dr. Spivey (Dean R. Brooks) bekommt McMurphys intelligente und extrem emotional bestimmte Mentalität als erster zu spüren. Er ist ihm intellektuell kaum gewachsen. McMurphy wird in eine Abteilung mit „leichten“ und „schweren“ Fällen verlegt, die von der unnahbaren Schwester Mildred Ratched (Louise Fletcher in einer grandios-erschreckenden Rolle) geleitet wird. Einen ersten Eindruck von Ratched erhält McMurphy in einer der täglichen Gruppensitzungen, in der Patient Harding (William Redfield) erzählen soll, warum er gegen seine Frau den Verdacht des sexuellen Betrugs hegt. Andere Patienten können die Geschichte schon nicht mehr hören, vor allem Taber (Christopher Lloyd) nicht, der sich Harding gegenüber aggressiv verhält. Ratched dagegen ist nicht aus der Ruhe zu bringen.

Wir treffen auf andere Patienten, den ständig grinsenden Martini (Danny DeVito), Bancini (Josip Elic), der des öfteren angeschnallt zu sehen ist, Cheswick (Sydney Lassick), der nicht verstehen kann, warum ihm Schwester Ratched die Zigaretten weggenommen hat und deshalb ausser sich gerät, den schweigenden und in sich gekehrten vollbärtigen Scanlon (Delos V. Smith Jr.), den jungen stotternden Billy Bibbit (Brad Dourif), der McMurphy sehr sympathisch findet, und last but not least Häuptling Bromden (Will Sampson), der taubstumm sein soll.

McMurphy ist von Anfang an darauf aus, sich nicht in den penibel von Ratched vorgegebenen und streng überwachten Tagesablauf zu integrieren. Als er auf Chief Bromden trifft, versucht er, ihm Basketball beizubringen. Weder Patienten, noch Pfleger und Aufseher glauben, dass McMurphy irgendeine Chance hat, den Chief zu irgend etwas zu bewegen. Sie irren sich gewaltig. Doch McMurphy will mehr. Er mischt sich in das Kartenspiel der anderen ein und beginnt, Wetten abzuschliessen. Zahlungsmittel sind Zigaretten. Und das ist Grund genug für Ratched, die Zigaretten zu konfiszieren und zu rationieren.

McMurphy will durchsetzen, den Tagesablauf zu ändern. Er schlägt vor, abends ein Basketballspiel im Fernsehen anzuschauen. Aber die Mehrheit der Gruppe stimmt aus Angst vor Ratched und möglichen Repressalien nicht für ihn.

Schliesslich fährt McMurphy schwerere Geschütze auf: Er bringt sich in den Besitz des Busses der Anstalt und fährt mit einigen der Patienten ans Meer, nimmt sich dort ein Boot und gibt gegenüber dem Bootsverleiher an, er und die anderen seien Ärzte. Die Patienten fahren hinaus und angeln, während McMurphy mit einer „alten Bekannten“, Candy (Mews Small), in der Kajüte Sex haben will.

McMurphy ist fest entschlossen, Ratched als Verkörperung der unmenschlichen Bedingungen in der Anstalt zu entthronen und mit Chief Bromden zu flüchten. Die Situation spitzt sich zu, als McMurphy Schwester Ratcheds Ordnung endgültig zerstören will, indem er Candy und eine weitere „alte Bekannte“, Rose (Louisa Moritz), samt Alkohol zu einem nächtlichen Fest auf die Station holt ...

Inszenierung

Wer definiert, was „normal“ ist? Wer dies definiert, hat Definitionsmacht. Wer Definitionsmacht besitzt, hat allgemein Macht. Wer Macht hat, muss die Möglichkeiten haben, sie auch durchzusetzen. Diese Möglichkeiten werden nicht nur durch den Besitz von Geld und die Kontrolle über Gewalt(apparate) bestimmt, sondern auch durch die Definition dessen, was Gesellschaft ist, wie sie zu funktionieren hat und wie sie (angeblich) auf keinen Fall funktionieren kann. Die Katze beisst sich scheinbar in den Schwanz. Aber Macht ist nicht so sehr die Gewaltausübung einer herrschenden Klasse, Kaste oder Nomenklatura gegenüber anderen, die keine Macht haben (also ein strikt „linearer“ Kausalzusammenhang), sondern eher das Zentrum, um das sich eine Gesellschaft gruppiert (Foucault), in der Ohnmacht und Widerstand nur die andere Seite der Medaille der Macht darstellen („zirkulärer“ oder netzwerkartiger Kontext von Macht).

Eine schwierige Gesellschaft, in der wir leben, zumal sich die Frage stellt, ob es in einer Demokratie Diktatur geben kann. Definitionsmässig ist dies ausgeschlossen, und alles, was möglicherweise danach riecht – nach Diktatur, Fremdbestimmung, Unterdrückung –, wird strukturell als „besonderes Gewaltverhältnis“ definiert, dem eine demokratische Bestimmung zugesprochen wird: Gefängnissen, Gewaltapparaten wie Polizei und Militär – und psychiatrischen Anstalten.

Gerade hier, in einer geschlossenen Abteilung, aber auch, wie der Film zeigt, unter Bedingungen, in denen einige Patienten „freiwillig“ sich einer Behandlung unterziehen, überkreuzen sich die Parameter von Freiheit und Demokratie hier, Zwang und Diktatur dort in manchmal kaum auflösbarer Weise. Die Grenzen scheinen zu verschwimmen.

McMurphy ist von Anfang an – trotz des Eingesperrtseins – ein freier Mann. Das klingt paradox. Aber seine Freiheit ist die des Geistes, der Seele, des Charakters, die keine noch so gesicherte Anstalt zerstören kann – es sei denn durch physische respektive psychische Zerstörung. Schwester Ratched begreift die Gefährlichkeit McMurphys sehr schnell. McMurphy ist kein Maschinenstürmer, sondern eine „strukturelle“ Gefahr. Er unternimmt alles, um in die Zwangsanstalt, in der mit Elektroschocks, psychischer Indoktrination über das vermeintlich „Richtige“, „Normale“ gearbeitet wird, etwas hinein zu bringen, was die Ordnung nach Ansicht ihrer Vertreter zerstören würde: Vitalität, Phantasie, Lebenslust. Die Busfahrt, das Basketballspiel, Kartenspielen, Feste feiern, Meisterschaften im Basketball im Fernsehen anschauen, Billy Bibbit mit einer Frau zusammenbringen – all das sind unter „normalen“ Bedingungen ausserhalb der Anstalt „normale“ Lebensäusserungen. In der Anstalt bedrohen sie die Ordnung, die Ziele der Behandlung usw.

Billy Bibbit stottert. Ratched ist mit seiner Mutter befreundet, einer – wie zu vermuten ist – Übermutter, einer herrschsüchtigen Frau, und Ratched erfüllt in der Psychiatrie gegenüber Billy die gleiche Funktion. So wird er nie aufhören zu stottern. McMurphy spürt dies genau und er sperrt Billy mit Candy in einen Raum, damit er mit ihr schläft. Danach stottert Billy nicht mehr.

Auch Chief Bromden, der Taubstumme, der Verweigerer, ist dem rauen, dauernd an Alkohol und Frauen denkenden McMurphy ans Herz gewachsen. Er bringt den Chief nicht nur zum Sprechen; er zeigt ihm mit einfachsten Mitteln, wieder ins Leben zurückzufinden. McMurphy muntert die Patienten der Station auf. Als er dem Bootsverleiher gegenüber sich und die anderen als Dr. Martini, Dr. Cheswick usw. vorstellt, dient dies nicht nur dazu, sich gegenüber dem skeptischen Bootsverleiher Respekt zu verschaffen. Er stellt seine Mitpatienten sozusagen auf eine angemessene, auf eine menschliche Stufe.

Doch McMurphys Verhalten, Denken und Fühlen ist nicht die eines Revolutionärs, er ist kein Held, keine Lichtgestalt, kein widerspruchsloser Fahnenträger des Umsturzes. McMurphy schwankt zwischen der Sehnsucht, dieser Anstalt nach Kanada zu entkommen und der tief empfundenen Solidarität mit dem Schicksal der anderen. Mehrmals hat er die Möglichkeit zu fliehen – und bleibt. Damit wird er quasi zum Anti-Revolutionär, und zwar in dem Sinn, dass er nicht eine „andere“ Welt gegen die bestehende setzt, sondern auf tragische Weise erkennen muss, dass es nur eine, nämlich diese Welt gibt, in der sich etwas verändert oder eben nicht. McMurphy kalkuliert mit dem Tod, auch seinem eigenen. Der Chief hat dies ebenfalls erkannt und handelt dementsprechend.

Auf der anderen Seite steht Schwester Ratched als Sinnbild, ja geradezu Ausgeburt des Asexuellen, des Lustlosen in einem weiten Sinne, des Unerotischen, der Macht einer Vernunft und eines Verstandes, die den Tod ebenfalls einkalkuliert: den der anderen. Ratched ist ein Mensch, den man als Menschenschnitzer bezeichnen könnte. Sie hat einen Plan, der prinzipiell nicht hinterfragt werden darf, also als Ausdruck von „Normalität“ gilt. Dieser Plan ist bis in die letzten Winkel des Lebens der Insassen ausgetüftelt und beherrscht ihren Tagesablauf wie ihre „Heilung“. Hier wird die Psychologie zur Menschenschnitzerei, zur Produktion von Menschen, die sich der Normalität à la Ratched und dem System, das sie repräsentiert, völlig zu unterwerfen haben. Die Herrschaft eines eiskalten Verstandes, einer alles Vitale tötenden Vernunft ist zu allem bereit.

Hat McMurphy – haben McMurphys eine Chance gegen dieses System? Was sich innerhalb der Anstalt abspielt, ist nicht so weit von dem entfernt, was ausserhalb stattfindet, wie man vielleicht glauben mag. Das „Innen“ ist nur eine zugespitzte Form des „Aussen“, auch wenn die Chancen ausserhalb vielleicht grösser erscheinen oder sein mögen, die Brutalität zu bekämpfen. In dem, was in der Anstalt passiert, drückt sich allerdings noch ein anderes Problem aus: Wie geht man mit denen um, die für nicht-normal erklärt werden? Wie gehen sie mit uns um und welche Schlussfolgerungen wären daraus zu ziehen. Gegenüber dem Chief und Billy Bibbit zeigt Forman über McMurphy deutlich, was getan werden kann. Bei anderen ist dies schwieriger.

In McMurphys Verhalten den beiden gegenüber drückt sich allerdings schon etwas aus, was im Kern der Lösung des Problems nahe kommt: Er verhält sich gegenüber beiden wie zu allen anderen Menschen draussen auch. Für McMurphy sind die anderen auf der Station, soweit sie jedenfalls zur Kommunikation fähig sind (einige sind es nicht oder auf eine Weise, die schwer zugänglich ist), zu allererst Menschen wie er, Candy, Rose, wer auch immer, nicht Insassen einer psychiatrischen Anstalt.

Fazit

Forman besetzte seinen Film mit exzellenten Haupt- wie Nebendarstellern. Nicholson, Fletcher, Dourif, Redfield, Sampson, Lassick und DeVito wären als erste zu nennen. Die Inszenierung hält sich streng an die Regeln des Dramas, an Einheitlichkeit von Ort, Zeit und Handlung. „Einer flog über's Kuckucksnest“ ist, wie beschrieben, auch eine Art Zustandsbeschreibung, vielleicht gemünzt auf die amerikanische Gesellschaft, aber sicherlich darüber hinaus aussagekräftig und vor allem noch immer aktuell. Ein Klassiker, der immer wieder begeistert und erschreckt, vor allem natürlich durch Nicholsons Leistung, durch den bissigen Humor und die sozusagen bis an den Wahnsinn gehende Inszenierung.

Ulrich Behrens

Einer flog über das Kuckucksnest

USA

1975

-

133 min.

Regie: Miloš Forman

Drehbuch: Bo Goldman, Lawrence Hauben

Darsteller: Jack Nicholson, Louise Fletcher, Brad Dourif

Produktion: Michael Douglas, Saul Zaentz

Musik: Jack Nitzsche

Kamera: Haskell Wexler, Bill Butler

Schnitt: Sheldon Kahn, Lynzee Klingman, Richard Chew