Die Anti-Anti-Helden der Gegenseite
Auf der anderen Seite spielt Arturo Román, den Chefs der Gelddruckerei durch alle Staffeln hindurch eine kontinuierliche Rolle. Seine Charakterzüge werden als derart übertrieben abstossend gezeichnet, dass den Zuschauenden zurecht ein Spiegel vor Augen gehalten wird. Im Grunde genommen ist er weniger Geisel der Bankräuber*innen, sondern jene der entwürdigenden Gesellschaftsform. Anstatt ansatzweise gegen sie aufzubegehren, trägt er sie um seines eigenen Vorteils willen mit und inszeniert sich dazu als Opfer. Schliesslich schreckt er nach dem Überleben des ersten Überfalls Ende der zweiten Staffel noch nicht einmal davor zurück, das Erlebte zu verkaufen, indem er ein Buch darüber schreibt und sich als narzisstischer Coach betätigt. Von seinem egoistischen, verschlagenen, überzogen opportunistischen und verantwortungslosen Verhalten, soll das Publikum zurecht angewidert sein.Der Angriff auf den staatlichen Kapitalismus
Der letzte Punkt, der Haus des Geldes zu einer anarchistischen Erzählung macht, betrifft die Ziele des Raubes: Notendruckerei und Nationalbank. Beides sind zentrale Steuerungsinstitutionen des staatlichen Kapitalismus. Das heisst, hierbei wird auf die Verschränkung von Staat und Kapitalismus als Facetten einer spezifischen Herrschaftsordnung hingewiesen, die anzugreifen aus vielerlei Gründen legitim ist. Mit dem Widerstand gegen sie werden keine einzelnen Personen geschädigt – im Gegenteil dieser ganz im Sinne – bzw. auch im Klasseninteresse – des Grossteils der Bevölkerung, welche durch Rezension, Inflation, Arbeitszwang, Mieterhöhung und Austeritätspolitik gebeutelt ist.Was dort an Geld gedruckt und an Gold geschmolzen wird, ist öffentliches Eigentum, dass von den Produzierenden enteignet wurde. Und wenn man – in Anbetracht der nationalen Goldreserven - an die Kolonialgeschichte denkt handelt es sich dabei nicht allein um europäischen Reichtum, sondern um gestohlene Güter und weltweite Ausbeutung. Daher erscheint ihr Raub nur in erster Linie als Akt individueller Rebellion und Kriminalität.
Tatsächlich verstehen zahlreiche Menschen, dass mit dieser Aneignung gesellschaftliche Gerechtigkeit wiederhergestellt werden soll. Die randständigen anarchoiden Gestalten wollen mit dem Raub ihren ausweglosen Lagen entfliegen. Sie setzen lieber ihre eigenen Leben auf's Spiel, um ein neues Leben in Würde zu beginnen, statt sich in das alte als Opfer hinein zu fügen. Doch im Zuge dessen – und während sie sich in Aktion, aufeinander bezogen, selbst verändern – fällt ihr individuelles Freiheitsstreben mit gesamtgesellschaftlicher Befreiung zusammen. Diese Aufregung kann kein linkes Parteiprogramm der Welt bieten.
Ähnlich wie die nationalen Goldreserven letztendlich eine Illusion von finanzökonomischer Sicherheit bieten (worauf der allerletzte Teil des umfassenden Planes in den letzten beiden Folgen von Staffel 5 baut), hat auch Freiheit keine essentielle Grundlage. Auch wenn Lebensgestaltung nach Massstab der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung auf materiellen Grundlagen beruht – die es deswegen allen zur Verfügung zu stellen gilt – beinhaltet Freiheit im anarchistischen Sinne stets auch, ein Wagnis einzugehen und sie sich zu nehmen.
Deswegen bietet der Professor in der Szene, die über Leben und Tod der umzingelten Gangster entscheidet, dem Einsatzleiter Tamayo einen Win-win-Deal an: Der Staat erhält seinen Goldschatz und damit die Illusion zurück, auf welchen sich seine Macht gründet. Im Gegenzug wird der Traum und die Sehnsucht genährt, dass es etwas ganz anderes, ein Leben in Freiheit, geben könnte. Daher bleiben sie Räuber*innen, statt Politiker*innen zu werden.
Schlussfolgerungen
Kritisch lässt sich selbstverständlich einwenden, dass in Haus des Geldes letztendlich sogar das Bedürfnis nach Rebellion kommerziell ausgeschlachtet und verkitscht idealisiert wird. Auch von der brutalen, viral gegangenen, südkoreanischen Produktion „Squid Games“ wird behauptet sie sei Kapitalismus-kritisch. Ob die „Kritik“ hier wie dort wirklich auf die gesellschaftlichen Grundlagen zielt oder nur ihre Oberflächenerscheinungen betrifft, ist jedoch durchaus zu hinterfragen. Dabei verstehen die Zuschauenden, dass das Verschanzen in einer staatlichen Notendruckerei oder einer Nationalbank für sie aus verschiedenen Gründen absolut undurchführbar ist.Doch das ist gar nicht der Punkt, sondern jener, inwiefern die fantastische Erzählung den Zuschauenden Möglichkeiten zur Reflexion (z.B. über ihre Klassenposition), eine Artikulation ihrer Gefühle (z.B. Klassenhass) und Ansatzpunkte zur Veränderung ihres eigenen Handelns (z.B. die Versammlung in Affinitätsgruppen) bietet. Darüber wären weitere Diskussion zu führen.
Die Romantisierung des Raubes und der Delinquenz generell gibt den Rahmen für guten Erzählstoff ab. Dieser ist für die allermeisten Personen, die sich von diesem Genre begeistern lassen, aber nicht deswegen faszinierend, weil sie selbst Räuber*innen werden wollen würden. Ähnlich wie in Krimis kaum wirklich Polizeiarbeit abgebildet wird, lässt sich aus Haus des Geldes kein Handwerkszeug ableiten, dass für Raubzüge gleich welcher Art wirklich von Nutzen wäre. Für den überwiegenden Teil der Kriminellen ist ihr Gewerbe wohl ein äusserst prekäre Erwerbsmöglichkeit, verbunden mit einem hohen Mass an Abhängigkeit und Berufsrisiken.
Eine wichtige Funktion erfüllt die Romantik dann, wenn sie Sehnsüchte anspricht – und damit bewusst macht –, die in uns als Verdrängtes eingeschrieben sind. Zum Beispiel solche nach aufregenden Abenteuern mit einer Gang, nach der Flucht vor der Lohnarbeit bei gleichzeitiger materieller Absicherung oder dem Angriff auf einen übermächtigen Gegner, um unsere Würde wieder zu erlangen. Problematisch ist die Romantik, wenn sie bei lediglich bei der fantastischen Projektion verbleibt, der wir uns kurzzeitig hingeben, um uns dann wieder ohnmächtig zu fühlen und unsere Träume als „utopisch“ abzustempeln. Auch dies sind Aspekte, die sich diskutieren, nicht aber messen lassen.
Schliesslich zeichnet Haus des Geldes noch einen wesentlicher Aspekt aus, der zeitgenössischen linksradikalen und insbesondere anarchistischen Szenen weitgehend fehlt. Und zwar das strategische Handeln, wie es im ausgefuchsten Plan des Professors zum Ausdruck kommt. Nur manche der Aktivist*innen wissen um die Details der Strategie mit ihren verschiedenen Operationen, die eventuell in bestimmten Fällen durchzuführen sind, um auf das grosse Ziel hin zu arbeiten.
Darauf zu vertrauen, dass es einen grösseren und hochgradig komplizierten Plan gibt, ermöglicht es den Beteiligten erst, trotz ihrer Unterschiedlichkeit und Konflikte als Team zu agieren und die Motivation aufzubringen, enorme Belastungen auszuhalten und in Extremsituationen nicht durchzudrehen. Spontaneität und Planung sind dabei keineswegs Gegensätze, sondern bedingen einander sogar. Um strategisch zu denken und zu handeln, braucht es allerdings keine super schlauen, sozial wunderlichen und genialen „Professoren“ im Hintergrund. Völlig genügen würde es, wenn denkende und reflektierte Menschen mit einiger Erfahrung ihr Selbstbild als „kritische Intellektuelle“ endlich aufgeben und sich als Teil einer kämpfenden Bewegung verstehen würden.