Der Kapitalismus hinterliess nicht nur mit seinen Kriegen Leichenberge, auch die Arbeiter*innen in den Metropolen und später zunehmend die Menschen im globalen Süden waren die Opfer dieses Systems. Es zeugt auch von einer politischen Regression, dass eine Autorin, die so ignorant gegenüber der Verbrechensgeschichte des Kapitalismus ist, sogar noch als irgendwie kritisch und links gelabelt wird. Da ist es wichtig zu wissen, dass es überall auf der Welt noch Menschen gibt, die nichts Positives am Kapitalismus erkennen wollen und die auch nicht wie Herrmann eine kapitalistische Kriegswirtschaft nach dem Vorbild Grossbritanniens im 2. Weltkrieg als Lösungsmodell vorschlagen.
Am 27. Oktober ist der Dokumentarfilm Rise Up in vielen Kinos angelaufen, der 5 dieser Menschen, die sich nicht mit den Verhältnissen versöhnt haben, zu Wort kommen lässt. Die südafrikanische Aktivistin Shahida Issel, der afroamerikanische Stadtteilaktivist und Gewerkschaftler Kali Akuno, die linke DDR-Oppositionelle Judith Braband, die Chilenin Camila Cáceres und die Frankfurterin Marlene Sonntag, die sich an den Kämpfen in Rojava beteiligt, sind für die Filmemacherinnen und Filmemacher Hoffnungsträger. Individuen statt Gesellschaft
Sie stehen für „die Verwandlung von normalen Menschen zu grossen Held*innen vom einzelnen Aufbegehren zur grossen Revolte, von einer blossen Idee zum historischen Fortschritt“, wie es auf der Homepage von Rise Up etwas pathetisch formuliert wird. Tatsächlich ist die Herangehensweise selber auch dem neoliberalen Kapitalismus geschuldet, der zunehmend statt einer Gesellschaft nur noch Individuen kennt. Die Erzählung von den Held*innen des Alltag gehört auch längst schon zur Software des modernen Kapitalismus. Das Filmkollektiv Left Vision, das vor Rise Up mit dem Dokumentarfilm Hamburger Gitter einen Rückblick auf den Widerstand gegen G20-Gipfel in der Hansestadt 2017 und die Staatsgewalt produzierte, hingegen will mit ihren Film Mut machen, den Kapitalismus zu widerstehen und das in einer Zeit, in der die neoliberale Konterrevolution in den letzten 30 Jahren widerständiges proletarisches Milieu zerstört und viele subkulturelle Freiraumkonzepte in den Kapitalismus kooptiert hat. Menschen, die mit den Folgen dieser Konterrevolution konfrontiert, wie im Film gut dokumentiert wird.
Kampf um Gesellschaftlichkeit
Ihr Ausbrechen aus dem Alltagstrott, ihr Engagement für Veränderung ist auch ein Kampf um die Wiedergewinnung der Gesellschaftlichkeit, in einer Welt, in der uns ständig und überall eingetrichtert wird, so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, nur das Individuum, das sich möglichst gut verkaufen soll. Die Zerstörung der Gesellschaftlichkeit ist natürlich in den verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich ausgeprägt. Das wird besonders eindringlich bei Shahida Issel, die mit Begeisterung beschreibt, wie sie in ihrer Jugend Teil einer gesellschaftlichen Kraft wurde, die das System der Apartheid ins Wanken brachte.Wir sehen die begeisterten Massen als Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen werden musste. Doch heute wissen wir, dass damals der Niedergang der Bewegung begann. Bald richtete sich der ANC an den Schalthebeln der Macht ein und viele ihrer Vertreter*innen nutzten die politischen Utopien, die einst mit der Organisation verbunden war, nur noch für Sonntagsreden, während sie sogar auf streikende Minenarbeiter*innen schiessen lassen. Issel hingegen gehört zu den vielen Basisaktivist*innen, die die Utopie nicht vergessen hat. Die Kooptierung von einst wiederständigen Bewegungen durch den Kapitalismus ist eine Erfahrung, die fast alle der Protagonist*innen im Filmen machen mussten.
Kali Akuno, der sich auf die Organisierung im Stadtteil und am Arbeitsplatz konzentriert ebenso wie Jutta Braband. Schliesslich war sie bis 1979 Mitglied der SED in der DDR, die aus der Geschichte der linken Arbeiter*innenbewegung kommend zur autoritären Machtpartei wurde, die Braband und viele andere linke Aktivist*innen mit Gefängnis bestrafte, weil sie an den alten linken Idealen festgehalten hat. Mit Begeisterung spricht Braband vom linken Aufbruch im Herbst 1989, der in der Grossdemonstration am 4. November 1989 seinen Höhepunkt fand. Dort wurde eine sozialistische DDR und keine Wiedervereinigung mit der kapitalistischen BRD gefordert, erinnert Braband an die Geschichte, die heute auch viele der damaligen Protagonist*innen nicht mehr Wahrhaben wollen. Im Nachhinein bedauert sie, dass die linken Oppositionellen damals nicht die Machtfrage gestellt haben. Da bleiben natürlich viele Fragen offen.
Das gilt natürlich auch für die Feministin Camila Cáceres, die sich in den letzten Jahren im sozialen Aufbruch in Chile politisiert hat. Wir sehen, wie die massive Repression der chilenischen Staatsapparate die Bewegung nicht brechen konnte. Nun bleibt zu hoffen, dass auch die Niederlage beim Referendum über eine progressive Verfassung in Chile die soziale Bewegung nicht bremsen kann. Die Abstimmung fand erst nach Abschluss des Films statt. Zur Niederlage hat auch die Kooptierung mancher ehemaliger Linker beigetragen, die sich nicht am Referendum beteiligten oder gegen die neue Verfassung stimmten, weil sie angeblich zu radikal war. Die Frage der Kooptierung ehemaliger linker Kräfte in den modernisierten Kapitalismus wird sich auch in Rojava stellen, wo die linken Kräfte schon viele Kompromisse machen mussten, um überhaupt überleben zu können. Die Frage, wo es sich um ein schlaues Lavieren in widrigen Verhältnissen handelt und wo die Abkehr von emanzipativen Grundpositionen beginnt, begleitet die linke Bewegung schon lange.