UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Wintermärchen

5373

Wintermärchen Sex und Hass und Ausländer erschiessen

film-677583-70

Kultur

Der Regisseur Jan Bonny traut sich mit seinem Nazi-Thriller „Wintermärchen“ etwas, allein deshalb ist der Film zu loben. Ganz unproblematisch ist das Ganze aber nicht.

Thomas Schubert, hier am Österreichischen Filmpreis 2012 in den Rosenhügel-Filmstudios in Wien, spielt im Film „Wintermärchen“ den Nazi Tommi.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Thomas Schubert, hier am Österreichischen Filmpreis 2012 in den Rosenhügel-Filmstudios in Wien, spielt im Film „Wintermärchen“ den Nazi Tommi. Foto: Manfred Werner - Tsui (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 4. April 2019
1
0
Lesezeit5 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Zunächst orientiert sich „Wintermärchen“ (der Titel ist nur auf den ersten Blick irreführend) vage an dem so genannten NSU und seinen Taten. In Jan Bonnys („Gegenüber“) Film ziehen zwei rechtsradikale Männer und eine Frau durch Deutschland und bringen wahllos Ausländer und zwei Polizisten um, auch die Wohnung des Trios wird von diesen abgefackelt und es gibt eine Verbindung zu einem übergeordneten Nazi-Netzwerk. Selbst diese Handlungspunkte decken sich aber im Detail nicht mit den tatsächlichen Vorgängen, die Protagonisten heissen auch nicht 2x Uwe und Beate, sondern Tommi (Thomas Schubert), Maik (Jean-Luc Bubert) und Becky (Ricarda Seifried) und sind von den realen Personen auch physiognomisch verschieden.

Der Film interessiert sich allerdings auch nicht weiter für die Mordgeschichte an sich, sondern zeichnet das Innenleben einer Dreierbeziehung, die von gegenseitiger emotionaler und sexueller Abhängigkeit gekennzeichnet ist.

Der Film ist praktisch über die gesamte Spielzeit abstossend, was ein seltenes Kinoerlebnis mit sich bringt: Ihn zu schauen ist unangenehm bis zur Grenze des Erträglichen. Bonny setzt dabei voll auf hässliches Deutschtum. „Wintermärchen“ sieht aus wie ein gut gemachtes Homevideo, das Bild wackelt und wirkt grösstenteils unbearbeitet – wenn die drei weglaufen müssen, rennt auch der Kameramann, bis alles vollkommen verwackelt ist. So entsteht eine quasi-dokumentarische Atmosphäre, die das Treiben der Nazis hautnah zeigt. Bei immerzu grauem Himmel.

Der mit dem Leben, seinen sexuellen Wünschen und seiner Abhängigkeit zu Freundin Becky völlig überforderte Tommi wird von seiner „Freundin“, die sich ihrer Verfügungsgewalt über ihn bewusst ist, gewissermassen als emotionaler Sklave gehalten. Sie lässt sich von ihm ficken (ein besseres Wort für das, was sie da treiben, gibt es nicht), dann weist sie ihn rüde ab, aber hauptsächlich beschimpft sie ihn als Idiot, er kassiert auch regelmässig Schläge und andere kaum erträgliche Demütigungen.

In diese „Beziehung“ platzt bald der exaltierte und selbstbewusste dritte Nazi Maik, den Becky zwar ebenfalls als „Idiot“ bezeichnet, mit dem sie aber mehr oder minder vor Tommis Augen Sexorgien treibt. Früh wird deutlich, dass Tommi Maik nicht nur anhimmelt, sondern auch sexuell begehrt. In einer Szene masturbiert er, wie ein Süchtiger an Maiks gebrauchter Unterhose schnüffelnd.

Das Verhältnis der drei wird immer roher, Becky immer aggressiver und depressiver, zwischendurch werden Ausländer ermordet und Supermärkte ausgeraubt. Gewalt und gegenseitige Demütigungen nehmen auch in der Dreiecksbeziehung weiter zu.

Als das Zusammenleben für alle drei unerträglich geworden ist, vollzieht der Film eine erstaunliche Wendung. Die beiden Männer, die zuvor von der Frau, die die sexuelle Abhängigkeit der Männer ausnutzt, dominiert wurden, emanzipieren sich von ihr, schmeissen sie aus der gemeinsamen Wohnung und auf ihre Aufforderung hin, dann könnten sie sich ja künftig „gegenseitig in den Arsch ficken“, vollziehen genau das. Auch hier lässt Regisseur Bonny nichts aus, der homosexuelle Sex der beiden wird ausführlich gezeigt.

Diese Emanzipation ist so unwahrscheinlich wie interessant, denn die Suche nach Liebe kann hier nur dadurch zum Erfolg führen, dass man sich von den besonders in Nazi-Kreisen geläufigen Konventionen löst, gleichsam eine Grenze übertritt und selbst zur (eben homosexuellen) Minderheit wird. Noch wichtiger dabei ist aber die Überwindung der Abhängigkeit. Ohne die Frau wird das Verhältnis der beiden Männer zärtlich, kooperativ und freundschaftlich. In der Grenzüberschreitung finden sie gewissermassen den Ausweg aus der Depression und schliesslich wird Becky, die ins elterliche Wohnhaus geflohen ist, wieder „zurückgeholt“. Sie arrangiert sich mit der Homosexualität der Männer, wird schliesslich in den Sex einbezogen. In der folgenden Dreier-Sexszene wirken alle drei Protagonisten zum ersten Mal im Film gelöst, fröhlich und glücklich.

Dabei bleibt der Film aber zu indifferent, und die verzweifelte Suche nach Nähe wird ohne weiteres in ein rechtsradikales Milieu verlegt. Wie selbstverständlich sind die gezeigten verrohten Monaden Nazis. Diese Zuschreibung ist aber ein Kurzschluss, denn die Vereinsamung und Vereinzelung der spätkapitalistischen Menschen ist genauso wenig automatischer Grund oder Folge von Rechtsradikalismus und Mordlust, wie die unterdrückte Homosexualität der Männer. Die monokausale Darstellung verliert die politische Motivation des NSU-Trios völlig aus dem Blick und wird der Sache daher nicht gerecht.

Was sich Bonny indes dabei gedacht hat, am Ende die Polizei den ganzen Dreck beenden und auffliegen zu lassen und damit den eigentlichen NSU-Skandal, nämlich das ignorante, selbst von rassistischen Weltbildern mitbegründete Versagen der Staatsmacht und ihrer Organe, auf den Kopf zu stellen, wird sein Geheimnis bleiben. Ein passionierter „Polizeiruf“-Regisseur kann vielleicht einfach nicht anders.

Trotzdem ist „Wintermärchen“ ein bemerkenswerter Film, der nichts auf Zuschauererwartungen gibt und es dem Publikum wahrlich schwer macht.

Man hätte kaum für möglich gehalten, dass so etwas im deutschen Kino überhaupt möglich ist.

Nicolai Hagedorn
graswurzel.net

Wintermärchen

Deutschland

2018

-

125 min.

Regie: Jan Bonny, Ricarda Seifried

Drehbuch: Jan Eichberg, Jan Bonny

Darsteller: Ricarda Seifried, Thomas Schubert, Jean-Luc Bubert

Musik: Lucas Croon

Kamera: Benjamin Loeb

Schnitt: Stefan Stabenow, Christoph Otto