Der Titel der Ausstellung sagt schon, wo der Schwerpunkt liegt: «Material und Vision». Die Vision bleibt weitgehend auf der Strecke, ins Zentrum rücken umso mehr die Werkstoffe, deren sich Giacometti bedient hat. Es sind dies Ton, Plastilin, Gips, Holz und Stein, mit denen Giacometti mit seinen Händen gearbeitet hat. Die Werke aus Bronze runden, neben einigen Gemälden, die Ausstellung ab, aber dominieren sie nicht, was eben darauf zurückzuführen ist, dass Giacometti sie Giesserei-Fachleuten zur Ausführung überliess, besonders in den späten Schaffensjahren.
75 Gipse, sorgfältig restauriert
Vor allem richtet die Ausstellung den Fokus auf die Gipse, also jene Werke, an denen der Künstler selbst gearbeitet hat, die ihm persönlich wichtig waren und die er in seinen Ateliers behielt. 75 dieser Gipse in der Ausstellung kommen aus der Alberto Giacometti Stiftung im Kunsthaus Zürich und gehen auf eine Schenkung von Bruno, Albertos Bruder, und Odette Giacometti im Jahr 2006 zurück. Sie wurden in vierjähriger Arbeit für eine halbe Million Franken restauriert, das Geld wurde von Gönnern zur Verfügung gestellt, und sind jetzt zum grossen Stolz des Kunsthauses erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich.Gipse werden im künstlerischen Prozess in einer Zwischenstufe zwischen Tonmodell und dem Guss in Bronze eingesetzt. Danach haben sie meistens ihre Funktion erfüllt. Anders bei Giacometti, der sie aufbewahrte, wenn der Guss abgeschlossen war, und an denen er, wenn sie gehärtet waren, weiterarbeitete. Das konnte auf verschiedene Weise erfolgen, zum Beispiel durch Abschaben, Glätten, Ritzen, Einkerben, auch durch Hinzufügungen, ebenso und häufig durch Bemalen, sogar «intensiv», wie in den Saaltexten nachzulesen ist, so dass man mit gutem Recht sagen kann, dass diese nachbearbeiteten Gipse als Unikate betrachtet werden können.
Nicht selten hat Giacometti auch mit Gips in freier kreativer Erfindung Figuren geformt, ohne damit ein bestimmtes weiteres Ziel zu verfolgen, in spielerischer Absicht, wie man sich vorstellen kann, aus Faszination für die entstehende Form. Die Fotografien von Ernst Scheidegger, auf denen Giacometti bei der Arbeit im Atelier zu sehen ist, sind von nicht geringer Anschauungskraft. Die so entstandenen Werke wurden im Verlauf der Zeit immer kleiner, aber sie bedeuteten dem Künstler viel. Nie hat er sie weggegeben, sondern bis zuletzt bei sich aufbewahrt, bis zum 5. Dezember 1965, als er sein letztes Atelier in Paris verliess und sich zur Behandlung ins Kantonsspital Chur begab, wo er am 11. Januar 1966 gestorben ist.
Giacomettis Arbeitsweise verstehen
Die Gipse erweisen sich also als von unverzichtbarer Bedeutung, um Giacomettis Arbeitsweise zu verstehen. Im Kunsthaus kann man zum Beispiel das Werk «Tête qui regarde» von 1928 aus der frühsurrealistischen Periode in vier verschiedenen materiellen Ausführungen betrachten: in Gips, Ton, Marmor und Bronze, die allerdings erst 1955 gegossen wurde. Ihre Ausstrahlung, ohnehin sensationell, ändert sich je nach Werkstoff.Das ist gewiss eine selten anzutreffende und wunderbare Präsentation, aber genau hier tauchen einige unvermeidliche Fragen auf. Giacomettis Material und sein Umgang damit als Hauptinteresse der Ausstellung ist für die Kunstgeschichte zweifellos von höchstem Aufschluss. Ob damit auch die Erwartungen des Publikums erfüllt werden, bleibt abzuwarten. Immerhin kann es sich in einer Auswahl von 253 Werken sattsehen. Es gibt einige wunderbare, staunenswerte Werke darunter, vor allem aus der Zeit zwischen 1925 und 1934, als Giacometti im Kreis der Surrealisten verkehrte, bevor er sich den Existenzialisten im Café de Flore anschloss.
Die Fülle hat aber auch Nachteile. Man wird gelegentlich den fürchterlichen Verdacht nicht los, in der Ausstellung immer das Gleiche zu sehen. Viele Exponate sind winzig klein und werden zwar in sinnvollen thematischen Gruppierungen präsentiert, aber in der Massierung doch so, dass sich der Eindruck einstellt, in ein Provinzmuseum geraten zu sein, wo alles heillos überladen ist, weil in den Schaukästen auch auf das letzte gehütete Stück nicht verzichtet werden sollte.
Viel «Material», wenig «Vision»
Die Werke werden im Kunsthaus thematisch beziehungsweise chronologisch gruppiert auf Tischen, Sockeln, Podesten gezeigt, frei im Raum stehend, auf Konsolen in Kabinetten und Kojen, die Giacomettis Ateliers und den Räumlichkeiten des Familiendomizils in Stampa nachempfunden sind. Besucher und Besucherinnen werden sich einen Weg durch den grossen Ausstellungssaal des Kunsthauses bahnen müssen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass bei grossem Publikumsandrang ein für die Exponate gefährliches Gedränge entsteht.Die Ausstellung verspricht, «Material» und «Vision» thematisch zu behandeln. Für das Material trifft das zu, doch die Visionen fehlen. Welche Visionen? Wenn Giacomettis Werk so eindrücklich ist, dann deshalb, weil es so viele Sichtweisen hervorruft. Die Figur im leeren Raum, im «Niemandsland», wie Jean-Paul Sartre beobachtet hat; der schwere Schritt der «hommes qui marchent», die aber wegen der Gravitation kaum voranzukommen scheinen; ihre Einsamkeit auch. Den Verantwortlichen des Kunsthauses muss zugute gehalten werden, dass ihnen aus verständlichen Gründen daran lag, das Augenmerk auf die Materialität von Giacomettis Werken zu legen. Aber dass die Dialektik des Umgangs mit den Werkstoffen soweit geführt hat, dass Anderes dabei zu kurz gekommen ist, kann man nicht ohne weiteres übersehen.
Für die Schau, die nur in Zürich zu sehen sein wird, haben das Kunsthaus und die Alberto Giacometti Stiftung eng mit der Fondation Alberto et Annette Giacometti in Paris zusammengearbeitet, wodurch Synergien entstanden sind, die zur Vertiefung des Themas beigetragen haben. Bis zum 5. Februar ist im Musée Picasso in Paris die Ausstellung «Picasso-Giacometti» zu sehen. Und noch ein Termin ist im Auge zu behalten: am 8. November wird der Grundstein gelegt für den Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich, das zu einer neuen Epoche in seiner Geschichte aufbricht.