Als erstes werden wir hier also den oft nicht ganz klaren Begriff von Graffiti definieren, bevor wir uns die Entstehung des Hip-Hop Graffiti ansehen, die Frage nach dem Besitz des öffentlichen Raumes stellen, über kommerzialisiertes Graffiti und über Pixação, den brasilianischen Bruder des Graffitis reden, anschliessend ausführlich auf die Kriminalisierung von Graffiti und schliesslich den Kunstbegriff eingehen, bevor wir auf die Entwicklung von Oldschool- hin zu modernem, deutschem, Gangsta und Drill Hip-Hop eingehen und am Ende ein Fazit ziehen, warum Graffiti für uns als Anarchist:innen so relevant ist und wie die, die sich dann dazu inspiriert sehen, Hip-Hop für sich entdecken können. Viel umfassender kann man das Thema also kaum behandeln.
Was ist Graffiti?
Ein Graffito ist erst mal nichts anderes als eine Inschrift. Hier wird oft eine Unterscheidung gemacht zwischen historischem Graffiti, das beispielsweise von den Römern gemalt wurde, und zeitgenössischen Slogans, die mit Sprühdosen geschrieben werden. Wir sehen diese Einteilung als sinnlos an, denn: auch wenn sie damals mit Hammer und Meissel oder einem Pinsel statt mit Sprühdosen und Markern gemalt wurden, stellt Graffiti seit tausenden Jahren fast die selben Dinge dar - d.h. schlecht gezeichnete Skizzen von sexuellen oder „coolen“ Motiven, vor allem aber Schriftzüge, die oft philosophisch, beleidigend, poetisch oder sexueller Natur sind, und oft Namen, die teilweise erfunden sind, beinhalten; oft aber auch scheinbar zufällige Buchstaben, Zahlen oder Striche. Ähnlich zu heutigem künstlerischen Graffiti gab es auch damals Leute, die ihre Buchstaben verformt und stilisiert hatten, sodass die Wörter z.B. die Form eines Bootes annahmen. [1]Viele gehen davon aus, dass diese Form der Mitteilung ein menschlicher Instinkt ist, und der selbe Instinkt auch hinter den Höhlenmalereien steckt. Die These lautet so: gib einem kleinen Kind einen Stift, und es wird sofort an die Wand, auf den Tisch oder auf ähnliche Orte schreiben wollen. Oft schreibt es sogar den eigenen Namen. Selbst Goethe berichtet, dass es bei ihm für junge Menschen üblich war, ihren Namen „überall“ hin zu schreiben, und dass er selbst daran Teil nahm. [2] Insofern steht Hip-Hop Graffiti also in einer Tradition, die womöglich älter ist als das Häuserbauen oder die Landwirtschaft.
Die Entstehung von Hip-Hop Graffiti
Hip-Hop Graffiti als neuste Strömung in dieser Jahrtausende alten Kunst entstand in der verarmten Bronx im New York City der späten 1960er Jahre. Wie das zerbombte Berlin hätte das Stadtviertel zu diesem Zeitpunkt ausgesehen, beschreiben Zeitzeug:innen. Und während die Erwachsenen hart arbeiteten, um das Überleben ihrer Familien möglichst lange zu gewährleisten, hatten die Kinder und Jugendlichen zu Hause Langeweile, trafen sich in den Strassen und dachten sich Spiele aus.Natürlich gab es hier eine hohe Kriminalität. Doch Graffiti entstand nicht in den Kreisen der Kleinkriminellen. Es waren einzelne Kreative und Verrückte, die anfingen, ausgedachte Namen an die Wände zu malen. Niemand hat so wirklich verstanden, was es damit auf sich hatte, bis sie es selbst ausprobiert hatten. Es war ein Spiel: wer seinen Namen an den meisten Orten geschrieben hat, gewinnt, und bekommt Respekt von den anderen Mitspieler:innen. Ab sofort hiess es, nicht mehr in der eigenen Strasse rumzuhängen, sondern möglichst viel zu laufen, durch die ganze Stadt, sich möglichst gut mit anderen zu vernetzten, auszutauschen und alles über die Stadt zu lernen, was es gibt. Es war das, was Pokémon Go immer sein wollte. Und zum ersten mal hatten die Jugendlichen etwas zu tun. Zum ersten mal bekamen sie die Aufmerksamkeit, die sie gerne gehabt hätten. Ob das legal war? Wer weiss. Die Jugendlichen hätten es nicht sagen können. Die Polizei war recht selten in ihrem Viertel und wusste es ebenfalls nicht. In den ersten Jahren wurde Graffiti geduldet. Wer heute die legendäre Dokumentation Style Wars aus 1983 ansieht, wird überrascht sein, dass die grössten Tagger [3] ihrer Zeit, die zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren jeden einzelnen Abend aktiv waren, kein Problem damit hatten, öffentlich ihr Gesicht zu zeigen und auffällige Kleidung mit sichtbaren Farbflecken zu tragen.
In wenigen Jahren wurde Graffiti dann sehr populär. Taki 183 soll dafür eine grosse Mitverantwortung getragen haben: er arbeitete als Bote und schaffte es so als erster, in allen Stadtvierteln New Yorks, also „whole city“ zu sein. Er war es auch, der 1972 den ersten New York Times Artikel zu Graffiti provozierte, der über Nacht hunderte neue Tagger rekrutierte. Das Spiel wurde komplexer: jetzt ging es nicht mehr nur um die Anzahl der Tags. Jetzt konnte man zusätzlichen Respekt an besonders gut sichtbaren, gefährlichen oder bekannten Orten erlangen. Oder mit interessanteren Schriftarten, oder Harmonie und Symmetrie zwischen den Buchstaben durch kalligraphische Theorie. Oder mit grösseren, oder ausgefüllten Tags, oder indem man mehrere Farben benutzte. Als sich die mehrfarbigen, grossen, ausgefüllten Pieces als Meisterhandwerk des Mediums durchsetzten, bekamen die Züge neue Relevanz: die Tagger brachen nachts in das damals noch unbewachte Bahnhofsgelände ein, malten ihre Pieces auf die Züge, und sahen sie wochenlang durch die gesamte Stadt fahren.
Die Regeln des Graffiti
Für diese Weiterentwicklung zu komplexen Stilen wird Graffiti allerdings auch oft kritisiert. Anstatt dass jede:r jederzeit und ohne Übung anfangen kann zu taggen, muss man sich inzwischen mit der Theorie und Technik auseinandersetzen, um nicht ausgelacht, beleidigt oder übermalt zu werden.Graffiti ist – anders als viele denken – kein Dadaismus. Es soll nicht jede:r sofort können. Es hat sich an alter Kalligraphie und modernen Idealen der Ästhetik orientiert und braucht viel Wissen und Übung, um gut zu werden. Die legendären Tagger MOSES&TAPS aus Hannover schrieben einmal in einem Interview: „Es war aufregend, als wir in den frühen 1990ern mit Graffiti anfingen, weil wir das Gefühl hatten, einen Weg gefunden zu haben, uns komplett frei auszudrücken. Aber je mehr wir die restriktiven Regeln der Gesellschaft hinter uns liessen, akzeptierten wir automatisch die Regeln des Vandalismus: ‚Du sollst so nicht malen, du solltest nicht an dieser Stelle malen, es sollte so aussehen'. Uns fiel auf, dass wir unser bourgeoises Leben nicht durch ein freies, sondern durch das Leben eines gefesselten Banditen austauschten.“ [4]
Als würde es viele nicht genug stören, dass selbst im Graffiti Regeln gelten, können hier sogar Hierarchien entstehen. Die grössten Writer der Stadt geniessen grossen Respekt in der Subkultur, die sie in einigen Aspekten natürlich auch ausnutzen können. Die Hardcore Crew THC aus Berlin liefert dafür ein gutes Beispiel: aus dem Nichts liessen sie einen viele Jahren alten Konflikt mit einer anderen Crew wieder aufflammen, bei dem diese Crew inzwischen keine Chance mehr hatte. Im Graffiti ist es seit langem gängig, solche Konflikte zu beenden, indem die Partei, die den Krieg verliert, sich mit Sprühdosen als Reparationszahlung frei kauft. Das kann man aus anarchistischer Perspektive bereits problematisch genug finden, doch THC akzeptierte das hier nicht: sie hatten einfach sehr viel Spass daran gefunden, das Lebenswerk der anderen Crew zu zerstören und wussten genau, dass diese nichts dagegen tun konnte. [5] Eine ausgelebte Machtfantasie.
Über diese Problematik muss man sich bewusst sein. Doch man muss auch klar stellen, dass die THC Crew hier eine absolute Ausnahme darstellt. Die meisten Graffiti Kings und Queens sind super entspannt und nicht auf Beef aus. Nicht zuletzt ist der Respekt ihnen gegenüber auch etwas, was man sich verdienen muss, indem man extrem aktiv, künstlerisch immer auf Verbesserung aus und auch respektvoll allen anderen gegenüber ist. Ihre Position in der Szene kann nicht vererbt werden, hält nicht ewig, macht einen nicht weniger, sondern nur mehr anfällig für Probleme mit der Polizei und bringt einem in der Regel nichts als ein gutes Gefühl. Im Leben ausserhalb der Kunstform ist sie nutzlos. Alle, die einen respektieren, machen das freiwillig, und alle, mit denen man Beef hat, haben daran auch eine Mitschuld (selbst die Aktionen von THC waren nur die Rache dafür, dass sie von dieser Crew früher selbst aus dem Nichts gecrossed wurden. Wer niemanden übermalt, muss i.d.R. nichts befürchten).
Kommen wir aber zum ersten Kritikpunkt zurück: Politisch gesehen wäre es natürlich sehr schön, eine Kunstform abseits der elitären Künstler:innenkreise zu haben, an der wirklich jede:r teilnehmen kann. Dass in der Theorie hinter den Tags gewisse Regeln herrschen, qualifiziert sie für uns aber erst als Kunstform. Natürlich muss man diese Regeln nicht 1:1 einhalten. Aber man muss sie kennen, um ein Gefühl für das Medium zu entwickeln, um dann bewusst von ihnen abweichen zu können. Es ist wie bei modernen Gedichten: jede:r Autor:in lernt genau, wie gute Reimschemas, das Metrum und Stilmittel verwendet werden – nur um dann in bestimmten Gedichten oder an bestimmten Stellen im Gedicht absichtlich damit zu brechen. Oder man vergleicht es mit Kriminalität: man muss genau wissen, was erlaubt und was verboten ist, wie man aus heiklen Situationen heraus kommt, und wie die bürgerliche Welt funktioniert, um dann bei einer Aktion erfolgreich damit davon zu kommen, all diese Regeln zu missachten.
Auch MOSES&TAPS, die sich klar von den Graffiti Regeln getrennt haben und inzwischen sehr viel kreativeren Projekten als normalen Tags und Throw-Ups nachgehen, hätten dabei keine so schönen Ergebnisse erzielt, wenn sie nicht durch Jahrzehnte langes exaktes Studieren und Einhalten der Regeln ein Gefühl für die Kunstform entwickelt hätten. So funktioniert Kunst eben, auch wenn es schade ist. Der Dadaismus gilt als gescheitert, und Graffiti ist vielleicht das nächstbeste, das wir Anarchist:innen haben. Dazu aber am Ende mehr.
Die Entstehung von Hip-Hop
Zurück in New York entwickelten sich nach einer Weile neue Spiele parallel zum Graffiti. Man konnte Spass haben und Respekt verdienen, indem man einzelne Ausschnitte aus Soul- und FunkSongs nahm und ein digitales Schlagzeug darüber spielte. Das DJing war geboren. Oder man konnte auf diese Musik eigene Texte rhythmisch sprechen, mit komplexen Reimschemas und zu Themen, die in anderer Musik nie behandelt wurden. Das MCing, in vielen Medien Rappen genannt, wurde geboren. „Musik von unten“. Oder man tanzte dazu, auf eine ganz neue Weise, bei der man alleine tanzt, oft halb auf dem Boden liegt, seine Beine schnell bewegt und zeitweise durch die Luft schwingen lässt. Das B-Boying bzw. B-Girling, in vielen Medien Breakdancen genannt, wurde geboren. Zusammen mit Graffiti bildeten diese damals nur zum Spass und nie zum Geld verdienen entwickelten Kunstrichtungen das Fundament der Hip-Hop Kultur, die wie keine andere bis zum heutigen Tag unsere Innenstädte, Musik, Fashion und andere Aspekte des alltäglichen Lebens prägt.Wer besitzt den öffentlichen Raum?
All das war natürlich nicht direkt politisch. Oder zumindest nicht absichtlich, und nicht auf den ersten Blick. Es gibt politisches Graffiti, aber gerade Hip-Hop Graffiti stellt ja keine Parolen, sondern nur den eigenen Namen dar, und ist in den seltensten Fällen mit aktivistischer Absicht verbunden. Und doch sagt es ja etwas aus: „Ich bin hier. Ich beanspruche den öffentlichen Raum für mich. Egal, ob es euch gefällt oder nicht“. Auch wenn es so nicht gedacht war, stellt jedes einzelne Tag die Frage, wer den öffentlichen Raum besitzt. So lässt sich erklären, warum gerade Vermieter:innen und die Reichen so empört über Graffiti waren. Sie sind der festen Überzeugung, dass der öffentliche Raum ihnen gehören sollte, weil sie die Gebäude, aus denen er besteht, gekauft haben. Diesen Anspruch möchten sie durchsetzen, obwohl der öffentliche Raum viel mehr ist als die Gebäude, aus denen er besteht. Auch bringt Graffiti Tatsachen ans Licht, die vielen bestimmt unangenehm sind. Es ist nämlich so:Es gibt Leute, die nichts besseres zu tun haben, als an Wände zu malen. Und es gibt Leute, die einfach glücklich damit sind, an Wände zu malen. Es gibt auch Leute, die alle Regeln und Normen in Frage stellen, und die ihr eigenes Glück über den Reichtum der Immobilienbesitzer:innen setzen. Was es weit und breit nicht gibt, ist irgendjemand, der sie stoppen könnte. All das widerspricht natürlich jeder kapitalistischen und autoritären Moralvorstellung, birgt eine tiefe Systemkritik, demütigt die Macht des Kapitals vor den Augen aller Passant:innen und könnte jede:n Passant:in inspirieren, genauso zu denken.
Vor allem ist das ja der eindeutige Beweis, dass der öffentliche Raum eben nicht denen gehört, die ihn gekauft haben. Es reicht, einfach fest daran zu glauben, dass er einem selbst gehört. Dann kann man mit ihm machen, was man will. Wer glaubt, einfach an eine Wand sprühen zu können, wird schnell herausfinden, dass es wirklich nicht unmöglich ist.
Graffiti in Galerien vs Pixação in Galerien
Dieser politische Unterton, der im Graffiti immer da ist, aber mal mehr und mal weniger genutzt wird, ist im Pixação sehr viel präsenter. Pixação ist ebenfalls eine subkulturelle Kunstrichtung, bei der ausgedachte Namen mit Sprühdosen illegal an öffentliche Wände gemalt werden. Pixação gibt es nur in São Paulo, ist aber kein lokaler Graffiti Stil, sondern hat sich von Anfang an parallel zum Graffiti entwickelt. Dementsprechend gibt es auch die Konzepte von Tag, Throw-up, Straight Letter, Piece etc. nicht, sondern nur das Pixo: alle Buchstaben werden immer einfarbig und so gross wie möglich gemalt, aber nie ausgefüllt. Auch berühren sie sich nicht gegenseitig und sehen allein von der Form und Stilisierung her in keiner Weise wie „westliches“ Graffiti aus.Während das Graffiti aus New York schon in den ersten Jahren über die Bronx hinaus treue Anhänger aus allen sozial-ökonomischen Schichten hatte, bleibt Pixação in São Paulo das Werk der absoluten Unterschicht. Wir reden hier nicht von wenig gebildeten Leuten, die in Ghettos wohnen, wie in New York. Wir reden von Analphabet:innen aus echten Slums. Leute, die nichts zu verlieren haben, und dementsprechend hohe Risiken eingehen. Mehr als nur ein paar ‚Pixadores' klettern Hochhausfassaden ohne Hilfsmittel und Sicherheitsvorkehrungen von aussen hoch, nur um ein gutes Pixo zu malen.
Während wenige Graffiti Writer die politische Variable ihres Werkes hervorheben, ist es bei den Pixadores ein ständiges Thema. In Interviews betonen sie ihre Absicht, auf sich und ihre Lage aufmerksam zu machen. Teilweise wird von einem echten Kampf zwischen arm und reich geredet. Kritik gibt es an der Politik, den Vermietern, der Gesellschaft, der Kunstindustrie.
Graffiti wurde früh kommerzialisiert. Man hat versucht, die Kunstform auf Leinwände zu bringen und auszustellen. Und obwohl dieser Versuch in seiner Idee so primitiv und paradox ist, werden bis heute besprühte Leinwände, vor allem aber Fotos von Graffiti und kreativere Arten der Präsentation ausgestellt und verkauft. Es gibt erstaunlich viele Hardcore Writer, die das sogar gut finden. Bzw. sie halten die Idee selbst für absoluten Quatsch, denken aber, dass Leute, die viel Zeit und Geld in Graffiti investiert haben, auch das Recht haben, auf Kosten dummer, reicher Kunstliebhaber:innen ein klein bisschen zurück zu bekommen.
Im Pixação stand das nie zur Debatte. Es gab schon mehrere Vorkommnisse, in denen mehrere dutzend Pixadores gemeinsam in Galerien für zeitgenössische Kunst einbrachen und alle Wände und Kunstwerke mit ihren eigenen Pixos bedeckten. Auch so kann eigene Kunst in Galerien kommen. Sie selbst nennen das ein politisches Statement, und mindestens eine Einladung zu solch einer Aktion wurde mit einem umkreisten A unterzeichnet. [6] Der anarchistische Ansatz ist also vorhanden.
Und dann gibt es da die Geschichte, wie sie damals eine Crew zu einer Kunstausstellung nach Berlin bringen wollten. Dort sollten die Pixadores neben dutzende andere Künstler:innen auf eine Leinwand malen, entschieden sich aber stattdessen dafür, auf die Leinwand hinauf zu klettern und die Hauswand dahinter zu besprühen. Ihren Kurator, der eingreifen wollte, bespritzten sie mit Farbe und wurden schliesslich festgenommen und frühzeitig nach hause geflogen. [7]
Am frühen Graffiti können wir sehr gut sehen, wie selbst so libertäre Kunstformen wie Graffiti, von denen sich früher niemand internationale Anerkennung oder Geld erhofft hatte, schnell durch den Kapitalismus korrumpiert werden können. Im Pixação hingegen sehen wir, dass man sich dagegen auch erfolgreich wehren kann. Die Pixadores haben dafür eingestanden, was sie als ihr Handwerk verstanden, und liessen es selbst für Geld nicht von aussen verändern. Bis heute sieht man kein Pixação in Kunstgalerien, der Werbung oder im Schulunterricht.
Ein Zwischenfazit für uns als Endkonsument:innen: wir sollten uns darüber bewusst sein, dass Street Art und Graffiti Galerien niemals authentisch sein können und niemals unterstützenswert sind. Wenn Ihr die Kunst sehen wollt, geht nach draussen, wo echte Künstler:innen aktiv sind. Das, was in Galerien ausgestellt wird, schadet der libertären Kultur in der Szene und ist keinen Cent Eintrittsgeld wert. Dazu, warum es sich hier weniger um Kunst handelt, kommen wir später auch noch.
Zum Glück hat man sich im Rest der Welt jedenfalls nicht nur am Kunststil, sondern auch an dem Mindset der Pixadores inspirieren lassen. Auch hier in Westeuropa ist inzwischen angekommen, wie problematisch Graffiti in Galerien ist, und Graffiti wird immer politischer. Nicht selten setzen sich grosse Crews für soziale und libertäre Ziele ein und notieren das mit Slogans neben ihren Pieces oder sogar eigenen Aktionen. Während die Bekämpfung von Graffiti, die Überwachung und die soziale Ungerechtigkeit weiter zunehmen, die Anzahl der Writer aber langsam sinkt, wird vielen Hardcore Writern erst langsam bewusst, welche Rolle sie in der Gesellschaft haben, und inwiefern sie politisch aktiv sein können und sollten.
Die Kriminalisierung
Zurück in die 60er. Inzwischen gab es keine unbemalten Züge mehr in ganz New York und die privilegierten Bürger:innen der Stadt sahen sich plötzlich selbst angegriffen vom Graffiti. Die gesamte Hip-Hop Kultur sahen sie als etwas Lästiges an. Die Stadt schaffte es nicht, Graffiti einen Rahmen zu geben, also blieb ihnen nur eines übrig: die gesamte, eigentlich harmlose Bewegung zu kriminalisieren. Züge wurden gereinigt, bemalte Züge verliessen nicht mehr den Bahnhof, Tagger wurden von Polizist:innen und deren Hunden gejagt, Hetzkampagnen in den Medien gestartet.Der Poster-Künstler Jon English sieht das Problem deshalb gar nicht bei den Writern, sondern dem Rest der Gesellschaft: „Ich glaube, Graffiti ist nicht das Problem bei Graffiti-Künstlern. Das Problem liegt bei der Gesellschaft. Die wissen in dieser Gesellschaft nicht, was sie mit Künstler:innen tun sollen. Natürlich sind das keine Kriminellen. Das sind wirklich talentierte Leute. Gott gibt ihnen dieses Talent, und ihre idiotische Gesellschaft weiss nicht, was sie damit anfangen soll. ‚Sieh mal, eine Rose wächst! Pflastert sie zu!'“ [8]
An dieser Stelle noch mal ein Zwischenschub: die Oldschool Hip-Hop Kultur, bevor in den 80ern und 90ern die Gangsta Kultur aufkam, war extrem friedliebend. Es waren kreative Köpfe der Unterund Mittelschicht, die aus vielen verschiedenen Kulturkreisen zusammen kamen, und deren Vertrauen, das sie zueinander haben mussten, sie eng freundschaftlich verband. Verglichen mit anderen grossen Subkulturen dieser Zeit, wie Skinheads, Hooligans, Rockern und Bikern, standen die Hip-Hopper in einer Linie mit den Hippies.
Die Kriminalisierung ist also der wohl interessanteste Aspekt, wenn man sich mit politischem Anspruch mit Graffiti befasst. Denn viele meinen, dass diese Kriminalisierung bis heute nicht nötig gewesen wäre. Das Taggen ist ja kein gewaltvoller Akt, und solange man (wie es fast aller Tagger tun) Privateigentum, religiöse Einrichtungen, Vorderseiten von Strassenschilder etc. verschont, ist es ein so gut wie opferloses Verbrechen. Natürlich finden es viele nicht schön. Das allein kann aber kein Grund für die Kriminalisierung sein, immerhin würden dem ja auch viele widersprechen. Es gibt diese Darstellung von Graffiti als höchst demokratische Kunstform: wer Graffiti haben will, kann Graffiti malen. Wer es nicht haben will, kann es ja wieder entfernen. An dieser Art des öffentlichen Diskurses kann jede:r frei teilnehmen. Und natürlich ist das eine eher humorvolle als realistische Darstellung, aber das eigentliche Argument, dass es ja jede:r frei daran teilnehmen kann oder nicht, besteht ja trotzdem. [9]
Diese Art der Demokratie wurde hier aber ausgehebelt. Wer weiss, ob die Personen, die es gestört hat, wirklich in der Mehrzahl waren? (Okay, vermutlich waren sie es, aber nachgeprüft hat es ja keine:r.) Viel wichtiger war hier, von welchen Personen die Rede ist. Die einzigen Geschädigten waren nämlich die Immobilienbesitzer:innen und Vermieter:innen, die zwar extrem wenige, dafür aber auch extrem reich, mächtig und gut vernetzt waren und bis heute sind. Besonders empört waren ausserdem die Leute, denen Sauberkeit generell sehr wichtig war, was ebenfalls auf eine eher reiche, privilegierte Bevölkerungsschicht hindeutet. Zuletzt gab es auch nicht wenige, die rassistisch oder klassistisch motiviert einfach gegen alles waren, was die Kids aus den Ghettos taten, und es hassten, täglich mit deren Werk konfrontiert zu werden.
Von diesen grossteils gehobenen Kreisen verbreitete sich der Hass über die Medien bald in breitere, bürgerliche Kreise. In Fernsehsendungen wurde den Leuten Angst gemacht, ihr eigenes Privateigentum könnte getroffen werden, und Graffiti wurde in Verbindung mit Kriminalität und fehlendem Durchgreifen des Polizeiapparats gebracht. Einige rhetorische Tricks zeigten sich als extrem wirkungsvoll. Dass die Änderung der Farbe eines Gegenstandes überhaupt als Beschädigung wahrgenommen wird, war beispielsweise nicht immer der Fall. Und dass die Schwere dieser Beschädigung an den Kosten der Beseitigung gemessen wird, ist ebenfalls absurd, in weiten Teilen der Gesellschaft und der gesamten Justiz aber etabliert. Ein gutes Beispiel also dafür, wie bis heute autoritäre Politik durchgesetzt und öffentlich beworben wird.
Die unsägliche Debatte um den Kunst-Begriff
Erst hier kam auch die Debatte auf, ob Graffiti Kunst ist. Mit dem Vergleich von den weltbesten Graffiti Pieces zu den weltbesten Gemälden sollte Graffiti diskreditiert werden, und viele übernahmen den absurden Vergleich in ihre eigenen Argumentationen (z.B. „Das soll Kunst sein? Schau dir mal ein Gemälde von Monet an, das ist Kunst! Dieses Rumgeschmiere hier kann ja jede:r“). Fakt ist aber, dass sich die Graffiti Künstler:innen anfangs gar nicht selbst als Künstler:innen bezeichnet hatten. Sie hatten ja aus Spass, Langeweile und Selbstverwirklichung angefangen zu taggen, und nicht, weil sie etwas lernen oder ihre Nachbarschaft verschönern wollten. Fakt ist ausserdem, dass sie nie den Anspruch hatten, mit weltbekannten Gemälden mitzuhalten. Der Vergleich zwischen beidem kommt ja nicht von ihnen; die Debatte wurde von der anderen Seite der Debatte inszeniert. Fakt ist, dass Schönheit subjektiv ist, und auch viele Personen ein gelungenes Piece schöner als jedes Gemälde finden. Sie können es wertschätzen, weil sie wissen, wie schwierig das ist. Es sind aber gerade die Leute, die keine Ahnung davon haben, die es sich anmassen, darüber urteilen zu können. Fakt ist, dass auch hinter Graffiti eine Unmenge an Theorie und Regeln steckt, für die es viele Jahre braucht, um sie zu beherrschen. Das betrifft erstens das Theoretische, wie ein gutes Tag oder Piece aussieht, und zweitens das Können, dieses auch genau so auf eine Oberfläche aufzubringen. Wir sind uns gar nicht so sicher, ob ein Gemälde oder ein Piece schwieriger zu malen ist. Und Fakt ist, dass es keine Definition von Kunst gibt, die Graffiti nicht mit einschliesst. Wie sollte das auch gehen, ohne abstrakte Kunst, Kalligraphie, Aktionskunst und andere weniger angefochtene Kunstformen ebenfalls auszuschliessen? Obwohl diese Diskreditierung von Graffiti mit dem Kunstbegriff also komplett paradox ist, reicht sie bis heute vielen aus, um Graffiti zu beschimpfen. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie Grossteile der Bevölkerung durch ständige Propaganda Dinge glauben können, die zu widerlegen nur einen einzigen Gedanken benötigen; dass diesen Gedanken aber kaum jemand aufbringt.Noch mal zur Kriminalisierung, und Gentrifizierung
Was sagt uns die Kriminalisierung also? Sie zeigt exemplarisch, wie viel Macht die Unterdrücker:innen über die unterdrückte Klasse haben. Dass sie sich dabei nicht an Logik oder etablierte (Moral-)Vorstellungen halten müssen, sondern zum Wohle der Wenigen mit geschickter Manipulation alles, was die Bevölkerung über ein Thema weiss, einfach austauschen können. Es zeigt, wie gut staatliche Propaganda funktioniert, und wie fest sie sich in den Köpfen setzt. Und es zeigt, wie sehr sich die Unterdrücker:innen gegen alles stellen, was sie nicht kontrollieren können.Es gibt also den konservativ autoritären Ansatz, illegales Graffiti durch harte Strafen, konsequente Polizeiermittlungen und Zäune einzudämmen. Viele meinen, dass dieser Ansatz gescheitert sei, immerhin gäbe es Graffiti ja immer noch. Das stimmt so nicht ganz, denn die Anzahl der Writer nimmt ja stetig ab. Es wird immer schwieriger für Unerfahrene, neu anzufangen, und die jüngeren Generationen verstehen nicht mehr, warum man für Graffiti alles aufs Spiel setzten sollte. Ganz langsam beginnt der konservative Ansatz also doch zu wirken.
Inzwischen gibt es aber auch einen liberalen Ansatz, wie man gegen illegales Graffiti vorgehen kann: Graffiti sei ja sehr schön, könne auch im Kunstunterricht gelehrt werden, solle aber immer mit einer Warnung verbunden sein und nur auf erlaubten Oberflächen stattfinden. Man könne damit ja auch Geld verdienen, könne Aufträge malen, oder auf Wandmalereien umsteigen. Wir sind schockiert, wie viele auch diesen Standpunkt vertreten. Es muss ja ein komplettes Missverständnis dessen vorliegen, was Graffiti überhaupt ist, wenn es an einzelnen, wenig spektakulären Orten stattfinden soll. Und es ist ja auch keine Kunst mehr, bei Tageslicht, auf ebenem Boden, ohne Drogen und Adrenalin, ohne Verletzungsgefahr und mit so viel Gepäck und Zeit wie man will zu malen. Das alles wäre bei ‚echtem' Graffiti niemals gegeben und ist doch Teil des Spasses und der Kunst, und Voraussetzung dafür, dass sich eine lokale Hip-Hop (Sub-)Kultur bilden kann.
Dieser liberale Ansatz, inklusive der vorher angesprochenen Kommerzialisierung, geht inzwischen weit darüber hinaus, dass grosse Künstler:innen für Sportschuhwerbungen die Hintergründe verzieren. Inzwischen werden gekaufte Graffiti, vor allem aber Wandmalereien auch gezielt gegen illegales Graffiti eingesetzt. Vermieter lassen ihre Fassaden mit grossen, aufwendigen und massentauglichen Wandmalereien bemalen, weil sie seltener von illegalem Graffiti übermalt werden. Es gibt nämlich die ungeschriebene Regel, dass man nicht über die Werke anderer rüber schreibt, und auf einem bunten Hintergrund fällt Graffiti sowieso viel weniger auf. Inzwischen steht der Begriff des Graffiti (womit hier fast immer eigentlich Wandmalereien gemeint sind) immer öfter im Zusammenhang mit Gentrifizierung. Eine langweilige Fassade mit hässlichem Graffiti kann einen hippen, modernen und lebhaften Touch bekommen, wenn man sie bunt anmalen lässt, und dadurch lässt sich nicht nur die Miete erhöhen, sondern auch ein positives Image als Unterstützer:in zeitgenössischer Kunst erlangen. So wird z.B. auch das „Berlin Mural Fest“ ausgerechnet von Deutsche Wohnen, die es finanziell unterstützen und Hauswände zur Verfügung stellen, erst möglich gemacht. [10]
Wir müssen uns also wie immer nicht nur von autoritär konservativen, sondern auch von allen liberalen Vorstellungen klar trennen und distanzieren. Was wir haben wollen, ist libertäre Kunst. Kunst, die abseits der Regeln, frei nach den Künstler:innen, ihrer Kreativität, ihren Ideen und ihren Emotionen stattfindet. Graffiti ist relevant für uns, weil es eine der wenigen durch sein Wesen allein anarchistischen Kunstformen ist. Vor allem aber darum, weil wir im Moment darum kämpfen müssen, dass es so bleibt. Denn die Konservativen wollen es zerstören und die Liberalen wollen es uns wegnehmen.
Deutscher Hip-Hop
Gehen wir in der Geschichte chronologisch von der früh beginnenden, wenn auch bis heute anhaltenden Kommerzialisierung des Graffiti weiter. Dann sind wir jetzt in den 80ern. Die ursprüngliche Hip-Hop Subkultur aus New York hielt zwar eine ganze Weile durch, aber es waren nur wenige Jahre gewesen, in denen man zufällig auf der Strasse Leute beim Breakdancen, Freestyle Rappen und Pieces zeichnen sehen konnte. Die legendäre Fotografin Martha Cooper hielt diese Kultur so umfangreich fest wie keine andere und brachte mit ihrem Kollegen Henry Chalfant 1984 das Buch Subway Art heraus, in dem sie zahlreiche Bilder aus der Stadt, inklusive umfassender Erklärungen der Hip-Hop Kultur lieferte. Sie fragte mehrere Verlage in den USA an, doch niemand wollte etwas mit Graffiti zu tun haben oder glaubte daran, dass sich Leute dafür interessieren könnten. Bei der internationalen Buchmesse in Frankfurt waren aber doch viele Leute interessiert. Also wurde das Buch in Deutschland verlegt und von Anfang an auch hier verkauft.Dieses Buch war das vielleicht wichtigste Medium überhaupt gewesen, wenn es zur Verbreitung von Graffiti ausserhalb von New York kommt. Die ältesten deutschen Graffiti Legenden berichten fast alle davon, dieses Buch gezeigt bekommen und darauf basierend ihren Stil entwickelt und die Subkultur aufgebaut zu haben. Die legendäre „Writer's Bench“, auf der in New York viele Writer den ganzen Tag sassen, sich unterhielten und Skizzen für neue Pieces anfertigten, gab es bald auch in Westberlin. Hier begann man ebenfalls, auf der Strasse zu breaken und zu rappen, und das zu einem Zeitpunkt, als es das in New York schon lange nicht mehr gab. Auch Martha Cooper hatte inzwischen einige neue Projekte angefangen und nicht damit gerechnet, sich noch ein mal mit Hip- Hop zu befassen, bis sie davon hörte, dass es die Kultur in Westberlin und anderen westeuropäischen Städten noch gab. [11]
Auch in der DDR hat es Hip-Hop übrigens gegeben. Er war nicht besonders gross, wurde aber staatlich gefördert, denn die Subkultur zeige Solidarität mit der unterdrückten schwarzen Minderheit in den USA. Besonders Breakdance wurde in vielen Tanzschulen gelehrt und republikweite Wettbewerbe auf Staatskosten veranstaltet. Nur ein einziges Hip-Hop Musikalbum ist hier erschienen, aber ohne, dass das Duo Electric Beat Crew sich darum beworben hätte oder dafür qualifiziert gewesen wäre, erhielten sie sofort einen staatlichen Plattenvertrag und einen Fernsehauftritt. Hip-Hop wurde also schon immer auch sozialistisch interpretiert. Nur Hip-Hop Graffiti blieb in der DDR unerwünscht und selten.
Das inzwischen geeinte Berlin ist bis heute vielleicht die wichtigste Stadt weltweit im Graffiti. Die Berlin Kidz beispielsweise brachten in den 2010er Jahren so viel frischen Wind in die Kunstform wie es seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Sie zogen in ihrem Stil viel Inspiration vom Pixação und entwickelten einen komplett eigenen, stark verzierten Stil. Auch waren sie die Crew, die es populär machte, sich von hohen Gebäuden abzuseilen, um in beliebiger Höhe vertikale Pixos zu malen. Und sie halfen dabei, politische Slogans neben den Werken zu etablieren: „Work is where money is traded for life“, „Fuck da System“ oder einfach „Freiheit“. In selbst produzierten Filmen zeigen sie 2013 und 2017 nicht nur Graffiti, sondern auch sehr umfangreich andere Aspekte ihres anarchistischen Lifestyles: sie surfen auf S-Bahnen, knacken Türschlösser, stehlen von Snackautomaten und entfernen Werbung, die ihre Pixos überdeckt.
Die 1UP Crew aus Berlin ist ebenfalls weltweit für grosse Werke bekannt. In koordinierten Aktionen malen sie extrem gross, indem sie die Arbeit auf eine hohe Zahl an Sprüher:innen aufteilen. Weil bemalte Züge die Abstellgleise nicht mehr verlassen, werden sie eben bemalt, während sie im Verkehr sind: Beim Halt in einem Bahnhof wird die Notbremse gezogen und eine Horde aus teilweise über 20 Writern bedeckt in wenigen Minuten den gesamten Zug. Alle Aktionen werden mit Actioncams und Drohnen gefilmt und nach aufwendigem Schnitt auf Youtube veröffentlicht. Grössere Aktionen gab es dabei auch unter den politischen Mottos Love is Love, Leave Noone Behind oder Smash G8. 2021 brachten sie ein gemeinsames Projekt mit Martha Cooper heraus.
Wie kommt es aber, dass der Oldschool Hip-Hop so zeitlich begrenzt war, während eine andere Version des Hip-Hops in Berlin, New York und überall auf der Welt bis heute fast unverändert besteht? Vermutlich liegt es daran, wie eng Oldschool Hip-Hop mit der sozio-ökonomischen Lage ihrer Anhänger:innen zusammenhing. Als das Ghetto-Problem in New York nach und nach gelöst wurde, wurden diese plötzlich wohlhabender, kamen in neue soziale Umfelder, viele zogen in andere Gegenden oder kamen von wo anders. Die Hip-Hopper, die die Subkultur in Berlin gegründet haben und die für den heutigen Hip-Hop überall auf der Welt verantwortlich sind, sind eben nicht mehr die Strassenkinder, die nichts anderes zu tun hatten. Nun sind es kreative, libertäre und rebellische Naturen. Wenn diese soziale Gruppe wächst, wird auch Graffiti wieder grösser werden. Solange sie aber schrumpft, wird auch Graffiti weniger werden, und an einem bestimmten Punkt entweder aussterben oder sich erneut selbst erfinden müssen.
Gangsta Hip-Hop und Drill
Eine zweite grosse Entwicklung im Hip-Hop hat es in der Geschichte aber gegeben: die Entstehung der Gangsta Kultur im Kalifornien der späten 80er Jahre. Zwar hat diese diesmal nicht den gesamten Hip-Hop ausgetauscht, sondern ist nur ein Teil der grösseren Kultur geworden. Allerdings ist es die mit Abstand grösste Hip-Hop Gruppierung, die es gibt, und nimmt bis heute grossen Einfluss auf alles andere innerhalb und ausserhalb der Subkultur. Hier kamen auch erstmals detaillierte Gewaltfantasien und die so umstrittene Objektifizierung von Frauen in Rapmusik auf, die noch mal ein ganz eigenes Thema ist.Der wahre Gangsta Hip-Hop entstand dabei aus der kriminellen Gang Kultur der US-amerikanischen Westküste, dessen Jugendliche komplett eigene DJing, MCing und Graffiti Stile entwickelten. In den USA ist diese Kultur immer noch an die Gangs gebunden, und existiert bis heute genauso weiter, weil es bis heute die Gangs als abgesonderte soziale Gruppierungen gibt. So ist es auch beim Drill, der sich in den 2010er Jahren ebenfalls in Stadtvierteln mit hoher Kriminalität in den USA entwickelte und besonders in Grossbritannien ebenfalls Fuss fasste. Würden die Probleme mit Gangs und ihrer Kriminalität gelöst werden, würden auch diese Subkulturen aufhören zu existieren oder sich neu erfinden müssen.
In Deutschland können wir gut sehen, wie so eine neue Erfindung aussehen könnte, denn so wie Oldschool Hip-Hop hier nie in Verbindung mit Ghettos stand, steht auch Gangsta Hip-Hop hier selten in Verbindung zu einer gelebten Kultur der Kriminalität. Wieder sind es hier kreative und rebellische Jugendliche, die sich das Genre angeeignet haben – höchstens die Werte dieser Jugendlichen sind anders als bei anderem Hip-Hop.
Von hoher politischer Relevanz ist all das nicht, auch wenn es viel mit sozio-ökonomischen Umfeldern zu tun hat. Man sollte sich aber merken, dass die an einigen Stellen problematische Gangsta Kultur (inkl. ihrer Hierarchien, ihrem Sexismus, dem Konsumerismus) nur ein Teil von Hip-Hop ist, und andere Teile in einer langen, politisch sozial-libertären bis anarchistischen Tradition stehen. Besonders im Graffiti gibt es sowohl grosse Crews, die sehr klar Teil der Gangsta Kultur sind (z.B. THC), als auch ebenso grosse Crews, die es trotz ihrer Kriminalität sehr klar nicht sind (z.B. 1UP). Auch gibt es bis heute extrem viele Writer, die meinen, nur durch Graffiti nicht zu einem Gangster geworden zu sein; dass sie mentale Probleme, Aggressionen, Tatendrang und Rebellion sonst auf Gewalttaten oder Drogenkonsum verwendet hätten und es mit ihnen sehr viel schlimmer geendet hätte.
Und jetzt?
Dass Graffiti eine einzigartige Geschichte hat und politisch relevant für uns ist, sollte inzwischen klar sein. Zuletzt aber noch der Hinweis, dass wir als Anarchist:innen nicht positiv zu dieser Geschichte beitragen können, indem wir eine Sprühdose klauen und damit wild durch die Gegend sprühen. Nein, wenn wir die Graffiti Kultur bewahren wollen, egal ob es jetzt eine abgesonderte Hip-Hop Subkultur ist oder nur durchschnittliche Menschen, die als Hobby ein bisschen malen, müssen wir auch an diese Kultur anschliessen. Denn Schmierereien, die womöglich weder Passant:innen noch Tagger besonders ansprechend finden, bringen aktivistisch nicht besonders viel, solidarisieren sich nicht mit der Szene und können einen, wenn man die Vorgehensweisen nicht kennt, auch persönlich in einige Probleme mit Polizei, Anwohner:innen oder Hardcore Graffiti Crews bringen.Vor dem Taggen wird also gut gelernt, wie überhaupt getagged wird. Wie Gross- und Kleinschreibung hier funktionieren, dass alle Buchstaben gleich breit sein sollten, wo man Linien ergänzen oder erweitern darf und wo nicht. Das folgt alles festen Regeln der Kalligraphie, die man zunächst streng einhalten sollte, bis man erfahren genug ist, dass es immer noch gut aussieht, wenn man bewusst von ihnen abweicht. Darüber haben wir ja am Anfang des Artikels schon geredet.
Wer Graffiti machen will und bereits Leute kennt, die das machen oder irgendwie sonst mit HipHop zu tun haben, sollte sich als erstes unbedingt an genau diese Leute wenden! Die wissen vermutlich bereits, wie man tagged, welche Orte sich gut dafür eignen, wie man eine Aktion durchführt, welche ungeschriebenen Regeln man einhalten muss, wie man mit Verkehr und Passant:innen umgeht, wie man die Polizei vermeidet und andere wichtige Tricks. Das alles muss man lernen, und dazu die Stadt und ihre Szene gut kennen. Wer darauf keine Lust hat, ist mit einem anderen Hobby oder einer anderen Form des Aktivismus besser aufgehoben.
Wer niemanden kennt, muss sich das alles selbst erarbeiten. Wir haben so auch angefangen, mit Youtube Tutorials und Edding Schmierereien um Mitternacht. So braucht es eine Ewigkeit, bis man gut wird, doch es kann sich lohnen. Noch bevor die Ewigkeit vorbei war, haben wir aber angefangen, uns miteinander auszutauschen, voneinander zu lernen und Writer aus anderen Städten kennen zu lernen. So kamen wir auch erst richtig mit Underground Rap, MCing und dem Erstellen von Beats in Kontakt. Es wäre übertrieben, von einer Szene zu sprechen. Aber ein Funken Leben kann man dem Hip-Hop heute doch noch einhauchen. Selbst in Nordhessen. Deshalb:
Es lebe der Hip-Hop!
Es lebe der libertäre Lifestyle!
Es lebe der Anarchismus!