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Die Geschichte des Rappers Xatar

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Die Geschichte des Rappers Xatar aus klassenpolitischer Sicht Zähl´ so viele Scheine Du kannst, bevor Du sitzt

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Kultur

Dass es im Gangstarap ganz wesentlich um die Auseinandersetzung um gesellschaftlichen Reichtum geht, ist nicht neu. Geld, teure Autos und andere Statussymbole gelten hier nicht nur als erstrebenswert.

Xatar auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2015.
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Xatar auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2015. Foto: Leander Wattig (CC BY-SA 2.0 cropped)

Datum 3. Dezember 2015
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Sie sind sogar Gegenstand ständiger Kämpfe, an denen sich neben den Rappern und ihren Gesinnungsgenossen auch die übrigen Gesellschaftsmitglieder und (in der Regel als deren erster Stellvertreterin) die Polizei beteiligen. Es erscheint also nicht so weit hergeholt, die Geschichten, die Gangstarapper in ihren Songs erzählen, im Marx'schen Sinne als Geschichten von Klassenkämpfen zu interpretieren. Hier geht es um ‚arm gegen reich', ‚wir gegen die' oder – im klassischen Sinne – ‚unten gegen oben'.

Über die Frage, wer hier unten, und wer oben ist, und warum die Arbeiter denn nun nicht endlich die lang ersehnte Revolution machen (und oft auch gar nicht machen wollen), ist seit dem 19. Jahrhundert eine Menge geschrieben worden. Dass es, wie der britisch-jamaikanische Kulturtheoretiker Stuart Hall in seinem Text zu „Postmoderne und Artikulation“ sagt, „nie eine einheitliche Klasse, mit einer schon existierenden einheitlichen Ideologie“ gegeben hat, führen er – und eine Reihe anderer Vertreter nicht zuletzt auf eine Entwicklung zurück, die als Individualisierung des Klassenkonfliktes beschrieben worden ist. Während traditionelle linke Positionen immer wieder den Zusammenschluss der Arbeiter in einer grossen Massenorganisation gefordert haben, spricht die gesellschaftliche Praxis unter neoliberalen (und dies mit zunehmender Häufigkeit) eine andere Sprache: Anstatt sich mit den Leidensgenossen zu solidarisieren, verfolgen die von Armut Betroffenen den individuellen Aufstieg. Und das klingt dann ungefähr so: „Nur, wenn Du dich anstrengst und Dein Ding durchziehst, kannst Du es schaffen, da rauszukommen!“

Und wenn man es sich ganz einfach machen will, schlägt der Bonner Rapper Xatar mit seinem neuen Buch in die gleiche Kerbe: Indem er seine eigene Biographie als ständiges Streben nach Reichtum und Anerkennung darstellt, an deren (vorläufigem Ende) er beides durch Geschick, harte Arbeit, Durchsetzungsfähigkeit und das nötige Quäntchen Glück erreicht hat, stilisiert er seinen Werdegang gewissermassen zum Prototyp dieser Aufsteiger-Erzählung. Nachdem Xatar bereits einige Jahre musikalisch aktiv gewesen war, erlangte er deutschlandweite Berühmtheit spätestens im Jahr 2010 als er im Irak für einen Goldraub festgenommen wurde, den er kurz vorher mit einigen Komplizen in Süddeutschland begangen hatte. Das Buch behandelt nun Xatars Lebensgeschichte, die er zu Anfang des Buches einem hohen Beamten eines Bagdader Militärgefängnisses zu erzählen beginnt.

Als Sohn kurdischer Freiheitskämpfer kommt Xatar Mitte der 1980er Jahre nach Bonn ins Viertel Brüser Berg. In der kleinen Wohnung, die die Familie in der Celsiusstrasse bezieht herrscht, ähnlich wie im Viertel insgesamt, relative Armut. Durch Nebenjobs finanziert seine Mutter dem jungen Xatar Klavierunterricht, der – bedacht mit Talent und Durchhaltevermögen – sich auch als guter Basketballspieler und passabler Gymnasiast herausstellt. Eine besondere künstlerische Begabung spiegelt sich bis heute in seiner Musik wider.

Von seinen Lehrern erhält Xatar fast gar keine Anerkennung. Stattdessen stellt die Erscheinung des ausländischen Jungen für die Pädagogen eine Provokation dar. Lob gibt es nur einmal, als die Pausenaufsicht ihn zur Hilfe ruft, um ein paar fremde Hauptschüler vom Schulhof zu verjagen (im Kampf gegen die Unterschicht ist der deutschen Bourgeoisie sogar ein Bündnis mit der migrantischen Subalternen recht). Der Weg in ein bürgerliches Leben versperrt, muss Xatar sich nach Alternativen also in seiner näheren Umgebung umsehen:

„Und da niemand etwas anbot, nahmen wir uns irgendwann einfach das, was wir glaubten, was uns zustehen würde. Weil es alle hatten, ausser wir. Das Leben schenkte uns nichts. Also fingen wir an, mit dem Leben zu dribbeln. So, wie es die Älteren machten. Wir sahen sie auf dem Brüser Berg mit ihren Benzern stehen, mit ihren goldenen Uhren. Während andere den ganzen Tag schufteten und am Ende des Monats trotzdem jeden Pfennig umdrehen mussten, hatten diese Jungs immer ein paar Batzen auf Tasche.“

Während es hierbei anfangs zwar nicht „um das grosse Geld“, sondern darum ging, „dass wir uns auch mal Zwiebelringe und Cola kaufen konnten. Oder uns den Eintritt zu einer Party leisten konnten“, lernt er schnell die Annehmlichkeiten des neuen Lebensstils kennen. Unterstützt durch den lokalen Gangsterboss Dilovan erlernt er das Handwerk des organisierten Verbrechens, was ihm neben einigen einschneidenden Erfahrungen wie der Beteiligung an einer Racheaktion, bei der auch Schüsse fallen, eine Reihe materieller Privilegien einräumt (z.B. beginnt er auch kürzere Strecken nur noch mit dem Taxi zurückzulegen beginnt).

Mit seiner ersten Gang, den Brüser Berg Asis, verschafft er sich die Aufmerksamkeit, an der es ihm in der Schule gefehlt hat. Dass der Einstieg in die Kriminellenbiografie auch eine neue Sichtweise auf Recht und Unrecht mit sich bringt, zeigt sich jedoch nicht nur in der zunehmenden Gewalttätigkeit und anderen Konflikten mit dem Gesetz, sondern in auch in Grossmut und Verantwortung. So veranstaltet er im Viertel Grillfeste für die Bewohner. Irgendwie hält man dort doch zusammen, oder möchte zumindest etwas zurückgeben.

Ein einschneidendes Erlebnis stellt hier der Verrat eines Ex-Verbrecher-Kollegen dar, der ihn und andere nach einem misslungenen Coup bei der Polizei anschwärzt:

„Seit diesem Tag ist für mich jeder Mensch aus Prinzip ein Bastard. Egal wer dir erzählt, wie korrekt er ist, egal wer dir erzählt, was er alles für dich tun würde, die Wahrheit ist, dass auf der Strasse jeder als Erstes nur an sich denkt.“

Gleichzeitig entdeckt Xatar in dieser Zeit auch seine Passion für die Rapmusik und beginnt eigene Texte zu schreiben. Doch Auf Grund eines missglückten Drogendeals begibt sich der aufstrebende Rapper 2005 ins Londoner Exil. Neben dem Betreiben einer Security-Firma und anderen Geschäften beginnt er hier Musikmanagement zu studieren. Durch den Verkauf seines Bonner Internetcafés und einigen anderen Geschäften erwirtschaftet Xatar bis 2008 die stolze Summe von 120.000 Euro: Startkapital für sein Label ‚Alles oder Nix-Records'.

Doch bevor das vielversprechende Projekt richtig ins Rollen kommt, gerät Xatars Welt ein weiteres Mal aus den Fugen: Nachdem er gemeinsam mit Komplizen einen Goldtransporter überfällt, führt die Flucht vor der Polizei bis in den Irak, wo er schliesslich vom lokalen Militär festgenommen und nach einer kurzen Haftstrafe nach Deutschland ausgeliefert wird. Aus dem Gefängnis betreibt Xatar – den strengen Haftauflagen zum Trotz – nicht nur sein Label weiter, auf er die Platten einflussreicher Künstler wie der Bonner SSIO oder die Frankfurterin Schwesta Ewa herausbringt. Mit Hilfe eines Diktiergeräts und einiger findiger Musikproduzenten nimmt er dort sogar ein Album auf, welches im Jahr 2012 erscheint.

Nach seiner Haftentlassung im Dezember 2014 beginnt Xatar unmittelbar mit der Produktion seines neuen Albums ‚Baba aller Babas', das im Mai 2015 erscheint. Gleichzeitig konzentriert er sich nun voll auf die Labelarbeit und eröffnet ausserdem eine Shisha-Bar auf den Kölner Ringen. Die ‚from rags to riches'-Erzählung komplettiert ein Epilog, in dem Xatar am Steuer seines Wagens sitzend auf dem Heimweg von seiner Bar im Sonnenaufgang von einem Geschäftspartner über ein erfolgreiches Börsengeschäft der beiden informiert wird. Xatar ist ein solider Geschäftsmann geworden.

Mit all seinen politischen und soziologischen Implikationen ist Xatars Biografie kein rein lebensphilosophisches oder wissenschaftliches Buch. Zwar gibt es praktisch keine Liebesgeschichte (allgemein kommen Frauen – ausserhalb von der Rolle einer Beschützerin wie seiner Mutter oder einer Sozialarbeiterin im deutschen Knast – wenig als handelnde Charaktere vor). Abgesehen davon erfüllt das Buch aber alle Kriterien eines guten, abwechslungsreichen Romans. Das hängt zuallererst damit zusammen, dass Xatar mit seiner Biographie zwei Voraussetzungen erfüllt: Er hat eine geile Story und kann sie angemessen darstellen.

Diese Momente der ‚Realness' – wie es im Hip-Hop heisst, kostet Xatar in seiner Selbstdarstellung aus, ohne dass es peinlich oder aufgesetzt wird, z.B. wenn er aus dem Interview mit dem Rap-Magazin 16 Bars mal eben die Kollegen im Knast grüsst, die die Sendung gerade verbotenerweise über ihre Smartphones empfangen. Sein Schreibstil beeindruckt ausserdem durch seine häufig interessante Metaphorik und einen mitunter absurden Humor, etwa wenn er sich fragt, ob das Streichfett im Knast von einer Firma produziert wird, die sich auf ‚Strafprodukte' spezialisiert hat.

Ein Schlagwort, das sich in verschiedenen Zusammenhängen auf das Buch beziehen lässt, ist der Begriff der Perspektivenvielfalt. Einmal spiegelt die Geschichte Xatars mit all ihren Höhen und Tiefen eine Menge von Standpunkten wieder, deren Unterschiedlichkeit zum Nachdenken anregt. Nicht nur kennt Xatar die deutsche Migrationsgeschichte besser und vor allem aus einer anderen Sicht als viele andere. Xatar erzählt von Parties in Hugh Heffners Playboy Mansion, von Folter im irakischen Knast. Er überfiel einen Goldtransporter, eröffnete ein Label und legt eine Rapkarriere hin, die in Deutschland ihres Gleichen sucht.

Gleichzeitig zeigt er im Buch, wie er sich von seinen Erfahrungen distanzieren kann, um zu verstehen und seine Geschichten weiter zu erzählen. So ist es zwar ja vermutlich nichts Neues, dass südländische Migrantenkinder aus der Unter- und Mittelschicht in der Schule benachteiligt werden und sich daher lieber auf der Strasse profilieren. Xatars Erzählung lässt das Ganze aber auf eine Art nachvollziehbar werden, die ein rein abstraktes Wissen zu übertreffen scheint. Man versteht, wie Xatar denkt, wenn er niemandem vertrauen möchte, meint sogar, die Hilflosigkeit nachempfinden zu können, der er sich angesichts der in der Schule erlebten Ungerechtigkeiten ausgesetzt sieht.

Prägnant und nachvollziehbar (vielleicht hier und da unterfüttert durch leichte erzählerische Übertreibungen) beschreibt Xatar in seinen Texten eben jenes Lebensgefühl, das sich für ihn und seine Geistesgenossen unter diesen Bedingungen ergibt. In seinem Track mit SSIO Track ‚Was würdest Du für Para machen?', bringen die beiden im Ihr Credo auf den Punkt, das sich auch auf späteren Releases immer wieder findet: „Zähl so viele Scheine Du kannst, bevor Du sitzt!“.

Innerhalb einer Ordnung, die alternative Aufstiegschancen systematisch versperrt, muss man sich eben anders zu helfen wissen. Und weil es grösstmögliche Anerkennung und Freiheit gewährleistet, wird dieser Aufstieg eben in der Einheit Geld gemessen. Und dass man das legal nicht bekommt, von vornherein klar: Sitzen tut man eh. Die Asymmetrie in der Beurteilung der Schwere solcher Vergehen, beschreibt der Journalist Marcus Staiger in folgendem Interview mit den folgenden Worten:

„Selbst wenn Uli Hoeness der 15-fach grössere Verbrecher ist als Xatar, kriegt er immer noch mehr Respekt, weil er 'ne Weisswurstfabrik irgendwann mal aufgebaut hat und weniger Zeit im Knast verbracht hat.“

Nun ist Hoeness nicht nur reich, sondern auch Welt- und Europameister geworden und hat lange an der Spitze des (un)beliebtesten Vereins des deutschen Fussballs gestanden. Aber noch viel wichtiger erscheint: Anders als Xatar ist er ein weisser Deutscher und hat sich die Hände nur mit hinterzogenen Steuern, nicht etwa mit einem ‚richtigen Verbrechen' wie Drogenhandel oder Raub schmutzig gemacht („Dabei kommen ja Menschen zu Schaden!!“).

Unser rassistische Alltagsbewusstsein lässt uns über Menschen wie Xatar häufig nicht als Opfer widriger Spielregeln einer entlang ethnischer Linien organisierter Gesellschaft, sondern als sittenwidrige Missetäter denken. Die indisch-US-amerikanische Philosophin Gaytari Spivak beschreibt dies mit dem Begriff der „epistemischen Gewalt“. Es sind Bücher Xatars, die dieser Gewalt mit der Perspektive der Betroffenen selbst etwas Wirksames entgegensetzen.

Den Rahmen der ‚rags to riches'-Story überschreitet Xatar in seinem Buch an verschiedenen Stellen, und zwar indem er klar die Widerstände benennt, denen junge (dunkelhäutige?) Migranten sich im deutschen Bildungssystem und am Arbeitsmarkt ausgesetzt sehen. Ja, Xatar hat es geschafft, und zwar nicht zuletzt mit Hilfe bürgerlicher Tugenden (Fleiss, Zielstrebigkeit). Dass hierin keine Lösung für alle besteht, stellt er im Buch aber immer wieder klar, etwa indem er die Diskriminierung in der Schule oder die Perspektivlosigkeit vieler seiner Mitgefangenen benennt.

Die Frage, warum wir als Linke nicht in der Lage sind, eine effektive (Klassen-)Politik auf breiter Basis zu organisieren, haben Hip-Hop-AktivistInnen aus Berlin zuletzt im Rahmen verschiedener Podiumsdiskussionen diskutiert. Die (ab Minute 58:50 gestellte) aggressiv vorgetragene Nachfrage nach der Repräsentation südländisch-stämmiger Genrevertreter („Warum ist kein Schwarzkopf da?“) können die Vertreter auf dem Podium lediglich entschuldigend beantworten. Man habe da nicht richtig dran gedacht. Einer des Diskutanden geht sogar so weit, zu behaupten, dies habe nichts mit den Inhalten zu tun.

Nun ist sicherlich keinem der Teilnehmer vorzuwerfen, er oder sie würde die Beteiligung (post-)migrantischer Aktivisten an politischen Auseinandersetzungen absichtlich verhindern wollen. Die (vor allem zu Anfang) abwehrende Reaktion zeigt jedoch deutlich, wie wenig souverän wir als Linke mit der berechtigten Kritik umgehen, Leuten wie Xatar die Sprecherrolle zu verweigern. Das geschieht sicherlich oft subtiler als in der Behauptung, es sei egal, wer Informationen verbreitet, Hauptsache, sie würden eben als objektive Inhalte zugänglich gemacht. Das Repertoire reicht hier von Vorwürfen von Sexismus-, Homophobie und Antisemitismus, usw., usf., die man sicherlich auch oft berechtigt an Xatar richten könnte. Für die weitere Diskussion erscheint es mir wünschenswert, solche Konflikte offen (und selbstkritisch) auszutragen. Vielleicht kann Marcus Staiger ja mal bei Xatar anfragen, ob er sich auf so ein Podium setzen würde. Das wäre sicher ein Gewinn!

Martin Seeliger / lcm

Xatar: Alles oder Nix. Bei uns sagt man, die Welt gehört dir. riva Verlag München 2015. 224 Seiten. CHF 23.-.