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Gewerkschaften, Hippies, Punks, Millenials

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Arbeiterklasse und Rockmusik Gewerkschaften, Hippies, Punks, Millenials

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Kultur

Kommen wir nun zu den Historischen Gegebenheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahnrhunderts, zur Geburtsstunde eben jener Gegenkultur.

Die Punk-Combo Crass an einem Konzert in der Cleator Moor Civic Hall, 3. Mai 1984.
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Die Punk-Combo Crass an einem Konzert in der Cleator Moor Civic Hall, 3. Mai 1984. Foto: Trunt (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 22. Februar 2023
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“Wenn es irgendeine Hoffnung für Amerika gibt, dann liegt sie in einer Revolution, und wenn es eine Hoffnung für eine Revolution in Amerika gibt, dann liegt sie darin, Elvis Presley dazu zu bringen Che Guevara zu werden.” Phil Ochs

“Punks sind Hippies.” GISM

Die mächtigen und wiederständigen Arbeiterbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts waren korrumpiert worden, und hatten ihre Forderungen nach Selbstbestimmung im Gegenzug für höhere Löhne, billigere Konsumgüter und mehr Arbeitsplatzsicherheit aufgegeben - der so genannte fordistische Kompromis; während im Ostblock das gleiche passierte, nur im Namen des “Sozialismus”. Auf diese Weise in die Selbstregulierung des Marktes integriert, wurde die Gewerkschaftsbürokratie langsam verdrängt und in den Unternehmen outgesourced, während der Kapitalismus die gesamte Erde in eine einzige integrierte Lieferkette verwandelte.

Stalinismus, Faschismus, der Zweite Weltkrieg, zwei “Red Scares” und der Kalte Krieg hatten die anarchistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zerschlagen und den grössten Teil der Menschheit in einem Dualismus von falscher Freiheit und falscher Gleichheit auf die eine oder auf die andere Seite gestellt, es blieb die Auswahl zwischen der CIA und dem KGB. Wer nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, wurde wuchs auf ohne dass der Horizont der Utopien und sozialen Veränderungen über das Bestreben hinausgegangen wäre, die eine oder andere Seite dieser Dichotomie zu reformieren.

Gleichzeitig hatten die Babyboomer dank des Fordismus Zugang zu einer breiteren Palette von Gütern als jede Generation zuvor. Die Werbung ermutigte die Jugendlichen dazu sich als eigene Gruppe mit eigenen Interessen und Bestrebungen zu verstehen. Diese massenproduzierte Jugendkultur schuf unbeabsichtigt die Möglichkeit zu einer massenhaften Ablehnung der Mainstream-Kultur, indem sie neue gemeinsame Bezugspunkte schuf, durch die sich ältere nationale, kulturelle und soziale Spaltungen überwinden liessen.

Ursprünglich war die Rockmusik eine Kunstform der Arbeiterklasse, die aus schwarzen Gemeinden in den Vereinigten Staaten hervorging. Und sie war eine der Waren, die Kapitalisten für den Massenmarkt zu kultivieren begannen. In diesem Zusammenhang stand der Erfolg der Beatles symbolisch für den Traum von wirtschaftlichem Aufstieg den jeder verwirklichen kann. Aber er war auch ein unvollständiger Versuch der Kulturindustrie, sich die Rebellion der Arbeiterjugend anzueignen und sie zu zähmen. Die Tatsache, dass vier gewöhnliche Proletarier aus Liverpool, die über die Aufnahmetechnik und die Aufmerksamkeit einer ganzen Zivilisation verfügten, den ganzen Weg von “Love Me Do” im Jahr 1962 bis zur Aufnahme der LP “Sgt.

Pepper's Lonely Hearts Club Band” 1967 gehen konnten, implizierte eine utopische Möglichkeit, die alles übertraf, was der Markt jemals erfüllen konnte: Wenn wir alle solche Möglichkeiten haben, könnten dann nicht wir alle Künstler sein? Wie die Generation die mit der Musik der Beatles aufgewachsen war, entdeckten auch die Jungs aus Liverpool, dass sie mit den Möglichkeiten die ihnen zur Verfügung standen, selbst an der Spitze der Pyramide, nicht zufrieden waren - und die sozialen Körperschaften, die sich durch gemeinsame Konsumaktivitäten zusammengefunden hatten, rebellierten gegen die Konformität und Entfremdung der Massengesellschaft.

In seinem Buch Do It! schreibt der Erz-Yippie Jerry Rubin die Unruhen der 1960er Jahre dieser Entwicklung zu: “Die Neue Linke entsprang, ein von Geburt an verärgertes Kind, aus dem kreisenden Becken von Elvis.” Die Generation, die anfangs gegen die sexuelle Unterdrückung ihrer Eltern rebellierte indem sie Rock and Roll hörte, besetzte schliesslich Universitäten und protestierte auf der Strasse. Zur Zeit des Woodstock-Festivals im August 1969 war diese Gegenkultur millionenstark.

Trotz des antiautoritären Geistes der Gegenkultur war das Wiederaufleben des eigentlichen Anarchismus begrenzt. Anarchisten waren in der Kampagne für nukleare Abrüstung in Grossbritannien präsent und stellten eine einflussreiche Minderheit innerhalb der Students for a Democratic Society in den Vereinigten Staaten dar. Up Against the Wall Motherfucker, die “Strassengang mit einer Analyse”, übersetzte das spanische anarchistische Konzept der grupos de afinidad in das anglophone Modell der affinity groups, auf Deutsch “Bezugsgruppen”; so gerüstet stürmten sie das Pentagon, durchtrennten die Zäune in Woodstock und brachten ihren Mimeographen (mechanische Kopiermaschine) mit, als sie Bill Grahams Rockmusiklokal besetzten, um eine freie Nacht für das Volk zu fordern. Doch im Laufe des Jahrzehnts gewannen autoritäre Marxisten Machtkämpfe innerhalb der Führung vieler Bewegungen. Wie Marx' Putsch innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation ein Jahrhundert zuvor, trugen diese Pyrrhussiege zum Zusammenbrechen der Bewegungen selbst bei.

Auch innerhalb der Gegenkultur hielt das Star-Prinzip mit seinen Hirarchien Einzug. In Woodstock verfolgte eine halbe Million Menschen aus dem Schlamm heraus wie eine Reihe von Berühmtheiten die Bühne betraten.

In der Zwischenzeit hatten die Kapitalisten begonnen die Forderungen der Hippies nach Individualität und Vielfalt in den Markt zu integrieren. Dies fiel zusammen mit dem Übergang von der reinen fordistischen Massenproduktion zu immer vielfältigeren Konsumgütern und -Identitäten - dem Übergang von Grössenvorteilen zu Vielfaltsvorteilen. Wenn die Beatlemania ein Beispiel für die Massenkultur war, so war das Aufkommen von Metal, Punk und Hip-Hop in den 1970er Jahren ein Beispiel für die “postfordistische” Verbreitung von Subkulturen.

Im Sommer 1976 - hundert Jahre nach dem Tod von Michail Bakunin, vierzehn Jahre nach der Aufnahme von “Love Me Do” und sieben Jahre nach dem Woodstock-Festival - traten die Sex Pistols zum ersten Mal im Fernsehen auf und spielten “Anarchy in the UK”, den Song, der ihre erste Single wurde. “Bakunin hätte es geliebt”, witzelte der Moderator, als sie fertig waren.

Hier ist er, bei der öffentlichen Premiere von rohem, ungefiltertem, echten Punk: der Beweis für seine anarchistischen Qualitäten. Alle Versuche Punk zu verwässern kamen danach.

Also ja, Punk war eine Reaktion auf die Gegenkulturen der 1960er Jahre. Pistols-Sänger Johnny Rotten eröffnete den Fernsehauftritt mit einem spöttischen Satz über Woodstock, in dem er alles Selbstgefällige und Naive an der Hippie-Ära ablehnte - alle Aspekte der Hippiekultur in denen die Hippies sich hatten anpassen und neutralisieren lassen.

Aber Punk war auch eine Fortsetzung dieser Jugendkultur. Er folgte demselben Radikalisierungsprozess den die Generation von Jerry Rubin erlebt hatte - nur verstärkt, wie eine Bakterie, die gegen Antibiotika immun geworden war. Von Anfang an gaben sich die Punks grosse Mühe, sich von den Hippies abzugrenzen; im Nachhinein betrachtet war Punk alles, was sich nicht domestizieren und kommerzialisieren liess. Nicht Festivalbühnen sondern Keller-Shows; nicht Krawatten und Peace-Zeichen sondern Lederjacken und Strassenkämpfe à la Up Against the Wall Motherfucker. Was ist schliesslich eine Punkband anderes als eine Bezugsgruppe mit Gitarren? Im Gespräch mit den Sex Pistols bemerkte John Lennon, dass die Pistols absichtlich all die Dinge taten, die das Management der Beatles ihnen zu Beginn ihrer kommerziellen Karriere verboten hatte.

Ein Jahr, nachdem die Pistols mit “Anarchy in the UK” debütierten, startete Crass (eine der ersten Punkbands die wiederholte Male als “Anarcho-Punk” bezeichnet wurde) in einem kollektiven Wohnprojekt, das die Mitglieder Penny Rimbaud und Gee Vaucher 1967 gegründet hatten. Wir können den Stammbaum des Punk über Crass direkt zu den Hippies zurückverfolgen, einschliesslich des Pazifismus, den die nächste Generation von Punks dann abschüttelte.

Als Teil des postfordistischen Wandels wurden Musikverlag und Drucktechnik endlich für die breite Öffentlichkeit zugänglich. Crass gehörte zu einer neuen Welle von Do-it-yourself-Punkbands, die ihre Platten selbst veröffentlichten. (Es wird erzählt, dass sie 5000 Exemplare ihrer Debüt-LP drucken lassen mussten, weil das die Mindestauflage war, die ein Presswerk damals produzieren konnte.) Indem sie den Produktionsprozess selbst in die Hand nahmen anstatt sich an ein Label zu verkaufen, konnten sie die Mystik, die jahrzehntelange kapitalistische Investitionen und Werbung der Rockindustrie verliehen hatten für sich beanspruchen, und sie für die Art von autonomen Jugendsubkulturen zurückgewinnen, die den Rock'n'Roll ursprünglich hervorgebracht hatten.

Zur gleichen Zeit untergruben die unbeständigen globalisierten Märkte die Arbeitsplatzsicherheit zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Um 1977 waren die Kinder der entlassenen Arbeiter*innen empfänglich für die Signale die im Text des nächsten Sex Pistols-Hits widerhallten: “No future”. Punk machte sich zu einer Zeit unter den Vorgängern der überflüssigen Arbeitskräfte unserer Tage breit, als diese Zukunftslosen noch eine verbitterte, isolierte Minderheit waren. Er war das Lied des Kanarienvogels in der Kohlenmine.

Aber es dauerte Jahrzehnte, bis der Fordismus vollständig zusammenbrach, und zusammen mit den selbstgefälligen Massen die er hervorgebracht hatte verschwand. Erst 2007 konnte das Unsichtbare Komitee in The Coming Insurrection, schreiben

“Die Zukunft hat keine Zukunft” ist die Weisheit einer Zeit die, trotz des ihr innewohnenden Anscheins vollkommener Normalität, das Bewusstseinsniveau der ersten Punks erreicht hat.

Heute, in einer Zeit weit verbreiteter Wirtschafts- und Umweltkrisen, Pandemien und Kriege, in der praktisch niemand mehr mit einer rosigen Zukunft rechnet, ist Punk überflüssig geworden. Zumindest als marginale Ablehnung des kapitalistischen Optimismus und seiner Ästhetik. Wenn wir Punk nicht in den richtigen historischen Kontext setzen - als Neuerfindung bereits bestehender Formen des Widerstands als Reaktion auf bestimmte Bedingungen -, werden wir weder seine Stärken sehen, noch verstehen wo Punk an seine Grenzen stösst oder welche das genau sind. In Anbetracht der Veränderungen, die sich auf dem Arbeitsmarkt und in der Konsumidentität vollzogen, ist es nicht überraschend, dass ab den 1980er Jahren selbst die doktrinärsten Anarchosyndikalisten zunächst eher durch Punkmusik als durch Organisierung am Arbeitsplatz politisiert wurden. Um zu verstehen warum Punk zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Stelle trat, müssen wir erkennen, wie Punk die Online-Netzwerke, partizipatorischen Modelle und flüchtigen Identitäten des digitalen Zeitalters vorwegnahm und dann von ihnen verdrängt wurde.

Von den 1970er Jahren bis zur Jahrtausendwende war fast jeder der zur Konfrontation neigte, praktisch in einer bestimmten Subkultur unter Quarantäne gestellt. Doch mit dem Übergang von Grössenvorteilen zu Vielfaltsvorteilen haben diese Subkulturen aufgehört, diskrete, langfristige Zugehörigkeiten zu sein. Heute stapeln die Menschen ihre Konsumidentitäten wie Sammelkarten, und viele subkulturelle Identitäten bleiben nicht länger bestehen, als es dauert, ein Meme in Umlauf zu bringen. Es ist ebenso schwierig geworden die Rebellion in bestimmten sozialen Gruppen zu isolieren, wie es schwieriger geworden ist, ein kohärentes revolutionäres Subjekt zu konstituieren.

Jene auf Do-it-yourself-Netzwerken basierende Underground-Ökonomie war ein Vorläufer des heutigen Hyperkapitalismus, in dem sich die Selbstverwaltung unserer Marktfähigkeit auf jeden Aspekt unseres sozialen Lebens und unserer Freizeit erstreckt. Crass und ihre Zeitgenossen erzielten einen Durchbruch, indem sie Formate nutzten, die zuvor für die Arbeiterklasse unzugänglich waren, um subversive Botschaften zu verbreiten. Aber in diesem Prozess leisteten sie unwissentlich Pionierarbeit und bestätigten eine neue Form des Unternehmertums und ebneten den Weg für weniger politisierte Unternehmer. Alle Unzulänglichkeiten, die die Punks in den einseitig ausgerichteten kapitalistischen Medien des späten 20. Jahrhunderts ausmachten (“Kill your television!”), finden sich in den partizipativen kapitalistischen Medien unserer Tage wieder. Wer braucht schon zur Bandprobe zu gehen, wenn man mit seinem Smartphone ein Video machen und es sofort auf Tik Tok posten kann? Do it yourself!

Natürlich haben die Plattformen der sozialen Medien die neue Generation kaum gezähmt. Die heutigen Aufstände setzen den Prozess der Assimilation und Neuerfindung fort und greifen auf alle Aspekte von Punk zurück die nicht domestiziert, kommerzialisiert oder unterwandert werden konnten. Unruhen ohne Punk-Shows; schwarze Pullis ohne Aufnäher, damit die Polizei einen nicht identifizieren kann; Wiederstand und Rebellion ohne Hymnen, ohne Ästhetik, ohne Hoffnung.

Wenn überhaupt, dann haben wir die Überbleibsel der Hippie-Ära die in der ersten Phase des Punk fortbestanden überkorrigiert. Als die Pistols aufkamen, reagierten sie auf eine Subkultur die zu viel Kunst und nicht genug Rebellion, zu viel Unterhaltung und nicht genug Störung, zu viel Optimismus und nicht genug Realität beinhaltete. Und während wir uns immer tiefer in ein Jahrhundert hineinbewegen das bereits von Zerstörung und Verzweiflung geprägt ist, könnten wir nun etwas mehr Kunst, Kreativität und Optimismus gebrauchen.

Das ist einer der vielen Gründe, warum Punk auch im Jahr 2022 noch relevant ist.

“Heute vermissen wir in der anarchistischen Bewegung manchmal den dionysischen Geist, der die Hardcore-Punk Untergrundszene auf seinem Höhepunkt charakterisierte: die kollektive, verkörperte Erfahrung von bedrohlicher Freiheit. So kann uns Punk bei unseren anarchistischen Experimenten von heute und morgen inspirieren: als transformatives Ventil für Wut und Trauer und Freude, als positives Modell für Zusammengehörigkeit und Selbstbestimmung in unseren sozialen Beziehungen, als Beispiel dafür, dass der destruktive Drang auch kreativ sein kann.”

“Music as a Weapon: The Contentious Symbiosis of Punk Rock and Anarchism”

Die Geschichte ist nicht fein säuberlich in Epochen eingeteilt, sondern gleicht mehr einer Reihe von Ablagerungen und Sedimentschichten, aus denen sich die Gegenwart zusammensetzt. Heute Abend, während ihr dies lest, spielt ein Sinfonieorchester in den schicken Vierteln, eine Jazzband in der Innenstadt und eine Punkband in den Vororten.

Punk's not dead, I know—Punk's not dead, I know it's not.

Wenn wir Punk als Erbe langjähriger Widerstandstraditionen verstehen, erklärt dies seine anhaltende Bedeutung für den Anarchismus. Während eine ältere Generation gewerkschaftsorientierter Radikaler das politische Engagement der Punks als flüchtig verspottete, ist Punk viel älter - und stabiler - als die heutigen politischen Organisationsmodelle; er stammt aus einer Zeit, in der Subkulturen noch dauerhafte Identifikation und Verpflichtungen hervorgebracht haben. Kein Wunder, dass viele derjenigen, die die Infrastruktur anarchistischer Organisierung von einem Jahr zum nächsten aufrechterhalten, langjährige Punks sind. Punk verbindet den einnehmenden Agitprop und die globalen Netzwerke der kulturellen Bewegungen des 21. Jahrhunderts mit der Langlebigkeit der politischen Formationen vor dem Internet.

CrimethInc

Der Text ist eine Übersetzung des Vorworts zu Smash The System! Punk Anarchism as a Culture of Resistance, einem neuen Buch, das von Active Distribution auf Englisch veröffentlicht wird. Ihr könnt es https://www.ebay.co.uk/itm/204180761323 vorbestellen. Ihr könnt fast alle Punk- und Hardcore-Platten die CrimethInc. im Laufe der Jahre veröffentlicht hat kostenlos herunterladen hier.