Für die beiden Generationen nach dem Krieg war 1914–18 das Synonym für sinnloses Gemetzel, angetrieben von der gefühllosen, blinden Dummheit einer herrschenden Klasse von Aristokraten und der zügellosen Habgier imperialistischer Kriegsgewinnler und Waffenproduzenten. Trotz aller offiziellen Zeremonien, des Ablegens von Kränzen und des Tragens von Mohnblumen am Gedenktag (wie in Grossbritannien) ging diese Sicht auf den I. Weltkrieg in die Populärkultur der kriegführenden Nationen ein. In Frankreich hatte Gabriel Chevaliers autobiographischer Roman über das Leben in den Schützengräben, La Peur (Die Angst), 1930 veröffentlicht, solch einen enormen Erfolg, dass die Behörden kurzzeitig das Buch auf den Index setzten. 1937 wurde Jean Renoirs Antikriegsfilm La Grande Illusion (Die grosse Illusion) im Pariser Kino „Mariveaux“ ununterbrochen von 10 Uhr morgens bis zwei Uhr nachts gespielt; er schlug alle bisherigen Kassenrekorde, in New York wurde er 36 Wochen lang gespielt.[1]
Im Deutschland der 20er Jahre nahmen die satirischen Cartoons eines George Grosz die Generäle, Politiker und Profiteure aufs Korn, die sich am Krieg gütlich getan hatten. 1929 wurde das Buch des Kriegsveteranen Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, veröffentlicht; 18 Monate später waren 2,5 Millionen Exemplare in 22 Sprachen verkauft; die Filmversion der Universal Studios 1930 war ein Riesenerfolg in den USA und gewann einen Oscar für den „Besten Film“.[2]
Einen der grössten Antikriegsromane hinterliess das sich auflösende österreichisch-ungarische Habsburger Reich der Nachwelt: Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk, 1923 veröffentlicht und seither in 58 Sprachen übersetzt – mehr als jedes andere tschechische Werk.
Der Abscheu in der Erinnerung an den 1. Weltkrieg überlebte das noch grössere Blutvergiessen des II. Weltkriegs. Verglichen mit den Schrecken von Auschwitz und Hiroshima verblasste die Barbarei des preussischen Militarismus und die zaristische Unterdrückung – ganz zu schweigen vom französischen und britischen Kolonialismus –, die die Rechtfertigung für den Krieg 1914 lieferten, nahezu bis zur Unkenntlichkeit, was das Gemetzel in den Schützengräben noch monströser und absurder machte: Der II. Weltkrieg konnte wenn nicht als ein „guter Krieg“, so doch wenigstens als ein gerechter und notwendiger Krieg dargestellt werden.
Nirgendwo ist dieser Widerspruch deutlicher als in Grossbritannien, wo eine Flut von Filmen über die Helden des „Guten Kriegs“ (Dambuster 1955, 633 Squadron 1964, etc.) in den 50er und 60er Jahren auf den Leinwänden erschien, während gleichzeitig 15-jährige SchülerInnen Antikriegs-Schriften von Poeten wie Wilfred Owen, Siegfried Sassoon und Robert Graves lesen mussten.[3] Die vielleicht schönste Komposition von Benjamin Britten, des bekanntesten britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, war sein War Requiem (1961), das Owens Poesie in Musik umsetzte, während 1969 zwei sehr unterschiedliche Filme die Kinoleinwände stürmten: Schlacht um England, ein patriotischer Streifen, und die böse Satire Oh what a lovely war! (O welch reizender Krieg), der es gelang, eine musikalische Anprangerung des Ersten Weltkriegs zu bewerkstelligen, indem Original-Soldatenlieder aus den Schützengräben benutzt wurden.
Zwei weitere Generationen später befinden wir uns am Vorabend des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs am 4. August 1914. Angesichts der symbolischen Bedeutung von runden Jahrestagen und mehr noch von Hundertjahrfeiern sind Vorbereitungen im Gange, um des Krieges zu gedenken („feiern“ ist vielleicht nicht das richtige Wort). In Grossbritannien und Frankreich wurden Haushaltsmittel von zig Millionen Euros bzw. Pfund abgezweigt; in Deutschland sind aus offensichtlichen Gründen die Vorbereitungen diskreter und haben keinen offiziellen Segen durch die Regierung.[4]
„Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was sie spielt“: Was also erhalten die herrschenden Klassen für die zig Millionen, die sie bewilligten, um „des Krieges zu gedenken“?
Ein Blick auf die Websites der für die Gedenkfeiern verantwortlichen Organisationen (in Frankreich eine spezielle Körperschaft, die von der Regierung aufgestellt wurde; in Grossbritannien – angemessenerweise – das Imperial War Museum) und die Antwort scheint klar zu sein: Sie kaufen sich dafür eine der teuersten Nebelwände der Geschichte. In Grossbritannien widmet sich das Imperial War Museum der Aufgabe, Geschichten von Individuen zusammenzubringen, die während des Krieges lebten, und sie in Podcasts zu verwandeln.[5] Die Website Centenary Project (1914.org) bietet solch wichtigen Vorkommnisse an wie z.B. die museale Zurschaustellung des „Revolvers von J.J.R. Tolkien im Ersten Weltkrieg“ (wir machen keine Witze – wahrscheinlich ist der Hintergedanke dabei, vom Erfolg der Verfilmung von Herr der Ringe zu profitieren) oder die Sammlung von „Bus Stories“ aus dem I. Weltkrieg durch das Londoner Verkehrsmuseum (ernsthaft!). Der BBC hat eine „bahnbrechende“ Dokumentation produziert: „Der Erste Weltkrieg von oben“ – Foto- und Filmmaterial, aufgenommen aus Flugzeugen oder Beobachtungsballons. Auch die Pazifisten kommen mit dem Gedenken an die Kriegsdienstverweigerer nicht zu kurz. Kurz, wir werden in einem Meer von Details und gar Belanglosigkeiten ertränkt. Laut des Generaldirektors des Imperial War Museum ist „unsere Ambition (…), dass viel mehr Leute verstehen werden, dass man die Welt von heute nicht begreifen kann, es sei denn, man versteht die Ursachen, den Verlauf und die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges“[6], eine Aussage, der wir 100% zustimmen würden. Doch die Realität ist, dass alles Mögliche unternommen wurde – und der ehrenwerte Generaldirektor macht keine Ausnahme –, um uns daran zu hindern, diese Gründe und Konsequenzen zu verstehen.
In Frankreich verfasste die Hundertjahr-Website den unfehlbaren, offiziellen „Bericht an den Präsidenten über das Gedenken an den Grossen Krieg“, datiert vom September 2011[7], der mit folgenden Worten aus der Rede General de Gaulles zum 50. Jahrestag im Jahr 1964 beginnt: „Am 2. August 1914 wurde die Mobilmachung verkündet, das ganze französische Volk stand geschlossen auf. Dies war niemals zuvor geschehen. Alle Regionen, alle Distrikte, alle Kategorien, alle Familien, alle Lebewesen machten mit einem Male gemeinsame Sache. Im Nu verschwanden alle politischen, sozialen, religiösen Streitereien, die das Land gespalten hatten. Von einem Ende der Nation bis zum anderen drückten Worte, Lieder, Tränen und vor allem die Ruhe eine einzige Entschlossenheit aus.“ Und in dem Bericht selbst lesen wir: „Auch wenn die Hundertjahrfeier unter unseren Zeitgenossen Grauen über das Massengemetzel und die immensen Opfer, die damals akzeptiert wurden, auslösen wird, so wird sie auch einen Schauder durch die französische Gesellschaft schicken und uns an die Einheit und den nationalen Zusammenhalt erinnern, die die Franzosen angesichts der Prüfung des I. Weltkrieges an den Tag legten.“ Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass die herrschende Klasse Frankreichs beabsichtigt, uns irgendetwas über die brutale Polizeirepression gegen die Antikriegsdemonstration von ArbeiterInnen im Juli 1914 oder über die infame „Carnet B“ (eine Regierungsliste von sozialistischen und syndikalistischen anti-militaristischen Militanten, die zusammengetrieben und interniert bzw. bei Kriegsausbruch an die Front geschickt wurden – die Briten hatten ihr eigenes Äquivalent) mitzuteilen, gar nicht zu sprechen von den Umständen, unter denen der Antikriegs-Sozialist Jean Jaurès am Vorabend des Konfliktes ermordet wurde, oder von den Meutereien in den Schützengräben…[8]
Wie immer können die Propagandisten auf die Unterstützung der gelehrten Herren aus der akademischen Welt zählen, die sie mit Themen und Material für ihre Talkshows und TV-Sendungen versorgen. Wir möchten nur ein Beispiel nennen, das uns sinnbildlich erscheint: The Sleepwalkers von Christopher Clarke von der Cambridge Universität, dessen erste Auflage 2012 und dessen Taschenbuchauflage 2013 veröffentlicht wurde und das bereits ins Französische (Les Somnambules) und ins Deutsche (Die Schlafwandler) übersetzt wurde.[9] Clark ist ein schamloser Empiriker. Und seine Einleitung legt seine Absichten ganz offen dar: „Dieses Buch (…)befasst sich weniger damit, warum der Krieg geschah, sondern vielmehr damit, wie es dazu kam. Fragen nach dem Warum und dem Wie sind logischerweise nicht voneinander zu trennen, aber sie führen uns in unterschiedliche Richtungen. Die Frage nach dem Wie lädt uns dazu ein, näher auf die Abfolge von Wechselwirkungen zu schauen, die bestimmte Ergebnisse zeitigten. Im Gegensatz dazu lädt uns die Frage nach dem Warum dazu ein, uns auf die Suche nach entfernten und kategorischen Ursachen zu begeben: Imperialismus, Nationalismus, Rüstungen, Bündnisse, Hochfinanz, Ideen der nationalen Ehre, die Mechanismen der Mobilisierung.“ (eigene Übersetzung, d. Red.)
Was auf Clarks Liste fehlt, ist der „Kapitalismus“. Konnte der Kapitalismus als solcher Krieg generieren? Konnte der Krieg nicht nur „Politik mit anderen Mitteln“ sein (um Clausewitz' berühmten Ausspruch zu benutzen), sondern der ultimative Ausdruck der Konkurrenz, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnt? Oh nein, nein, nein: Gott behüte! Clark macht sich schliesslich daran, „die Fakten“ auf dem Weg in den Krieg vor uns auszubreiten, und dies tut er mit unerhörter Gelehrsamkeit und mit enormer Detailkenntnis, bis hin zur Farbe der Straussenfedern auf dem Helm des Erzherzogs Franz Ferdinand am Tage seiner Ermordung (sie waren grün). Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, die Farbe der Unterwäsche des Attentäters Gavrilo Principe an jenem Tag zu notieren, sie stünde in diesem Buch.
Der Umfang des Buches, seine überwältigende Detailfülle macht ein riesiges Versäumnis noch auffälliger: Obwohl er ganze Abschnitte der „öffentlichen Meinung“ widmet, hat Clark nichts über den einen Teil der „öffentlichen Meinung“ zu sagen, der wirklich von Belang ist – die Stellung, die von der organisierten Arbeiterklasse eingenommen wurde. Clark zitiert ausführlich aus Zeitungen wie den Manchester Guardian, der Daily Mail oder Le Matin, lange nachdem sie verdientermassen in die Versenkung verschwunden waren, aber nicht ein einziges Mal zitiert er den Vorwärts oder L'Humanité (die Presse der deutschen bzw. französischen sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien) oder La Vie Ouvrière, dem quasi-offiziellen Organ der französischen syndikalistischen CGT[10] oder ihre Bataille Syndicaliste. Dies waren keine unbedeutenden Publikationen: Der Vorwärts war nur eine von 91 Tageszeitungen der SPD, mit einer Gesamtauflage von 1,5 Millionen Exemplaren (im Vergleich dazu gibt die Daily Mail eine Auflage von 900.000 an)[11], und die SPD war die grösste politische Partei in Deutschland. Clark erwähnt den Jenaer Parteitag der SPD 1905 und seine Weigerung, im Kriegsfall zum Generalstreik aufzurufen, aber die Antikriegs-Resolutionen auf den Kongressen der Sozialistischen Internationalen in Stuttgart (1907) und Basel (1912) bleiben unerwähnt. Der einzige Führer der SPD, der einer Erwähnung würdig ist, ist Albert Südekum, eine relativ unbedeutende Figur auf der Rechten der SPD, dem am 28. Juli mit seiner Beteuerung gegenüber dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, dass die SPD sich einem „Verteidigungskrieg“ nicht widersetzen werde, eine Nebenrolle zukam.
Über den Kampf zwischen der Linken und der Rechten in der sozialistischen und breiteren Arbeiterbewegung herrscht Stillschweigen. Über die politische Auseinandersetzung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Anton Pannekoek, Herman Gorter, Domela Nieuwenhuis, Wladimir Ilijitsch Lenin, Pierre Monatte und vielen anderen herrscht Schweigen. Über die Ermordung von Jean Jaurès herrscht Schweigen, Schweigen, Schweigen…
Es ist offenkundig, dass die Proletarier sich nicht wirklich auf die bürgerliche Geschichtsschreibung verlassen können, um die Ursachen und Konsequenzen des Grossen Krieges zu verstehen. Wenden wir uns daher zwei herausragenden Mitstreitern der Arbeiterklasse zu: Rosa Luxemburg, wohl die beste Theoretikerin der deutschen Sozialdemokratie, und Alfred Rosmer, einem standhaften Kämpfer der französischen Vorkriegs-CGT. Insbesondere werden wir uns hier auf Luxemburgs Krise der Sozialdemokratie[12] (besser bekannt als „Junius-Broschüre“) und auf Rosmers Le mouvement ouvrier pendant la Première Guerre mondiale („Die Arbeiterbewegung während des Ersten Weltkrieges“)[13] beziehen. Die beiden Werke sind sehr unterschiedlich: Luxemburgs Broschüre wurde 1916 im Gefängnis geschrieben (kein privilegierter Zugang zu Bibliotheken und Regierungsarchiven für sie, um so beeindruckender die Kraft und Klarheit ihrer Analyse); der erste Band[14] von Rosmers Werk, wo er sich mit der Periode befasst, die zum Krieg führte, wurde 1936 veröffentlicht und ist die Frucht sowohl seines gewissenhaften Einsatzes für die historische Wahrheit als auch seiner leidenschaftlichen Verteidigung internationalistischer Prinzipien.
Der I. Weltkrieg: seine Bedeutung und seine Ursachen
Manche mögen sich fragen, ob dies noch wirklich von Belang ist. All dies geschah vor langer Zeit, die Welt hat sich verändert, was können wir wirklich aus diesen Schriften der Vergangenheit lernen?Wir würden darauf antworten, dass es aus drei Gründen unerlässlich ist, den I. Weltkrieg zu begreifen.
Erstens weil der I. Weltkrieg eine neue historische Epoche eröffnete: Wir leben noch immer in einer Welt, die von den Konsequenzen jenes Krieges geprägt worden ist.
Zweitens weil die ihm zugrundeliegenden Ursachen immer noch sehr präsent und wirkkräftig sind: Es gibt eine allzu auffällige Parallele zwischen dem Aufstieg Deutschlands als neue imperialistische Macht vor 1914 und dem Aufstieg Chinas heute.
Schliesslich – und möglicherweise am wichtigsten, weil genau dies die Regierungspropagandisten und die Historiker in der Tat vor uns verbergen möchten – weil es nur eine Kraft gibt, die dem imperialistischen Krieg ein Stoppzeichen setzen kann: die Weltarbeiterklasse. Wie Rosmer sagt: „… die Regierungen wussten sehr gut, dass sie das gefährliche Kriegsabenteuer – vor allem diesen Krieg – nicht unternehmen konnten, es sei denn, sie wussten praktisch die einmütige Unterstützung der öffentlichen Meinung und vor allem der Arbeiterklasse hinter sich; um sie zu erhalten, müssen sie täuschen, übertölpeln, irreführen, provozieren“.[15] Luxemburg zitiert die bekannten Worte des Reichskanzlers von Bülow, „dass man jetzt hauptsächlich aus Angst vor der Sozialdemokratie jeden Krieg möglichst hinauszuschieben trachte.“
Sie zitiert auch aus Bernhardis Vom heutigen Krieg: „Wo aber grosse, zusammenhängende Massen einmal der Führung aus der Hand gehen (…), da werden solche Massen nicht nur widerstandsunfähig gegen den Feind, sondern sie werden sich selbst und der eigenen Heeresleitung zur Gefahr werden, indem sie die Bande der Disziplin sprengen, den Gang der Operationen willkürlich stören und damit die Führung vor Aufgaben stellen, die sie zu lösen ausserstande ist“. Und Luxemburg fährt fort: „So hielten bürgerliche Politiker wie militärische Autoritäten den Krieg mit den modernen Massenheeren für ein ‚gewagtes Spiel', und dies war das wirksamste Moment, um die heutigen Machthaber vor der Anzettelung der Kriege zurückzuhalten wie im Falle des Kriegsausbruchs auf dessen rasche Beendigung bedacht zu sein. Das Verhalten der Sozialdemokratie in diesem Kriege, das nach jeder Richtung dahin wirkt, um ‚die ungeheure Spannung' zu dämpfen, hat die Besorgnisse zerstreut, es hat die einzigen Dämme, die der ungehemmten Sturmflut des Militarismus entgegenstanden, niedergerissen (…) Und so fallen seit Monaten Tausende von Opfern, welche die Schlachtfelder bedecken, auf unser Gewissen“.[16]
Der Ausbruch des generalisierten, weltweiten imperialistischen Krieges (wir sprechen hier nicht über lokale Konflikte, auch nicht von wichtigen wie den Korea- oder Vietnamkrieg, sondern über die Massenmobilisierung des Proletariats im Herzen des Kapitalismus) wird von zwei einander widersprechenden Kräften bestimmt: das Streben zum Krieg, zu einer Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Grossmächten und der Kampf zur Verteidigung ihrer eigenen Existenz durch die Arbeiterklasse, die sowohl das Kanonenfutter als auch die industrielle Armee liefern muss, ohne die der moderne Krieg unmöglich ist. Die Krise der Sozialdemokratie und besonders ihrer mächtigsten Fraktion, der deutschen Sozialdemokratie – eine Krise, die systematisch von den geistlosen Historikern der akademischen Welt ignoriert wird -, ist somit der kritische Faktor, der den Krieg 1914 ermöglichte.
Wir werden in einem späteren Artikel dieser Reihe detaillierter darauf eingehen, doch hier schlagen wir vor, Luxemburgs Analyse der wechselnden imperialistischen Rivalitäten und Bündnisse aufzugreifen, die die Grossmächte unaufhaltsam in das Blutbad 1914 hineindrängt hatten.
„Zwei Linien der Entwicklung in der jüngsten Geschichte führen schnurgerade zu dem heutigen Kriege. Eine leitet noch von der Periode der Konstituierung der sogenannten Nationalstaaten, d.h. der modernen kapitalistischen Staaten, vom Bismarckschen Kriege gegen Frankreich her. Der Krieg von 1870, der durch die Annexion Elsass-Lothringens die französische Republik in die Arme Russlands geworfen, die Spaltung Europas in zwei feindliche Lager und die Ära des wahnwitzigen Wettrüstens eröffnet hat, schleppte den ersten Zündstoff zum heutigen Weltbrande herbei (…)
So hat der Krieg von 1870 in seinem Gefolge die äussere politische Gruppierung Europas um die Achse des deutsch-französischen Gegensatzes wie die formale Herrschaft des Militarismus der Völker eingeleitet. Diese Herrschaft und jene Gruppierung hat die geschichtliche Entwicklung aber seitdem mit einem ganz neuen Inhalt gefüllt. Die zweite Linie, die im heutigen Weltkrieg mündet und die Marxens Prophezeiung[17] so glänzend bestätigt, führt von Vorgängen internationaler Natur her, die Marx nicht mehr erlebt hat: von der imperialistischen Entwicklung der letzten 25 Jahre.“[18]
Die letzten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten also eine rapide Expansion des Kapitalismus in der ganzen Welt, aber auch das Entstehen eines neuen, dynamischen, expandierenden und selbstsicheren Kapitalismus im Herzen Europas: das Deutsche Reich, das ausgerufen wurde nach der Niederlage Frankreichs im preussisch-französischen Krieg 1871, in den Preussen als der lediglich stärkste einer Vielzahl von deutschen Zwergstaaten und Fürstentümer eintrat und aus dem es als die dominante Komponente eines neuen, vereinigten Deutschlands heraustrat. „… so konnte man voraussehen“, schreibt Luxemburg, „dass dieser junge, kraftstrotzende, von keinerlei Hemmung beschwerte Imperialismus, der auf die Weltbühne mit ungeheuren Appetiten trat, als die Welt bereits so gut wie verteilt war, sehr rasch zum unberechenbaren Faktor der allgemeinen Beunruhigung werden musste.“ [19].
Durch eine jener Eigenarten der Geschichte, die es uns erlauben, einen Wechsel in der historischen Dynamik durch ein einziges Datum zu symbolisieren, erlebte das Jahr 1898 drei Ereignisse, die solch einen Wechsel kennzeichnen.
Das erste war die „Faschoda-Krise“, einer Konfrontation zwischen britischen und französischen Truppen um die Kontrolle über den Sudan. Damals schien die Gefahr, dass Frankreich und Grossbritannien wegen der Kontrolle über Ägypten und den Suez-Kanal und über die Frage, wer die Vorherrschaft in Afrika ausübt, in den Krieg treten, real zu sein. Stattdessen endete die Krise mit einer Verbesserung der britisch-französischen Beziehungen, die in der „Entente Cordiale“ 1904 formalisiert wurden, und in einer wachsenden Neigung Grossbritanniens, Frankreich gegen Deutschland zu stützen, das beide als eine Bedrohung ansahen. Die beiden „Marokko-Krisen“ 1905 und 1911[20] zeigten, dass fortan Grossbritannien deutsche Ambitionen in Nordafrika blockieren würde (auch wenn es bereit war, Deutschland einige Leckerbissen zu überlassen wie Portugals Kolonialbesitztümer).
Das zweite Ereignis war Deutschlands Besitzergreifung vom chinesischen Hafen Tsingtao (heute: Qingdao),[21] die Deutschlands Ankunft auf der imperialistischen Bühne als eine Macht mit weltweiten, nicht bloss europäischen Aspirationen – Weltpolitik, wie es damals in Deutschland genannt wurde – ankündigte.
Passenderweise war 1898 das Todesjahr von Otto von Bismarck, dem grossen Kanzler, der Deutschland durch die Vereinigung und rapide Industrialisierung geleitet hat. Bismarck hat stets den Kolonialismus und den Flottenbau abgelehnt, seine Aussenpolitik trug primär dafür Sorge, das Aufkommen von anti-deutschen Bündnissen unter anderen europäischen Mächten zu verhindern, die Deutschland den Aufstieg missgönnten – oder sich davor fürchteten. Doch zurzeit der Jahrhundertwende war Deutschland zu einer erstklassigen Industriemacht mit entsprechenden erstklassigen Ambitionen geworden, die nur von den USA übertroffen wurde. Luxemburg zitiert schliesslich Aussenminister von Bülow am 11. Dezember 1899: „Wenn die Engländer von einem Greater Britain (grösseren Britannien – R.L.), wenn die Franzosen von einem Nouvelle France (neuen Frankreich – R.L.) reden, wenn die Russen sich Asien erschliessen, haben auch wir Anspruch auf ein grösseres Deutschland (…) Wenn wir nicht eine Flotte schaffen, welche genügt (…), unseren Handel und unsere Landsleute in der Fremde, unsere Missionen und die Sicherheit unserer Küsten zu schützen, so gefährden wir die vitalsten Interessen des Landes (…) In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboss sein.“ (Hervorhebungen von R.L.) Und sie kommentiert: „Streift man die Redefloskeln von dem Küstenschutz, den Missionen und dem Handel ab, so bleibt das lapidare Programm: grösseres Deutschland, Politik des Hammers für andere Völker.“
Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutete Weltpolitik eine erstklassige Flotte zu haben. Wie Luxemburg sehr deutlich betont, hatte Deutschland keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Bedarf für eine Flotte: Niemand plante, Besitz von seinen Kolonien in China oder Afrika zu ergreifen. Eine Flotte war vor allen Dingen eine Angelegenheit des Prestiges: Um seine Expansion fortzusetzen, musste Deutschland als ernsthafter Mitspieler anerkannt sein, als eine Macht, mit der gerechnet werden muss, und dafür war eine „erstklassige aggressive Flotte“ eine Notwendigkeit. In Luxemburgs unvergesslichen Worten war es eine „Herausforderung nicht bloss an die deutsche Arbeiterklasse, sondern an die übrigen kapitalistischen Staaten, eine gegen niemand im besonderen, aber gegen alle insgesamt ausgestreckte geballte Faust.“
Die Parallele zwischen dem Aufstieg Deutschlands an der Wende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert und dem Aufstieg Chinas 100 Jahre später ist offensichtlich. Wie Bismarck ging es Deng Xiao ping mit seiner Aussenpolitik grösstenteils darum zu vermeiden, dass Chinas Nachbarn und der Welthegemon, die Vereinigten Staaten, auf den Plan gerufen werden. Doch mit seinem Aufstieg zur zweitgrössten Wirtschaftsmacht erfordert Chinas Prestige zumindest die Fähigkeit, seine maritimen Grenzen zu kontrollieren und seine Seewege zu schützen: daher die Aufrüstung seiner Flotte, der Aufbau einer U-Boot-Flotte und der Bau eines Flugzeugträgers sowie die jüngste Ausrufung einer „Flugüberwachungszone“ über dem Senkaku/Diaoyu-Eiland.
Die Parallele zwischen Deutschland 1914 und China heute ist natürlich nicht identisch, und dies besonders aus zwei Gründen: Erstens war Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur die zweitgrösste Industriemacht in der Welt nach den Vereinigten Staaten, es stand auch an der Spitze des technischen Fortschritts und der Innovation (wie dies zum Beispiel an der Zahl deutscher Nobelpreisgewinner und deutscher Innovationen in der Stahl-, Elektro- und Chemieindustrie ermessen werden kann); zweitens konnte Deutschland seine Militärmacht global ausrichten, wie es China nicht kann, zumindest noch nicht.
Und so wie die Vereinigten Staaten heute der Bedrohung ihres eigenen Prestiges und der Sicherheit ihrer Verbündeten (Japan, Südkorea und die Philippinen insbesondere) durch China begegnen müssen, so konnte Grossbritannien Deutschlands Flottenbau nur als eine Bedrohung ansehen, noch dazu als eine Bedrohung, die sich gegen die Lebensader der Kanalschifffahrt und gegen seine Küstenverteidigung richtete.[22]
Was immer seine Flottenambitionen waren, die natürliche Expansionsrichtung einer Landmacht wie Deutschland ging nach Osten und besonders zum verfallenden Osmanischen Reich; dies traf um so mehr zu, als seine Ambitionen in Afrika und im westlichen Mittelmeerraum von den Briten und Franzosen blockiert wurden. Geld und Militarismus gingen Hand in Hand, als deutsches Kapital in die Türkei floss[23] und um mehr Ellbogenfreiheit gegenüber seinen französischen und britischen Konkurrenten kämpfte. Ein grosser Anteil dieses deutschen Kapitals ging drauf für die Finanzierung der Bagdad-Bahn: Diese war eigentlich ein Liniennetz, das Berlin mit Konstantinopel und schliesslich mit dem Süden Anatoliens, mit Syrien und Bagdad, aber auch mit Palästina, dem Hidjas und Mekka verbinden sollte. Zu einer Zeit, in der Truppenbewegungen von Eisenbahnen abhingen, würde dies einer türkischen Armee ermöglichen, Truppen, ausgerüstet mit deutschen Waffen und ausgebildet von deutschen Instrukteuren, mithilfe der Eisenbahn zu mobilisieren, um sowohl die britische Ölraffinerie in Abadan (Persien)[24] als auch die britische Kontrolle über Ägypten und den Suezkanal zu bedrohen: Auch hier gab es eine direkte deutsche Bedrohung gegen vitale strategische Interessen Grossbritanniens.
Im weitaus grössten Teil des 19. Jahrhunderts ging die grösste Bedrohung der Sicherheit des britischen Empires von der russischen Expansion nach Zentralasien aus, die bis an die Grenzen Persiens reichte und eine Gefahr für Indien darstellte; durch Russlands Niederlage gegen Japan im Jahr 1905 hatten seine östlichen Ambitionen jedoch einen derartigen Dämpfer erlitten, dass – zumindest eine Zeitlang – die Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern in Persien, Afghanistan und Tibet in einer anglo-russischen Konvention 1907 bereinigt wurden. Nun war Deutschland der Rivale, dem es entgegenzutreten galt.
Die deutsche Ostpolitik hatte notwendigerweise ein strategisches Interesse am Balkan, am Bosporus und an den Dardanellen. Die Tatsache, dass die Route der Eisenbahnverbindung Berlin-Konstantinopel durch Wien und Belgrad geplant war, machte die Kontrolle über Serbien oder zumindest die serbische Neutralität zu einer Angelegenheit grosser strategischer Bedeutung für Deutschland. Dies konnte umgekehrt nur zu einem Konflikt mit einem Land führen, das zu Bismarcks Zeiten eine Bastion der autokratischen Reaktion und Solidarität und daher ein unerschütterlicher Verbündeter Preussens und des Deutschen Reiches war: Russland.
Spätestens mit der Herrschaft von Katharina der Grossen hatte sich Russland (in den 1770er Jahren) als Vormacht an der Schwarzmeerküste etabliert und die Osmanen ersetzt. Die immer wichtigere Bedeutung des Handels über das Schwarze Meer für die russische Industrie und Landwirtschaft stand und fiel mit der freien Passage durch den Bosporus, der von Konstantinopel kontrolliert wurde. Russlands Ambitionen reichten bis zu den Dardanellen und der Kontrolle des Seeverkehrs zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer (Russlands Absichten hinsichtlich der Dardanellen hatten 1853 bereits zu einem Krieg mit Grossbritannien und Frankreich auf der Krim geführt). Luxemburg fasst die Dynamiken in der russischen Gesellschaft zusammen, die die imperialistische Politik Russlands antreiben: „Einerseits äussert sich in den Eroberungstendenzen des Zarentums die traditionelle Expansion des gewaltigen Reichs, dessen Bevölkerung heute 170 Millionen Menschen umfasst und das aus wirtschaftlichen wie strategischen Gründen den Zutritt zum freien Weltmeer, zum Stillen Ozean im Osten, zum Mittelmeer im Süden, zu erlangen sucht.
Andererseits spricht hier das Lebensinteresse des Absolutismus mit, die Notwendigkeit, in dem allgemeinen Wettlauf der Grossstaaten auf weltpolitischem Felde eine achtungsgebietende Stellung zu behaupten, um sich den finanziellen Kredit im kapitalistischen Auslande zu sichern, ohne den der Zarismus absolut nicht existenzfähig ist (…) Allein auch moderne bürgerliche Interessen kommen immer mehr als Faktor des Imperialismus im Zarenreich in Betracht. Der junge russische Kapitalismus, der unter dem absolutistischen Regime natürlich nicht voll zur Entfaltung gelangen und in grossen und ganzen nicht aus dem Stadium des primitiven Raubsystems herauskommen kann, sieht jedoch bei den unermesslichen Hilfsquellen des Riesenreiches eine gewaltige Zukunft vor sich (…) Es sind die Ahnung dieser Zukunft und die Akkumulationsappetite sozusagen auf Vorschuss, die die russische Bourgeoisie mit einem sehr ausgeprägten imperialistischen Drang erfüllten und bei der Weltverteilung mit Eifer ihre Ansprüche melden lassen.“.[25]
Die Rivalität zwischen Deutschland und Russland in der Frage der Kontrolle über den Bosporus stand also unvermeidlich in einem Zusammenhang mit dem Balkan, wo der Aufstieg nationalistischer Ideologien, charakteristisch für den sich entwickelnden Kapitalismus, eine Situation permanenter Spannungen und zeitweiliger blutiger Konflikte zwischen den drei neuen Staaten geschaffen hat, die vom niedergehenden osmanischen Reich abgefallen waren: Griechenland, Bulgarien und Serbien. Diese drei Länder führten den ersten Balkan-Krieg als Verbündete gegen die Osmanen, dann den Zweiten Balkan-Krieg untereinander, um die Beute aus dem Ersten, besonders in Mazedonien und Albanien, neu aufzuteilen.[26]
Der Aufstieg aggressiver neuer Nationen auf dem Balkan konnten der anderen verfallenden Dynastie in dieser Region nicht gleichgültig bleiben: dem Habsburger Reich, das „nicht die politische Organisation eines bürgerlichen Staates, sondern bloss ein lockeres Syndikat einiger Cliquen gesellschaftlicher Parasiten ist, die mit vollen Händen unter Ausnutzung der staatlichen Machtmittel raffen wollen, solange der morsche Bau der Monarchie noch hält“.[27] So konstituiert, stand das Habsburger Reich unter ständiger Bedrohung durch die aufstrebenden neuen Nationen um sich herum; alle von ihnen teilten ethnische Bevölkerungsteile mit dem Habsburgerreich: daher die österreichisch-ungarische Annexion Bosnien-Herzegowinas, die der ständigen Sorge entsprang, Serbien daran zu hindern, Zugang zum Mittelmeer zu erlangen.
Um 1914 hatte sich die Situation in Europa zu einem tödlichen Zauberwürfel entwickelt, dessen verschiedene Teile derart ineinander verschränkt waren, dass die Bewegung eines Teils auch alle anderen Teile verschob.
Die hellwachen Schlafwandler
Bedeutet dies, dass die herrschende Klasse, dass die Regierungen nicht wussten, was sie taten? Dass sie – wie der Titel von Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler andeutet – irgendwie in den Krieg hineinschlitterten, dass der I. Weltkrieg nur ein fürchterlicher Fehler war?Pustekuchen! Sicherlich hielten die historischen Kräfte, die Luxemburg in der wahrscheinlich profundesten Analyse des Kriegsausbruchs, die je geschrieben wurde, schilderte, die Gesellschaft fest in ihrem Griff: In diesem Sinn war der Krieg das unvermeidliche Resultat der miteinander verzahnten imperialistischen Rivalitäten. Doch historische Situationen rufen die Menschen hervor, die sich mit ihnen messen, und die Regierungen, die Europa und die Welt in den Krieg zogen, wussten allzu gut, was sie taten; sie taten es bewusst. Die Jahre zwischen der Jahrhundertwende und dem Kriegsausbruch war von wiederholter Kriegshysterie gekennzeichnet, die von Mal zu Mal schlimmer wurde: die Tanger-Krise 1905, der Agadir-Zwischenfall 1911, der erste und zweite Balkan-Krieg. Jeder dieser Zwischenfälle liess die Pro-Kriegsfraktion aller herrschenden Klassen mehr in den Vordergrund treten und verstärkte das Gefühl, dass der Krieg unvermeidlich sei. Das Ergebnis war ein irrsinniges Wettrüsten: Deutschland setzte sein Flottenbau-Programm in Gang, und die Briten folgten dem Beispiel; Frankreich verlängerte die Dauer des Militärdienstes auf drei Jahre; riesige französische Anleihen finanzierten die Modernisierung der russischen Eisenbahnen, die dazu bestimmt waren, Truppen zur Westfront zu transportieren, genauso wie die Modernisierung der kleinen, aber effektiven Armee Serbiens. Alle Kontinentalmächte erhöhte die Anzahl der unter Waffen stehenden Männer.
In zunehmendem Masse davon überzeugt, dass der Krieg unvermeidlich sei, ging es für die Regierungen Europas nur noch um das „Wann“. Wann war die militärische Bereitschaft der Nation, verglichen mit ihren Rivalen, auf ihrem höchsten Stand? War doch dieser Moment der „richtige“ Augenblick für den Krieg.
Wenn Luxemburg im aufstrebenden Deutschland den neuen „von keinerlei Hemmung beschwerte(n) Imperialismus“ in der europäischen Gemengelage erblickte, bedeutete dies, dass die Mächte der Dreier-Entente (Grossbritannien, Frankreich, Russland) die unschuldigen Opfer der expansionistischen Aggression Deutschlands waren? Dies ist die These von gewissen „revisionistischen“ Historikern heute: Nicht nur dass der Kampf gegen den deutschen Expansionismus 1914 gerechtfertigt wurde, auch wurde im Kern 1914 als der Vorläufer des „guten Krieges“ 1939 betrachtet. Dies ist zweifellos der Fall, doch die Dreier-Entente war alles andere als ein unschuldiges Opfer, und der Gedanke, dass Deutschland allein „expansionistisch“ und „aggressiv“ war, ist lachhaft, wenn wir die Grösse des britischen Empires – das Resultat einer aggressiven britischen Expansion – mit jener Deutschlands vergleichen: Irgendwie scheint dies nicht in die Köpfe geistloser britischer Historiker zu gehen.[28]
In der Tat hatte die Dreier-Entente jahrelang eine Politik der Umzingelung Deutschlands betrieben (so wie die USA eine Umzingelungspolitik gegenüber der UdSSR während des Kalten Krieges betrieben hatten und nun dasselbe gegenüber China heute versuchen). Rosmer demonstrierte dies mit kompromissloser Klarheit auf der Grundlage der geheimen diplomatischen Korrespondenz unter den belgischen Botschaftern in den verschiedenen europäischen Hauptstädten.[29]
Im Mai 1907 schreibt der Botschafter in London: „Es liegt auf der Hand, dass das offizielle Grossbritannien eine hinterlistige und feindliche Politik verfolgt, die auf die Isolation Deutschlands abzielt, und dass König Edward (d.h. Edward VII.) ohne Zögern seinen eigenen persönlichen Einfluss zugunsten dieser Idee in die Waagschale geworfen hat.“[30] im Februar 1909 lässt der Botschafter in Berlin verlauten: „Der König von England beteuert, dass die Bewahrung des Friedens stets sein Ziel gewesen sei; er hat dies mehrfach wiederholt, seit er seinen erfolgreichen Feldzug begonnen hatte, Deutschland zu isolieren; doch kommt man nicht umhin zu bemerken, dass der Weltfrieden sich niemals in grösserer Gefahr befand, seitdem der König von England sich anschickte, ihn zu verteidigen.“[31] Auch im April 1913 vernehmen wir aus Berlin: „… die Arroganz und Geringschätzung, mit denen (die Serben) die Proteste der Regierung in Wien aufnehmen, können nur mit der Unterstützung erklärt werden, die sie von St. Petersburg erwarten. Der serbische diplomatische Geschäftsträger sagte hier jüngst, dass seine Regierung niemals ein solches Risiko auf sich nehmen würde, von Österreichs Drohungen keine Notiz zu nehmen, wenn sie nicht vom russischen Botschafter, Herrn Hartwig, ermutigt worden wäre…“[32]
In Frankreich wurde dem belgischen Botschafter in Paris (Januar 1914) die bewusste Entwicklung einer aggressiven chauvinistischen Politik völlig klar: „Ich hatte bereits die Ehre gehabt, Sie darüber zu informieren, dass es die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und ihre Freunde sind, die die nationalistische, hurrapatriotische und chauvinistische Politik erfunden hatten, deren Wiedergeburt wir heute erblicken (…) Ich sehe hier die grösste Gefahr für den europäischen Frieden (…), weil die von der Barthou-Regierung eingenommene Haltung in meiner Auffassung der ausschlaggebende Grund für die zunehmend militaristischen Tendenzen in Deutschland ist.“[33]
Die Wiedereinführung des dreijährigen Militärdienstes in Frankreich war keine Verteidigungspolitik, sondern eine vorsätzliche Kriegsvorbereitung. Hier noch einmal der Botschafter in Paris (Juni 1913): „Die Kosten des neuen Gesetzes werden so schwer auf der Bevölkerung liegen, die daraus resultierenden Ausgaben so exorbitant sein, dass das Land bald protestieren wird, und Frankreich wird mit dem Dilemma konfrontiert sein: entweder ein Abstieg, den es nicht dulden kann, oder einen Krieg auf kurze Sicht.“[34]
Wie den Krieg erklären
Zwei Faktoren flossen in den Vorkriegsjahren in die Kalkulationen der Staatsmänner und Politiker ein: Der erste war die Einschätzung ihrer eigenen militärischen Vorbereitung und die ihrer Feinde, doch der zweite – gleichermassen wichtig, selbst im autokratischen zaristischen Russland – war die Notwendigkeit, gegenüber der Welt und der eigenen Bevölkerung, insbesondere den ArbeiterInnen, als die angegriffene Seite aufzutreten, die allein in Selbstverteidigung handelt. Alle Mächte wollten in den Krieg, der allerdings von dem anderen angefangen werden musste: „Das Spiel bestand darin, den Feind dazu zu verleiten, eine Handlung zu begehen, die gegen ihn benutzt werden kann, oder Nutzen aus einer Entscheidung zu ziehen, die er bereits getroffen hatte.“[35]Die Ermordung von Franz Ferdinand, die den Funken entzündete, um den Krieg auszulösen, war schwerlich das Werk eines isolierten Individuums: Gavrilo Principe feuerte zwar den fatalen Schuss ab, doch er war nur einer aus einer Gruppe von Attentätern, die sich selbst in einem der Netzwerke der ultranationalistischen serbischen Gruppierungen „Schwarze Hand“ und Narodna Odbrana („Nationale Verteidigung“) organisiert hatten und von ihnen bewaffnet wurden; Netzwerke, die geradezu ein Staat im Staate bildeten und deren Aktivitäten der serbischen Regierung und insbesondere ihrem Premierminister Nicolas Pasiĉ zweifellos bekannt waren. Die Beziehungen zwischen der serbischen und der russischen Regierung waren extrem eng, und es gilt als sicher, dass die Serben eine solche Provokation nicht unternommen hätten, wären ihnen nicht die russische Unterstützung im Falle einer österreichisch-ungarischen Reaktion zugesichert worden.
Für die österreichisch-ungarische Regierung erschien das Attentat wie eine Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, um Serbien an die Kandare zu nehmen.[36] Die Polizeiuntersuchungen hatten nur wenig Mühe, mit dem Finger auf Serbien zu zeigen, und die Österreicher rechneten mit einem Schock unter den herrschenden Klassen Europas, um deren Unterstützung oder zumindest Neutralität zu erreichen, als sie Serbien angriffen. In der Tat hatte das Habsburger Reich keine andere Wahl, als Serbien zu attackieren oder zu demütigen: Alles darunter wäre ein verheerender Schlag gegen sein Prestige und seinen Einfluss in der kritischen Balkanregion gewesen und hätte sie völlig dem russischen Rivalen überlassen.
Die französische Regierung sah in einem „Balkan-Krieg“ ein ideales Szenario für ihren Angriff gegen Deutschland: Wenn Deutschland in einen Verteidigungskrieg der Habsburger hineingezwungen werden konnte und Russland Serbien zu Hilfe kommen würde, dann konnte die französische Mobilmachung als eine Vorsorgemassnahme gegen die Drohung eines deutschen Angriffs dargestellt werden. Darüber hinaus war es äusserst unwahrscheinlich, dass Italien, nominell ein Verbündeter Deutschlands, aber mit seinen eigenen Interessen auf dem Balkan, in den Krieg ziehen würde, um die Stellung des Habsburger Reichs in Bosnien-Herzegowina zu verteidigen.
Angesichts des Bündnisses, das sich gegen Deutschland aufstellte, fand sich Letzteres in einer Position der Schwäche wieder, mit den Habsburgern, jenem „lockere(n) Syndikat einiger Cliquen gesellschaftlicher Parasiten“, um Luxemburgs Worte zu benutzen, als einzigen Verbündeten. Die Kriegsvorbereitungen in Frankreich und Russland, der Ausbau ihrer Entente mit Grossbritannien führten die deutschen Strategen zunehmend zur Schlussfolgerung, dass der Krieg eher früher denn später ausgefochten werden müsse, bevor seine Gegner vollständig vorbereitet waren. Daher die Bemerkung des Kanzlers Bethmann-Hollweg: „Sollte sich der Konflikt (zwischen Serbien und dem Habsburger Reich) ausbreiten, dann ist es absolut notwendig, dass Russland die Verantwortung tragen muss.“[37]
Die britische Bevölkerung war kaum daran interessiert, in den Krieg zu ziehen, um Serbien oder gar Frankreich zu verteidigen. Grossbritannien benötigte daher ebenfalls „einen Vorwand, um den Widerstand eines grossen Teils der öffentlichen Meinung zu überwinden. Deutschland lieferte einen exzellenten Vorwand, indem es seine Armeen durch Belgien marschieren liess.“[38] Rosmer zitiert in diesem Zusammenhang aus Viscount Eshers Tragedy of Lord Kitchener: „Die deutsche Invasion Belgiens bewahrte, obwohl sie keinen wesentlichen Unterschied für den Beschluss ausmachte, der von (Premierminister) Asquith und (Aussenminister) Grey bereits gefasst worden war, die Einheit der Nation, wenn nicht sogar die Integrität der Regierung.“[39] In Wirklichkeit waren die britischen Pläne für einen Angriff gegen Deutschland, etliche Jahre lang zusammen mit dem französischen Militär vorbereitet, lange vor der Verletzung der belgischen Neutralität ausgearbeitet worden…
Die Regierungen aller kriegführenden Nationen mussten also ihre „öffentliche Meinung“ zur Annahme verleiten, dass der Krieg, den sie vorbereiteten und den sie jahrelang vorsätzlich angestrebt hatten, ihnen unfreiwillig aufgezwungen worden sei. Das kritische Element in dieser „öffentlichen Meinung“ war die organisierte Arbeiterklasse mit ihren Gewerkschaften und Sozialistischen Parteien, die jahrelang ihre klare Opposition gegen den Krieg erklärt hatten. Der wichtigste Einzelfaktor, der den Weg zum Krieg öffnete, war daher der Verrat durch die Sozialdemokratie und ihre Unterstützung dessen, was die herrschende Klasse fälschlicherweise als „Verteidigungskrieg“ porträtiert hat.
Die tieferliegenden Ursachen dieses monströsen Verrats an der elementarsten internationalistischen Pflicht der Sozialdemokratie werden das Thema eines späteren Artikels sein. Es genügt hier zu sagen, dass die heutige Behauptung der französischen Bourgeoisie, dass „politische, soziale, religiöse Streitereien… im Nu verschwanden“, eine schamlose Lüge ist. Im Gegenteil, Rosmers Bericht über die Tage vor dem Kriegsausbruch handelt von ständigen Arbeiterdemonstrationen gegen den Krieg, die brutal von der Polizei unterdrückt wurden. Am 27. Juli rief die CGT zu einer Demonstration auf, und „von neun Uhr bis Mitternacht (…) strömte eine enorme Menge ohne Pause entlang der Boulevards zusammen. Eine riesige Anzahl von Polizisten wurde mobilisiert (…) Doch die Arbeiter, die von den Aussenbezirken ins Stadtzentrum strömten, waren so zahlreich, dass die Polizeitaktiken (der Zersplitterung der ArbeiterInnen) zu einem unerwarteten Resultat führten: Es gab bald so viele Demonstrationen, wie es Strassen gab. Die Polizei scheiterte mit ihrer Gewaltsamkeit und Brutalität, der Kampfkraft der Menge einen Dämpfer zu verpassen; den ganzen Abend hindurch hallte der Ruf ‚Nieder mit dem Krieg' von der Oper bis zum Place de la République wider.“[40] Die Demonstrationen wurden am folgenden Tag fortgesetzt und breiteten sich bis zu den grösseren Städten in der Provinz aus.
Die französische Bourgeoisie sah sich einem weiteren Problem gegenüber: der Haltung des sozialistischen Führers Jean Jaurès. Jaurès war Reformist zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, als der Reformismus zu einem unhaltbaren Mittelweg zwischen Bourgeoisie und Proletariat geworden war, doch Jaurès fühlte sich zutiefst der Verteidigung der Arbeiterklasse verpflichtet (und sein Ruf und Einfluss unter den ArbeiterInnen war aus diesem Grund sehr gut), und er war leidenschaftlich gegen den Krieg. Am 25. Juli, als die Presse von Serbiens Ablehnung des österreichisch-ungarischen Ultimatums berichtete, befand sich Jaurès wegen einer Rede auf einer Wahlveranstaltung in Vaise in der Nähe von Lyon: In seiner Rede widmete er sich nicht den Wahlen, sondern der fürchterlichen Kriegsgefahr. „Niemals in den vergangenen 40 Jahren ist Europa mit einer solch bedrohlichen und tragischen Situation konfrontiert worden (…) Eine fürchterliche Gefahr bedroht Frieden und Menschenleben, wogegen die Proletarier Europas die höchsten Anstrengungen der Solidarität unternehmen müssen, zu denen sie in der Lage sind.“[41]
Zunächst glaubte Jaurès den falschen Zusicherungen der französischen Regierung, dass sie für den Frieden arbeite, doch nach dem 31. Juli war er desillusioniert und rief im Parlament einmal mehr die ArbeiterInnen zum äussersten Widerstand auf. Rosmers greift die Geschichte auf: „… wurden Gerüchte verbreitet, dass der Artikel, den er in Kürze für die Samstagsausgabe der L'Humanité schreiben sollte, ein neues ‚J'accuse' (Ich klage an)[42] sein würde und die Intrigen und Lügen anprangern werde, die die Welt an den Rande eines Krieges gebracht hätten. Am Abend (…) führte er eine Delegation der sozialistischen (Parlaments-)Gruppe zum Quai d'Orsay an.[43] (Aussenminister) Viviani war abwesend, und die Delegation wurde von Unterstaatssekretär Abel Ferry empfangen. Nachdem er Jaurès hat reden lassen, fragte Ferry, was die Sozialisten in der Situation zu tun gedachten. ‚Unsere Kampagne gegen den Krieg fortsetzen', antwortete Jaurès. Worauf Ferry antwortete: ‚Das werden Sie niemals wagen, denn dann würden Sie an der nächsten Strassenecke umgelegt werden.'[44] Zwei Stunden später wurde Jaurès bei seiner Rückkehr zu seinem L'Humanité-Büro, wo er den gefürchteten Artikel schreiben wollte, von dem Attentäter Raoul Villain niedergeschossen; zwei Revolverschüsse aus nächster Nähe verursachten seinen sofortigen Tod.“[45]
Zweifelsohne überliess die herrschende Klasse Frankreichs nichts dem Zufall, um „Einheit und nationalen Zusammenhalt“ sicherzustellen.
Kein Krieg ohne die ArbeiterInnen
Wenn also die Kränze niedergelegt sind, wenn die Grosskopferten während der Gedenkfeiern, für die unsere Herrscher Millionen von Pfund oder Euros ausgegeben haben, ihre Häupter in Trauer gebeugt haben, wenn die Trompeten am Ende dieser pathetischen Zeremonien den letzten Ton von sich gegeben haben, wenn die Dokumentationen sich auf den Fernsehbildschirmen entfaltet und die gelehrten Historiker über all die Gründe für den Krieg ausser den einen, auf dem es ankommt, und über all die Faktoren, die den Krieg möglicherweise verhindert hätten ausser den einen, der wirklich Gewicht hatte, geredet haben, dann lasst die Proletarier der Welt sich erinnern.Lasst sie sich daran erinnern, dass der I. Weltkrieg nicht von einem historischen Zufall verursacht wurde, sondern von dem unerbittlichen Walten des Kapitalismus und Imperialismus, dass der Weltkrieg eine neue Epoche in der Geschichte einleitete, eine „Epoche der Kriege und Revolutionen“, wie die Kommunistische Internationale sie nannte. Diese Epoche ist auch heute noch präsent, und dieselben Kräfte, die die Welt 1914 in den Krieg trieben, sind auch heute verantwortlich für die endlosen Massaker im Mittleren/Nahen Osten und Afrika, für die noch gefährlicheren Spannungen zwischen China und dessen Nachbarn im Südchinesischen Meer.
Lasst sie sich daran erinnern, dass Kriege ohne ArbeiterInnen als Kanonenfutter und zur Bemannung der Fabriken nicht ausgefochten werden können. Lasst sie sich daran erinnern, dass die herrschende Klasse die nationale Einheit für den Krieg benötigt und dass sie über Leichen geht, um sie zu bekommen, von polizeilicher Repression bis hin zum blutigen Mord.
Lasst sie sich daran erinnern, dass es eben jene „sozialistischen“ Parteien, die heute an der Spitze jeder pazifistischer Kampagne und jedes humanitären Protestes stehen, sind, die 1914 das Vertrauen unserer Vorfahren verraten hatten und sie unorganisiert und wehrlos zurückliessen, statt sich der Kriegsmaschinerie des Kapitalismus entgegenzustellen.
Und lasst sie sich schliesslich daran erinnern, dass, wenn die herrschende Klasse solche Anstrengungen unternommen hat, die Arbeiterklasse 1914 zu neutralisieren, dies nur deshalb geschah, weil das Weltproletariat eine wirksame Barriere gegen den imperialistischen Krieg sein kann. Nur das Weltproletariat trägt in sich die Hoffnung, den Kapitalismus und die Kriegsgefahren ein für allemal zu überwinden.
Vor einhundert Jahren stand die Menschheit vor einem Dilemma, dessen Lösung in den Händen allein des Proletariats lag: Sozialismus oder Barbarei. Dieses Dilemma herrscht noch heute.