Zusammenfassung
- Der offizielle Friedensprozess für Nordmali hat nicht zur Entmachtung der bewaffneten Gruppen geführt, sondern zur Vervielfachung von Milizen. Die Grenzen zwischen Bündnispartnern, Dschihadisten und Grosskriminellen sind fliessend. In Zentralmali vermischt sich unterdessen Dschihadismus mit sozialer Revolte.
- Den Dialog mit Dschihadisten zu tabuisieren wird als Diktat der europäischen Partner empfunden und trägt zum Gefühl der Entmündigung bei.
- Die UN-Mission Minusma und die Dominanz internationaler Akteure in der Entscheidung über malische Belange wird als Belastung gesehen.
- Die Qualität der «Gouvernance», der Regierungsführung, hat unter Präsident Ibrahim Boubacar Keita einen Tiefpunkt erreicht.
- Die Krise hat neue Dynamiken in der jungen Generation und eine gestärkte Opposition hervorgebracht. Beides wird für den Friedensprozess nicht genutzt.
- Der Staat ist heute in weniger Gebieten präsent als noch vor fünf Jahren. Die für Juli 2018 geplanten Präsidentschaftswahlen sind deshalb fraglich geworden
- Fazit: Ein in mehrfacher Hinsicht von aussen dominiertes Vorgehen hat im Bündnis mit einer miserablen Regierungsführung das Land noch näher an den Abgrund gebracht.
I Einleitung: Ursachen und Gesichter der Krise
Die Krise in Mali ist von komplexer Natur. Ihr Verständnis fällt jedoch leichter, wenn zwei Faktoren beachtet werden, die zu Beginn des Jahres 2012 die darauffolgenden Ereignisse überhaupt erst möglich machten: einerseits der Sturz des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi (mithilfe der NATO beschleunigt), andererseits der fortgesetzte Verfall der malischen Demokratie. Schwer bewaffnete Tuareg-Kämpfer, aus libyschen Söldner-Diensten kommend, eroberten unter Führung der neuen Rebellengruppe MNLA[1] und im Bündnis mit Dschihadisten rasch grosse Teile Nordmalis. Die hohen Opferzahlen in der unterlegenen malischen Armee veranlassten einen Unteroffizier in der Hauptstadt Bamako zum Putsch gegen den Präsidenten – das System fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.Die MNLA rief derweil im Norden den Separatstaat Azawad aus, wurde aber nach kurzem Bruderkrieg von den waffenstärkeren Dschihadisten vertrieben. Die Okkupation der Region trug nun die Züge einer religiös begründeten Unterdrückung.
Als im Januar 2013 die Kämpfer zweier djihadistischer Organisationen über die Grenze des bisherigen Besatzungsgebiets hinaus Richtung Süden vorrückten, bat der malische Interimspräsident Dioncounda Traoré Frankreich um Luftunterstützung für die malischen Streitkräfte. Doch Frankreichs Präsident Francois Hollande bevorzugte – auch aus innenpolitischen Gründen – eine grosse Lösung und schickte in den folgenden Tagen und Wochen 4.000 Soldaten auf dem Landweg in den Norden. Den Truppen der Mission «Serval» gelang in kurzer Zeit die Befreiung der Städte Timbuktu und Gao; dann verdrängten sie binnen dreier Monate einen Grossteil von geschätzt 2.000 dschihadistischen Kämpfern in die Sahara bzw. über die Landesgrenze nach Algerien.
In Kidal, Malis einzigem Gebiet mit einer Tuareg-Mehrheit, wurde das offizielle Ziel der Mission, Malis staatliche Integrität wiederherzustellen, aus taktischen Gründen hintangestellt: «Serval» erlaubte der MNLA stillschweigend die militärische Kontrolle von Kidal, nicht zuletzt, um ihre ortskundigen Kämpfer für die Suche nach französischen Geiseln in entlegenen Stellungen der Dschihadisten zu gewinnen. Eine Entscheidung mit gravierenden Folgen: Die staatliche Integrität, nominell Ziel auch der folgenden Missionen, ist bis heute nicht erreicht, und Frankreich wird dafür aus malischer Sicht ein Gutteil an Schuld gegeben.
Obwohl der Staat in weiten Teilen des Nordens nicht Fuss fassen konnte, wurde auf Drängen der EU, die einen rechtsstaatlich legitimierten Partner für den War on Terror brauchte, bereits im Juli 2013 ein neuer Präsident gewählt. Der Sieger Ibrahim Boubacar Keita, IBK genannt, ist ein altes Krokodil des politischen Apparats.
Auf eine kurzzeitige Militärmission unter Führung der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft folgte ab 1. Juli 2013 die «Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali» – kurz Minusma. Zunächst auf ein Jahr befristet, seitdem jährlich verlängert (derzeit bis 30. Juni 2018), soll die Misson – gegenwärtig
11.231 Soldaten plus 1.745 Polizisten – den Friedens- und Versöhnungsprozess unterstützen, für den Schutz der Zivilbevölkerung und der Menschenrechte sorgen und beim Neuaufbau von Sicherheitsstrukturen helfen. Doch das Mandat verkennt die Realität: Den Frieden, den die Minusma stabilisieren soll, gibt es nicht; stattdessen sind die Blauhelme selbst vermehrt Ziel von Anschlägen. Und trotz eines robusteren Mandats seit Juni 2016 beschleunigt sich die Todesrate.[2]
Den Kampf gegen zurückkehrende oder neu rekrutierte Djihadisten führen seit 2014 rund 1.000 französische Spezialkräfte der «Opération Barkhane» (in den Ländern der Sahelzone mit insgesamt 4.000 Soldaten vertreten). Nach eigenen Angaben zerstört Barkhane pro Jahr sechs Tonnen an Ausrüstung und Munition[3] und macht regelmässig Dschihadisten «unschädlich».
«Militärisch gesehen funktioniert die Mission Barkhane», sagt der französische Militärexperte Roland Marchal. «Das Problem ist: Damit das klappt, mussten die Soldaten lokale Allianzen eingehen, auch mit fragwürdigen Gestalten. Das war nicht gut für die Region. Der Drogenhandel zum Beispiel blüht mehr denn je. Mali ist heute sehr viel weniger sicher als 2014, als die Opération Barkhane begann.»[4]
Verminung von Strassen und Selbstmordanschläge haben erst nach Beginn der internationalen Intervention begonnen. Die Zivilbevölkerung wurde von einer Besatzung befreit, leidet aber heute unter einem irregulären Krieg, der sich – wenngleich mit anderen Ursachen – auf Zentralmali ausweitet.
Ihm fielen (bis Januar 2018) 146 Blauhelme zum Opfer, weitere 500 wurden schwer verletzt. Einem Informanten aus den malischen Streitkräfte zufolge sterben gegenwärtig täglich drei Malier: zwei Soldaten, ein Zivilist.
Nach UN-Angaben leben 140.000 Nordmalier weiterhin in Lagern der Nachbarländer – ein Grossteil der 2012/13 ins Ausland Geflüchteten. 30.000 Malier wurden zusätzlich seit Anfang 2017 neu vertrieben. Die Schulen von 150.000 Kindern sind in Nord- und Zentralmali geschlossen.
Obwohl viel Militär bisher wenig gebracht hat, kommt künftig noch mehr Militär zum Einsatz: eine 10.000 Soldaten starke Truppe der G5-Sahelstaaten.
Die Studie benennt im Folgenden Schlüsselfaktoren für die dramatische Verschlechterung der Lage, beschreibt den malischen Blick auf die Krise und skizziert bisher ungenutzte zivile Potentiale für ihre Bewältigung.
II Der Norden: Wie ein Friedensvertrag den Unfrieden fördert
Nach acht Monaten Verhandlungen in Algier, unter der Schirmherrschaft einer internationalen Vermittlergruppe, wurde im Mai 2015 in Bamako ein 32-seitiges «Abkommen für Frieden und Versöhnung» unterzeichnet. Zur Vermittlergruppe zählten neben Algerien (federführend) u.a. die EU, Minusma, die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft, die Organisation für Islamische Zusammenarbeit.Anders als noch 2013, als in Ouagadougou ein vorläufiges Friedensabkommen ausgehandelt wurde, bedeutete das Ziel eines «inklusiven nationalen Dialog» jetzt nicht mehr, alle Bevölkerungsgruppen des Nordens einzubeziehen. Verhandlungen und Vertrag beschränkten sich auf die Einigung zwischen der malischen Regierung und zwei Formationen bewaffneter Gruppen: eine den separatistischen Rebellen nahestehende «Coordination» und eine loyalistische, aus sogenannten Pro-Bamako-Milizen bestehende «Plateforme». Letztere war am Ausbruch der Krise nicht beteiligt, hatte aber in der Zwischenzeit militärisch an Gewicht gewonnen.
Der Staat war also nicht das direkte Gegenüber derer, die ihn ursprünglich angegriffen hatten, sondern verkörperte einen Schenkel eines Dreiecks. Neben anderen Faktoren trug diese Konstruktion dazu bei, dass die Regierung den Friedensvertrag später als aufgezwungen ansah. Der oppositionelle Politiker Tiébilé Dramé, ein ehemaliger Aussenminister und Unterhändler in Ouagadougou, sagt heute sogar: «In Algier war der malische Staat Zuschauer, nicht Akteur.»
Tatsächlich wurde der Zuschnitt des Friedensvertrags zur Ursache vielerlei Übel. So lohnt es sich nun, bewaffnet zu sein, denn nur Bewaffneten steht in Aussicht, nach einem Entwaffnungsprozess einen Job bei den Sicherheitskräften zu erhalten und auch bei der Einrichtung neuer politischer Regionalstrukturen Berücksichtigung zu finden. Die Zahl der Milizen vergrössert sich zugleich ständig, teils durch Aufsplitterungen, teils durch Neugründungen. Ihnen allen werden die genannten Vorteile im Friedensprozess in Aussicht gestellt, sofern sie sich einer der beiden im Friedensvertrag exklusiv genannten Koalitionen anschliessen.
Immer mehr bewaffnete Kräfte unterschiedlicher Couleur verschaffen sich so das Etikett «Compliant Armed Group» (CAG). Sie gelten als Partner, im Unterschied zu den «Terrorist Armed Groups» (TAG). Letztere, also die Dschihadisten, blieben bei den Friedensverhandlungen aussen vor. Dies entsprach politisch der Linie des Westens und verband sich zudem mit einem konkreten Kalkül: In jenem Masse, wie die Tuareg-Rebellen vom Friedensprozess profitieren, würden sie sich von ihren einstigen dschihadistischen Bündnispartnern weiter entfernen. Und je mehr sich Nordmali stabilisiere, desto schärfer würde die Grenze zwischen CAG und TAG. – Nichts davon ist in Erfüllung gegangen.
Das Tableau der bewaffneten Gruppen ändert sich bis heute nahezu täglich; nur einige wenige Experten bei Minusma, Barkhane und Bundeswehr versuchen, sich im Gewirr von ähnlich klingenden Abkürzenden auf dem Laufenden zu halten. Diese Dynamik ist weniger von politischen als von wirtschaftlichen Motiven geprägt: Es geht um die Kontrolle der Routen des Drogenschmuggels und seine Erlöse. Dabei haben sich die Formationen sowohl innerhalb der Tuareg- wie innerhalb der malisch-arabischen Community in jeweils konkurrierende Fraktionen aufgespalten. Die einzelnen bewaffneten Gruppen sind zunehmend von je einem Klan dominiert, quasi als Privatarmee zur Sicherung seiner Geschäfte.
Rivalitäten sowohl zwischen den Communities des Nordens – Tuareg, Araber, Songhoi, Peulh u.a. – als auch zwischen Klans und sozialen Schichten innerhalb der Ethnien sind keine neue Erscheinung. Doch benutzen nun insbesondere bei Tuareg und Arabern Kräfte, die um einen sozialen Aufstieg kämpfen, den Friedensprozess als Vehikel, um mit eigenen Milizen ins Geschehen einzugreifen. Die militärisch starke Pro-Bamako-Miliz GATIA[5] speist sich aus einem Zweig der Tuareg, der nicht zu deren Adelsklasse gehört, und wird von ehemaligen Armee-Offizieren geführt.
Zwei einflussreiche Patriarchen, die auf Seiten der Tuareg wie der Araber früher Spannungen in ihren Gemeinschaften im Zaum hielten, verstarben beide Ende 2014. Ihre Söhne, selbst in bewaffnete Kämpfe involviert, konnten das friedensstiftende Erbe der Väter nicht antreten. Es zeigt sich hier, was später auch für Zentralmali sichtbar wird: traditionelle Bindungen erodieren. Das ist ein Faktor der Krise.
Die Ausrichtung des Friedensprozesses begünstigt nicht nur den Drogenhandel, sondern auch die Straflosigkeit für alltägliche Gewaltkriminalität, unter der die Bevölkerung zunehmend leidet. «Die grossen Banditen sind alle bekannt», sagt ein UN-Polizist in Gao. «Aber wenn jemand verhaftet wird, stehen eine Stunde später hundert Leute von einer der bewaffneten Gruppen vor der Gendarmerie und verlangen seine Freilassung unter Hinweis darauf, dass sie ‚compliant' seien. Und derjenige, der für die Verhaftung den Tipp gegeben hat, zahlt dann den Preis.»
Weil der Friedensprozess für sie Vorteile bringt, haben die bewaffneten Gruppen ein Interesse daran, ihn aufrechtzuerhalten – aber nicht daran, ihn zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Ähnliches trifft nach Ansicht malischer Gesprächspartner auf die herrschende politische Elite in Bamako zu: Es sei in ihrem Interesse, den Zustand von Unsicherheit und Instabilität zu verlängern, da die Anwesenheit der internationalen Akteure ihr Macht und Einkünfte sichert.
Am Friedensprozess sind also jene beteiligt, die an einem Erfolg wenig interessiert sind, während die Zivilbevölkerung des Nordens, nach Frieden dürstend, weitgehend ausgeschlossen ist. Auf die Kraft der Frauen wird nahezu vollständig verzichtet – obwohl alle Gewalttaten dieser Krise ein Brandzeichen von Machismus tragen.
«Kein Entwaffnungsprozess funktioniert ohne Einbeziehung der Frauen», kritisiert die Brigadegeneralin Coulibaly Kani Diabaté, die bis vor kurzem ein Programm gegen die Verbreitung von Kleinwaffen leitete. «Die Mütter wissen immer, was die Söhne mit ihren Waffen machen.» Durch das Ausserachtlassen der Frauen, die meist Hüterinnen des kargen Familieneinkommens sind, wird auch versäumt, auf das Nachwachsen von Dschihadisten Einfluss zu nehmen. Junge Männer lassen sich schlicht für Geld anwerben, eine Mine zu legen. Bibata Haidara, Aktivistin eines Bürgervereins in Gao und Witwe mit zwei arbeitslosen Söhnen: «Was soll ich ihnen sagen, wenn sie zu den Dschihadisten gehen wollen? Man kann nicht Sicherheit in einer Region schaffen, die kein Einkommen hat.»
Die Dominanz der Bewaffneten prägt auch neue politische Institutionen im Norden, die eigentlich den Staat bürgernäher machen sollten. Die sogenannten Übergangsautoritäten, 2017 in fünf neu zugeschnittenen Verwaltungsregionen eingesetzt, lehnen sich jeweils an eine der bewaffneten Koalitionen an. Die Region Taoudeni im hohen Norden, mit 323.000 km² die grösste und am dünnsten besiedelte des Landes, wird gar gemeinsam von einer arabischen «Compliant»-Gruppe («Mouvement arabe de l'Azawad» ) und Al-Qaida im Islamischen Maghreb (Aqmi) kontrolliert – mit vollem Wissen von Staat und Vereinten Nationen.
«Die Grenzen zwischen Terroristen und Partnern werden immer verschwommener», klagt ein Vertreter der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Und es ist für niemanden ein Geheimnis, dass all das zum Tod vieler Blauhelme führt. In einem Minusma-Bericht von März 2017 heisst es: «Die transnationale organisierte Kriminalität und der Schmuggel schaffen ein ständiges Einkommen für die gewalttätigen extremistischen Gruppen, die in Mali operieren und die Minusma angreifen.»
Von dem, was der Friedensvertrag dem Norden an Entwicklungsfortschritt verspricht, ist bisher gleichfalls wenig zu sehen. Ausländische Partner scheuen Projekte in Gegenden, wo sie sich nicht medienwirksam ausstellen lassen. Und die malische Regierung macht die Anwesenheit staatlicher Sicherheitskräfte am jeweiligen Ort zur Voraussetzung für Investitionen. «Dabei weiss jeder, der in der Region reist, dass es zehn Kilometer hinter Timbuktu keinen Staat mehr gibt», sagt der Politiker Dramé.
Obwohl die Friedensdividende im Norden kaum angekommen ist, sehen Malier im Süden den Norden als bevorteilt. Die geplante Aufnahme von Ex-Rebellen in die Armee gilt als «Prämie fürs Rebellieren».
Diese Sicht wird durch den Umstand gestärkt, dass über die Verbrechen von MNLA-Kämpfern bei der Eroberung des Nordens (Vergewaltigungen, Plünderungen etc.) ein Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Der Friedensvertrag verbietet zwar eine Amnestie für schwere Vergehen, doch wurden bereits während der Verhandlungen mutmassliche Täter von Rebellenseite aus der Haft entlassen, als sogenannte vertrauensbildende Massnahme. «Die Regierung hat sogar die Klagen zurückgezogen, die sie in Den Haag erhoben hatte. Das hat im Land sehr viel Kritik ausgelöst. Aber was sollte man machen? Die internationale Mediation hat die Regierung zu diesem Schritt gedrängt», sagt Ousmane Sidibé, Präsident der nationalen «Kommission Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung».
Dieses Gremium verkörpert den verspäteten Versuch, jedwedes Opfer anzuhören; von Anfang 2016 bis Ende 2017 wurden 6.000 Zeugenaussagen gesammelt. Den Opfern, die sich in 76 Vereinigungen organisiert haben, oft Frauen und junge Mädchen, geht das zu langsam. Mehr als 400 Anklagen liegen schon lange und meist unbearbeitet bei malischen Gerichten, auch gegen Verbrechen der Armee.
Der Flut von Unrecht stehen bis heute nur zwei Verurteilungen entgegen. Der einstige Chef der «Islamischen Polizei» von Gao bekam in Bamako zehn Jahre Haft. Für die Zerstörung von Mausoleen in Timbuktu wurde ein Lehrer vom Internationalen Strafgerichtshof zu neun
Jahren Gefängnis sowie Reparationen in Höhe von 2,7 Millionen Euro verurteilt. Beide Täter waren eher dschihadistische Unteroffiziere, keine Drahtzieher.
In der Wahrheitskommission sind übrigens die bewaffneten «Compliant»-Gruppen erneut überproportional vertreten. Als das Gremium berufen wurde, schien seine alleinige Aufgabe, Licht auf Verlauf und Geschichte der Konfrontationen im Norden zu bringen. Wie so vieles wurde der Plan vom Krisengeschehen überrollt, neue Opfer drängen vom Schauplatz Zentralmali hinzu, den Befragern pfeifen die Kugeln um die Ohren. Die erste Wahrheitskommission der Welt, die im laufenden Konflikt ermittelt.
In dieser Topographie der Unübersichtlichkeit ist auch die Rolle der Bundeswehr keineswegs so klar und so nutzbringend, wie sie dem Bundestag gegenüber gern dargestellt wird. Als Kontingent der Minusma sind gegenwärtig 950 Soldaten in der Stadt Gao stationiert. Offiziell verlässt die Hälfte von ihnen nicht das Camp; inoffiziell wird dieser Anteil als höher erachtet – die Deutschen gelten in Mali als Weltmeister des Selbstschutzes. Der Beginn der Mission im Jahr 2013 wird von Diplomaten heute mit übergeordneten Motiven erklärt: Frankreich wollte militärische Unterstützung für seine Afrika-Missionen, zur Wahl stand noch die Zentralafrikanische Republik – dann doch lieber Mali. Dem Bundestag und der Öffentlichkeit gegenüber argumentierte man mit der Gefahr des Sahara-Dschihadismus für Europa.
Mittlerweile hat der Einsatz eine schleichende Umwidmung erfahren: Migrationsbekämpfung. «Wenn wir hier abzögen, dann würden sich Millionen auf die Reise nach Europa machen», sagt ein Bundeswehr-Offizier. Ein Angehöriger der Minusma, der das Terrain kennt, widerspricht der Prognose: «Machen wir uns doch nichts vor: Gao ist heute ein Drehkreuz der illegalen Migration, und alles geschieht ganz offen unter unseren Augen.»
Allerdings habe die Mission durch das neue Primat der Migrationsbekämpfung «eine Bedeutung erhalten, die ein Umsteuern so schwierig macht», meint ein europäischer Diplomat. «Tatsächlich müssen wir uns fragen, ob wir durch unser Vorgehen nicht den Friedensprozess verlangsamen und ihm eine Richtung geben, die in Mali eigentlich niemand will.»
III Zentralmali: Wenn Dschihadisten sauberer wirken als Beamte
Seit 2015 ist das geographische Zentrum des Landes zu einer neuen Zone der Unsicherheit geworden. Die Region wird von einer Bewegung erschüttert, die zwischen islamistischem Terror und sozialer Revolte changiert. Sie rekrutiert sich oftmals aus jungen Hirten der Peulh-Ethnie; sie vertreiben die Repräsentanten eines Staates, den sie nur als Unterdrücker kennen, richten Steuereintreiber und Bürgermeister hin.Dieses Phänomen als pure Ausweitung der Krise Nordmalis zu betrachten, wäre falsch. Im Norden waren die natürlichen Gegebenheiten (grosse aride Räume, dünne Besiedlung)
immer ein Hemmschuh für Prosperität und staatliche Infrastruktur. Anders Zentralmali mit dem fruchtbaren Binnendelta des Niger: Hier leben Bauern, Viehzüchter und Fischer in einem uralten und früher harmonischen Geflecht multiethnischer Beziehungen, das allerdings durch Klimawandel und Bevölkerungswachstum unter Druck gerät.
Zahlreiche Konflikte um die Nutzung des Bodens hätten einer besonders sensiblen Hand des Staates bedurft. Das Gegenteil ist der Fall: Korruption und Willkür sind chronisch in der Region, insbesondere in ihrer ökonomischen Herzkammer, dem «Office du Niger», einer bewässerten Anbauzone von hunderttausend Hektar. Malier nennen sie das «Eldorado der Funktionäre»; in jüngster Zeit auch eine Arena für Landraub durch private Investoren.[6]
Die miserable Regierungsführung sei die Hauptursache der Krise in Zentralmali – zu diesem Befund kommen so unterschiedliche Gesprächspartner wie der Anthropologe Jean de Dieu Dembélé, ein leitendes Mitglied der Katholischen Kirche, und der den Wahhabiten[7] nahestehende Vorsitzende des «Hohen Islamischen Rats», Mahmoud Dicko.
So meint Dicko: «Die Korruption hat alles zerstört. Jeder Beamte hält die Hand auf. Diese Verwaltung hat niemand verteidigen wollen.»
Und Dembélé fügt hinzu: «Die Katastrophe war vorhersehbar. Der Staat benimmt sich wie ein Raubtier, er wirkt auf die Bürger wie ihr natürlicher Feind. An diesem Staat gibt es in den Augen der Bevölkerung nichts zu verteidigen.»
Ähnlich wie im Norden zur Zeit der Okkupation 2012 beeindrucken die Dschihadisten nun auch in Zentralmali die Bevölkerung damit, dass ihre islamische Justiz vergleichsweise sauber und unparteiisch arbeitet. «Sie haben Erfolg, weil sie Gerechtigkeit ausüben», bestätigt der Katholik Dembélé. «Die Religion ist ein mobilisierender Faktor, aber der Schlüssel, um aus der Krise herauszukommen, ist die Regierungsführung.»
Als in der Stadt Niono ein Richter auf offener Strasse entführt wurde, habe die örtliche Bevölkerung «zufrieden» reagiert, berichtet ein Filmregisseur, der in der Gegend lebt und sich in Konfliktmediation engagiert. «Immer, wenn derartiges passiert, höre ich: Das geschieht den Beamten recht! Es soll ein Denkzettel sein, damit sie ihr Verhalten ändern.»
Der Eindruck, dass Sympathie für den Dschhadismus weniger durch religiöse Motive entsteht als durch die Erfahrung staatlicher Willkür, deckt sich mit den Befunden einer UN-Studie über Extremismus in Afrika.[8] Mehr als 70 Prozent der Befragten nannten ungerechtes Regierungshandeln als Auslöser ihrer Entscheidung, sich einer militanten Gruppe anzuschliessen.
Aber warum sind dafür in Zentralmali anscheinend besonders die Peulh-Hirten ansprechbar? Einige westliche Medien und Forscher sehen diese Ethnie nun als Triebkraft eines sich religiös radikalisierenden Sahel: Mit Millionen Angehörigen von Senegal bis Zentralafrika, viele halbnomadisch lebend und über Landesgrenzen hinweg verwandt, scheinen die Peulh ein neues Credo westlicher Politik zu bestätigen: «War on terror» und mehr Grenzkontrolle, gerade auch innerhalb des Sahel, müssen ineinander greifen.
In Mali wird hingegen ein Bündel örtlicher Faktoren als Erklärung genannt. Erstens: Mit wenig Bildung und viel Freiheitsliebe seien die Hirten für den korrupten Staat ein ideales Opfer. «Sie hassen es so sehr, eingesperrt zu werden, dass sie einem Beamten die Taschen vollstopfen, damit er sie nicht verhaftet, auch wenn sie völlig unschuldig sind», erklärt ein Peulh der gebildeten Oberschicht.
Zweitens: In Nordmali hatten sich 2012 einige Peulh der dschihadistischen Mujao[9] angeschlossen, um für ihre Vieh-Streitigkeiten mit Tuareg-Nachbarn gleichfalls bewaffnet zu sein. Die Peulh in Zentralmali zahlten dafür den Preis: Die malischen Streitkräfte betrachteten sie fortan als des Dschihadismus verdächtig, viele wurden willkürlich verhaftet und verschleppt; ein Dutzend Ermordete fand man im Brunnen hinter einer Schule. Die Menschenrechtsverletzungen durch die Armee gehen heutzutage weiter, trotz EUTM[10]-Lehrgängen, und sie verschärfen die Erbitterung über den Staat.
Drittens: In der lokalen Religionsgeschichte spielen die Peulh eine besondere Rolle. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts regierten sie im Binnendelta des Niger das «Reich von Massina», eine islamische Theokratie, allerdings nach Massgabe einer der grossen Sufi-Bruderschaften des Sahel, der Qaddiriya. Das sufistische Erbe prägte zunächst auch jenen Mann, der heute eine Schlüsselfigur des zentralmalischen Dschihadismus ist: Amadou Kouffa[11]. Der Sohn eines angesehenen Imams, ein Peulh, um 1961 geboren, zog ein Jahrzehnt predigend umher; ein rhetorisch versierter Koran-Kenner, hoch geschätzt in einem Milieu, das geradezu gespickt ist mit Koranschulen, 600 an der Zahl. Aber auch bei weniger religiösen Jugendlichen ist Kouffa heute populär: Weil er sich mit der örtlichen Oberschicht und den korrupten Autoritäten anlegt und zu einer egalitären Gesellschaft aufruft.
Seine «Katiba Macina» ist nun mit der dschihadistischen Gruppe «Ansar Din» in Nordmali liiert. Aber ähnlich wie in das dortige Ringen der Tuareg-Milizen ein Drang nach sozialer
Emanzipation im eigenen Milieu hineinspielt, nährt sich in Zentralmali der Terror an der Ungeduld einer jungen Generation. Sie hört nicht mehr auf den mässigenden Rat der Alten, verlangt Aufstiegschancen in einer Gesellschaft mit bisher rigiden Sozialstrukturen.
Die Bewegung von Amadou Kouffa organisiert nicht nur Waffen, sondern auch Hochzeitszeremonien: vereinfachte Rituale, die es jungen Paaren erlauben, sich in dieser Frage der Kontrolle durch Verwandtschaft und Dorfälteste zu entziehen. Kouffas Männer operieren zwar niemals in der Nähe ihrer Heimatdörfer, aber sie verstecken sich nicht, kaufen auf örtlichen Märkten ein; es ist also nicht schwer, sich ihnen anzuschliessen. «Jeder hat dafür ein anderes Motiv», berichtet der Filmregisseur. «Viele tun es, weil sie alle Hoffnung verloren haben; andere tun es für Geld und einige sogar aus Neugier.»
Auch wenn die Ursachen der Krise in Zentrum des Landes andere sind als im Norden – immer mehr von Mali gerät in einen verhängnisvollen Kreislauf der Gewalt. Das ordinäre Verbrechen betritt alle Räume, wo Gemeinschaften bereits durch Angst gelähmt sind. Raubzüge, um Vieh und Fahrzeuge zu erbeuten – diese Form der Razzia war im kolonialen Mali eine alteingesessene Praxis. Seit der Unabhängigkeit schien sie ausgerottet. Sozialer Atavismus ist vielleicht das schlimmste Symptom der Krise.
IV Bamako: Kein Frieden mit diesem Staat. Neue Dynamiken im Schatten der Krise
Vor fünf Jahren schien keine Zeit zu sein für das «grosse Audit», das viele Organisationen der Zivilgesellschaft forderten: Untersuchung und Aufarbeitung, was in den Jahrzehnten verfehlter Demokratie geschehen war und wer vom Missbrauch internationaler Zahlungen profitiert hatte. Ohne ein solches Audit, sagte damals ein Anwalt, «wird Mali keinen Frieden finden». Die EU wollte Mali die Zeit dafür nicht lassen. Sie hatte nach dem Putsch den Geldhahn zugedreht; damit waren zwei Drittel des Staatsbudgets gestrichen. Dass ein Teil der jungen Generation mit dem Putschisten Amadou Haya Sanogo sympathisierte, weil er für sie den Bruch mit der verkommenen Elite verkörperte – wen interessierte das in Berlin oder Brüssel?Die Eile hat sich gerächt – dies waren für Mali fünf verlorene Jahre. Die Entfremdung der Bürger von Staat und Politik ist noch schroffer geworden, die Erbitterung tiefer. Aber daraus wächst nun Neues: eine gestärkte Opposition und ein gewandeltes Verhältnis der Jungen zu den Alten.
Mehr Opposition
Erstmals seit Beginn der Mehr-Parteien-Demokratie 1992 ist in Bamako ein breites oppositionelles Bündnis gegen die Praktiken der herrschenden politischen Klasse entstanden. Zu der Plattform «Antè a Banna» (etwa: wir weigern uns, es reicht) zählen rund einhundert Organisationen: politische Parteien, ein Teil der Gewerkschaften, diverse zivilgesellschaftliche Vereinigungen, ausserdem Künstler, Rapper, Intellektuelle.Möglich wurde dies, weil Parteien, die nicht zur Koalition des Präsidenten zählen, neuerdings ihre Rolle als parlamentarische Opposition annehmen. In der Vergangenheit hatten sich solche Kräfte bemüht, durch die sogenannte «Begleitung» des Regierungschefs aus der zweiten Reihe Hand an die Fleischtöpfe zu legen. Nun nimmt der Oppositionsführer der Nationalversammlung, um sein Image bemüht, sogar an Strassenprotesten teil. Auf der anderen Seite lernen spontaneistische Jugendbewegungen, die sich bisher nur als Aufläufe zorniger junger Männer zeigten, die Kooperation mit erfahreneren Kräften.
Das sind demokratische Reifeprozesse, die nicht ins Bild eines zerfallenden Landes passen. Und «Antè a banna» war schnell erstaunlich erfolgreich: Das Bündnis brachte 2017 eine geplante Verfassungsreform zu Fall, gegen den erklärten Willen der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen.
Gemäss Friedensvertrag sollte zur Förderung der Dezentralisierung neben dem bisherigen Parlament eine zweite Kammer als Vertretung der Regionen entstehen. In diesem Senat sollte der Staatspräsident ein Drittel der Mitglieder benennen dürfen, traditionelle und religiöse Honoratioren. Ferner wurde ihm das Recht zugebilligt, den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts zu bestimmen; bisher wählen ihn die Richter aus den eigenen Reihen.
Das war in einem Klima gesteigerten Misstrauens gegenüber dem Amtsinhaber IBK zu viel. Die Revision verschärfe «die autoritären Tendenzen, die Personalisierung der Macht, den Hyper-Status des Präsidenten», erklärte die Opposition, und selbst eine Intervention des ranghöchsten Offiziellen der Minusma blieb fruchtlos.[12]
Nach Ankündigung erneuter Massendemonstrationen vertagte IBK im August 2017 die Verfassungsänderung auf unbestimmte Zeit; er traute sich nicht mehr zu, das Referendum darüber zu gewinnen.
Was im offiziellen Friedensprozess als ein stabilisierendes Mehr an Demokratie gedacht war, wurde von vielen Maliern als das Gegenteil begriffen, als Angriff auf eine bereits schwache Demokratie. Ein bemerkenswerter Vorgang; dennoch wurde er nicht zum Zwecke einer Korrektur des Prozesses analysiert. Selbst in den turnusmässigen Mali-Berichten des UN-Generalsekretärs wird der Zustand von Staat und Regierung beschönigt. Auch ausserhalb der UN herrscht Doppelsprech: Viele Interviewpartner versprachen die Wahrheit, solange sie nicht zitiert würden.
Was aber trieb den Widerstand an? Für ältere Malier ist die Verfassung, die 1991/92 nach 20 Jahren Militärdiktatur aus einem breiten Diskussionsprozess hervorging, ein Symbol des Patriotismus. Die Jungen, die diese Tage des Aufbruchs nicht kennen, konnten sich mit dem Slogan «Ne touche pas à ma constitution!»[13] wiederum in eine Front mit Altersgenossen anderer afrikanischer Länder einreihen, wo Regenten ihr Mandat über die konstitutionell vorgesehene Frist hinaus zu verlängern suchen. Beide Motive hatten also einen Schuss polit-romantische Überhöhung – aber solange seine Verfassung romantisiert wird, ist Mali kein «failed state».
Tragischerweise wird der Patriotismus für den Friedensprozess nicht nutzbar gemacht. Aus Sicht der internationalen Akteure erscheinen die Malier eher wie trotzige Kinder, deren Horizont zu beschränkt ist, um die heilsamen Massnahmen zu begreifen, die andere für sie ersonnen haben. Dabei zeigt der reale Gang der Dinge: Solange der Friedensprozess die Macht der alten Elite begünstigt, wird er scheitern.
In Gao, mit 90.000 Einwohnern die grösste Stadt Nordmalis, überlappen sich lehrbuchhaft die Versäumnisse. Unter der Besatzung hatte es hier eine Selbstorganisation der Bevölkerung gegeben, die gegen die Dschihadisten mit dem Slogan «Wir weichen nicht» passiven Widerstand leistete. Jugendbünde, die sich «Les Patriotes»[14] nannten, gaben dann ihre Waffen freiwillig ab, als die «Serval»-Mission und die malische Armee Gao einnahmen. Bald merkten sie: Das war ein Fehler. Sie hatten im Friedensprozess nichts mehr zu fordern, weil sie keine Waffen hatten.
Auch die Hoffnung auf eine bessere staatliche Verwaltung, die in Gao besonders stark war, wurde betrogen. Der Staat setzte ausgerechnet wieder jenen Gouverneur ein, der 2012 als erster flüchtete und die Bevölkerung im Stich liess. Nun folgten Monate der Kämpfe gegen diesen Mann, Demonstrationen, Sitins. Im Juli 2016 gab es drei Tote, als malische Sicherheitskräfte auf Prostierende schossen. Die Nichtregierungsorganisation «Gao Lama», der die Verstorbenen angehörten, hat gegen den Gouverneur, mittlerweile abgezogen, Anklage wegen Mordes erhoben. Auch dies ist, im Schatten der Krise, eine neue Qualität der Auseinandersetzung.
Der Kampf gegen Dschihadisten dient der Regierung als Vorwand, Bürgerrechte einzuschränken. Der Ausnahmezustand, 2015 nach einem Terroranschlag auf das Radisson-Hotel in Bamako verhängt, ist mittlerweile Dauerzustand und erlaubt nach Gutdünken das Verbot von Demonstrationen. Auch in Bamako kam es dabei 2016 zu ein oder zwei Toten. Anfang 2018 wurden sogar Frauenmärsche mit Tränengas beschossen.
Zugleich werden manche Proteste militanter. In der nördlichen Kleinstadt Ansongo verrammelten Jugendliche das Rathaus, um den Bürgermeister auszusperren: Er habe eine humanitäre Lebensmittellieferung zum eigenen Profit verkauft. Überall zeigt sich eine Tendenz, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, da der Staat versagt; und die Grenzen zwischen engagiertem Bürger-Sein und Selbstbewaffnung sind fliessend.
Die Generation der Kinder der Fassaden-Demokratie empfindet sich politisch als Waisen, sie können in einer Kultur, die dem Ainé, dem Älteren, traditionell so viel Achtung entgegenbringt, zu niemandem aufblicken. Dieser Bruch hat ein Phänomen namens Ras Bath hervorgebracht, ein schillernder Provokateur, Idol zorniger Jugendlicher, die keinen Respekt haben – ausser für ihn, den «Guide», den Führer im Bob-Marley-Look.
Der Sohn eines Ministers, Anfang 40, studierter Jurist, wurde berühmt durch seine Radiosendungen, in denen er Politiker, Militärs, sogar Religiöse frontal angeht. Der Staatspräsident, sagt Ras Bath, «muss in den Augen des Volkes wie der Hausgärtner sein, sein Chauffeur, sein Bediensteter.»
Bei einem Auftritt in Berlin im Juli 2017 ist der Saal voll; Flüchtlinge aus Mali stellen den grössten Anteil, und wenn Ras Bath die phantastischen Summen von Unterschlagungen nennt, jubeln sie auf: als würde endlich jemand erklären, warum sie Mali verlassen haben.
«Choquer pour eduquer» heisst sein Slogan, womit gemeint ist: durch Schock umerziehen, sogar die Alten. Niemand solle «davor zurückschrecken, einem 70-jährigen die Meinung zu sagen, nur weil der alt oder behindert ist». Das eröffne eine neue Ära, meint der malische Soziologe Ibrahima Poudiougou, vielleicht gar das Ende der Gerontokratie. Ras Bath sage nur laut, was viele denken. «Die malische Jugend ist jetzt mit der Welt verbunden. Die sozialen Medien geben ihr das Recht zur Rede, während im Land die Kanäle durch die Inhaber der Macht verstopft sind.»
Mehr Religion
Das Gewicht von (nicht-dschihadistischen) religiösen Führern nimmt in gleichem Masse zu, wie die säkulare Politik die Bürger enttäuscht. Dieser Trend, sichtbar bereits vor fünf Jahren, hat sich weiter verstärkt.Das gilt vor allem für Ousmane Madani Haidara. Seine Organisation «Ançar Dine»[15], die bereits 2013 zwei Millionen zahlende Mitglieder umfasste, wächst ständig; mit «Cherifla TV[16]» unterhält er seit 2015 einen beliebten Fernsehsender, dessen Nachrichten meist nicht-religiös sind, und gegenwärtig baut er sein drittes Krankenhaus.
Seit Beginn der Krise hat der Prediger gegenüber den Dschihadisten stets seinen Kurs beibehalten: «Was sie tun, ist kein Islam. Kein Muslim tötet für den Islam. Unser Islam ist authentisch; wir brauchen diese Leute nicht.» Deshalb, und weil er seit langem die Korruption anprangert, geniesst Haidara Respekt auch über seine Anhängerschaft hinaus. «Seine Haltung ist der wichtigste Wall gegen den Dschihadismus», sagt ein Journalist.
Der Prediger ist oft als Vermittler tätig, auch zwischen bewaffneten Gruppen des Nordens; jeder kann auf seine Diskretion vertrauen. In Mali, wo der Imam von je her der erste Ansprechpartner bei alltäglichen Streitigkeiten war, ob in Ehe oder Dorf, hebt Haidara diese Funktion auf die Höhe des modernen öffentlichen Raums. Zugleich meidet er alles, was (Partei-)Politik im engeren Sinne wäre, gibt keine Wahlempfehlung ab. Im Gespräch spielt er seinen Einfluss herunter: «Wir raten der Regierung, was gut ist für das Land. Die Regierung ist frei, unsere Ratschläge anzunehmen oder nicht.»
Als die Opposition gegen die Revision der Verfassung kämpfte, erklärten sich Haidara und die übrigen landesweit bekannten religiösen Führer offiziell für neutral, schafften es aber gleichwohl, den Eindruck zu erwecken, sie seien gegen die Revision. Ein Kunstgriff, um sich vor allem der Jugend nicht zu entfremden.
Von solchen Aushandlungsmechanismen haben die ausländischen Akteure wenig Kenntnis; viele haben den Namen Haidara noch nie gehört. Auch die Minusma kooperiert lieber mit verrufenen Staatsakteuren als mit moralisch anerkannten Religiösen.
Deren zunehmendes Gewicht ist nicht identisch mit mehr radikalem Islam – das zeigen die jährlich wachsenden Massen-Zeremonien anlässlich von Maulid, dem Geburtstag des Propheten Mohamed; er wird von Wahhabiten und anderen salafistischen Strömungen nicht gefeiert. Im Dezember 2017 drängten sich an diesem Abend im grössten Sportstadion Bamakos etwa 80.000 Malier, um Haidara zu hören, darunter sehr viele Frauen. Weitere 50.000 Gläubige füllten parallel zwei andere Stadien der Stadt. Haidara schnitt in seinem einstündigen Diskurs, wie immer in der Nationalsprache Bambara, keine Politik an, obwohl an diesem Tag Donald Trumps Anerkennung von Jerusalem als Israels Hauptstadt die Nachrichten prägte.
Sportstadien mit Anhängern zu füllen ist trotz deklarierter Politikferne eine Machtdemonstration. Kein Politiker kann solche Massen mobilisieren. Gravierender: Der Staat hat selbst keine Religionspolitik. Er verzichtet darauf, einen angemessenen Raum für die religiösen Kräfte zu definieren oder darüber wenigstens eine Debatte zu initiieren.
«Der Staat lässt die Religiösen machen, was sie wollen – das ist das malische Verständnis von Laizismus», sagt der Katholik Jean de Dieu Dembélé. Die etwa zehn Prozent christlichen Malier sind als Bürger nominell gleichberechtigt, fühlen sich aber durch die vermehrte muslimische Einfärbung des politischen Raums bedrängt.
Präsident IBK, der 2013 dank der Mobilmachung religiöser Organisationen mit hoher Wahlbeteiligung ins Amt gelangte, hat eine floskelhafte Rhetorik der Frömmigkeit zu seinem Markenzeichen gemacht. So sagte er über eine erneute Kandidatur: «Als Gläubiger unterstelle ich mich Allah. Ich bin nur das demütige Werkzeug seines Willens.» Während er sich den westlichen Partnern als Garant des Laizismus präsentiert, buhlt er um die Religiösen.
Als zur Maulid-Feier 2017 sogar das grösste Stadion überfüllt war, machte der Präsident dem Prediger Haidara 150 Hektar Staatsland zum Geschenk, damit er dort eine neue Arena für religiöse Kundgebungen baue. IBK hatte gerade seinen Wahlkampf begonnen. Haidara zögerte einen Moment, die Offerte anzunehmen. Später erklärte er: Es bleibe bei der Trennung von Politik und Religion, aber es sei nach afrikanischer Sitte üblich, ein Geschenk anzunehmen, um das man nicht gebeten habe. Jeder Malier verstand das Signal: Haidara lässt sich nicht kaufen.
V Warum sich die Malier entmündigt fühlen
Die UN-Mission wurde Mali 2013 aufgedrängt. Im Regierungsapparat wie in der Bevölkerung gab es von Beginn an einen Unwillen gegen die grosse Zahl ausländischer Soldaten auf dem eigenen Territorium.Viele Malier kennen das begrenzte Mandat der Minusma nicht; sie wissen nicht, dass es keine Kampfeinsätze erlaubt und erwarten deshalb zu viel. Zudem werden die Blauhelme verdächtigt, auf Seiten der Tuareg-Rebellen zu stehen oder gar eine Geheimwaffe Frankreichs zu sein, um den alten Plan eines Sahara-Staates, den Paris in den 1950er Jahren verfolgte, doch noch zu verwirklichen. Diese Sicht ist «auf der Strasse» in Bamako verbreitet.
In Bamako wie in Gao wird der Minusma die Erhöhung der Lebenshaltungskosten angelastet, wobei sich in der Hauptstadt auch durch andere Projektträger die Zahl gutverdienender Ausländer vermehrt hat. In Gao ist die Minusma hingegen mit ihrem «Supercamp» direkt oder indirekt zum grössten Arbeitgeber geworden. Für die Mission zu arbeiten hindert indes nicht daran, sich privat abfällig zu äussern.
Die Last der UN-Mission
Ibrahima Touré, Generalsekretär des gewerkschaftlichen Dachverbandes UNTM[17] in Gao und langjähriger Menschenrechts-Aktivist zieht folgende Bilanz: «Etwa 20 Prozent der Bevölkerung profitieren wirtschaftlich von der Minusma, die übrigen leiden unter ihren Nebeneffekten, am meisten leiden die Ärmsten.» Wohnungen und Häuser seien unbezahlbar geworden durch gutverdienende einheimische Minusma-Funktionäre. Manche haben zwei Gehälter: Staatsbedienstete sind zur UN gewechselt, beziehen aber ihr altes niedrigeres Gehalt weiter.Arbeitslose junge Malier mit Universitätsabschluss gelten bei der Mission als nicht qualifiziert genug für eine entsprechende Stelle. Im Bundeswehr-Camp sind die sogenannten «locals» vorwiegend Küchenhilfen oder Wäscher.
Im Norden wie im Süden ist der Vorwurf verbreitet, die Minusma schütze vor allem sich selbst. Moussa Yoro von den «Patriotes», die in Gao versuchen, Wohngebiete durch Patrouillen vor Kriminellen zu schützen: «Die Minusma-Kräfte sitzen zu viel in ihrem Camp. Sie sichern sich selbst statt die Bevölkerung.»
Auch andere Vorwürfe gegen Minusma sind verbreitet. So behauptet etwa ein hochrangiger Staatsbediensteter in Bamako: «Die Minusma drängt sich nicht gerade, ihre Arbeit zu beenden. Und was machen sie mit unseren Töchtern? Sie schwängern die Mädchen, und dann geben sie ihnen Geld.» Wie viele solcher Fälle es gibt, ist schwer zu sagen. Nichteheliche Teenage-Schwangerschaften galten bereist vor Ankunft der Minusma als Problem; allerdings werden die betroffenen Mädchen im Normalfall eilends verheiratet.
Sollte die UN-Mission besser verschwinden? Manche sagen vorbehaltlos ja, etwa der Gewerkschafter Touré in Gao: «Die Minusma sollte lieber heute als morgen abziehen.» Andere betonen trotz Unzufriedenheit, die Mission habe begrenzten Nutzen. Dazu zählt der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats, Mahmoud Dicko: «Es ist übertrieben, nur eine negative Wirkung der Minusma zu sehen. Ohne sie wäre der Kontakt des restlichen Landes zu Kidal vielleicht ganz abgerissen. Selbst ich reise dorthin in einem Flugzeug der Minusma. Aber der normale Bürger versteht nicht, wozu die Mission da ist.»
Im Bündnis der Opposition gehen die Meinungen auseinander; dies wird nicht als Problem empfunden, denn geeint werden alle durch die Gegnerschaft zur regierenden Elite. Bei den Jugendorganisationen überwiegt radikale Ablehnung. Frankreich benutze die UN als Deckmantel für seine neokolonialen Interessen, sagt Ibrahima Kébé, Sprecher der Gruppe «Faso Kanu» (Wort des Vaterlands). An Stelle der Minusma solle ein nationaler Freiwilligendienst für alle jungen Malier und Malierinnen, ein «patriotischer Dienst», das Land Zone für Zone wieder unter staatliche Kontrolle bringen.
Auch die Politikerin Sy Kadiatou Sow, eine frühere Aussenministerin, meint, angesichts eines Minusma-Jahresbudgets von einer Milliarde Dollar gäbe es weitaus bessere Möglichkeiten, den malischen Staat zu stärken. «Wir stehen quasi unter einer Besatzung, die nicht so genannt werden soll. Die malische Öffentlichkeit ist gegen eine Minusma, die sich auf ewig hier einrichtet. Wir sehen doch, was in anderen Ländern mit den Missionen passiert ist. Der Fall der Demokratischen Republik Kongo beunruhigt uns sehr.»
Der tabuisierte Dialog mit Dschihadisten
Für viele Malier waren 2012/2013 Tuareg-Rebellen und Dschihadisten gleichermassen von übel. Nicht wenige fanden die Rebellen, weil Auslöser der Krise, sogar schlimmer. Immerhin hatten sie im Norden so gewildert, dass die ihnen nachfolgenden religiösen Besatzer zunächst als Ordnungsmacht begrüsst wurden. Dieser Sichtweise hat der offizielle Friedensprozess in keiner Phase Rechnung getragen. Er basierte eher auf einer fremdbestimmten Definition, wer nachhaltig als Feind ausgegrenzt wird und mit wem die Malier morgen wieder zusammenleben müssen.Seit 2014 haben einzelne prominente Malier immer wieder verlangt, auch mit Dschihadisten den Dialog aufzunehmen. Die Forderung fand in jenem Masse mehr Rückhalt, wie die militärische Bekämpfung des Dschihadismus scheiterte. Ausserdem ist dessen Gesicht heute eindeutig malischer als in den Jahren 2012/2013. An der Strategie von Serval und Barkhane, mutmassliche Dschihadisten zu liquidieren statt sie einer rechtsstaatlichen Verfolgung zuzuführen, nahm die malische Öffentlichkeit solange wenig Anstoss, wie es sich eher um Ausländer zu handeln schien.
Nun stechen aber zwei wohlbekannte einheimische Akteure heraus: in Zentralmali der Prediger Amadou Kouffa; im Norden der Tuareg-Führer Iyad Ag Ghali. Letzterer ist die personifizierte fliessende Grenze zwischen Rebellion, Terror, Geschäft und Al-Qaida. Beide haben Signale gesendet, sie seien zum Dialog bereit. Und für beide empfinden viele Malier doch noch einen gewissen Respekt. «Wir können diese Leute nicht in den Fluss werfen», sagt der Politiker Dramé.
Kollektiv wurde die Forderung nach Dialog erstmals Ende März 2017 erhoben: von einer «Konferenz zur Nationalen Verständigung», unter Schirmherschaft der Minusma im Rahmen des Friedensprozesses organisiert, sollte sie repräsentativ für alle Ethnien und Schichten sein. 900 Teilnehmer sassen drei Tage lang gedrängt in einem betagten Kulturpalast – die erste und einzige basisnahe Willensbekundung seit Jahren. Am Ende waren drei Dinge klar: Der Süden denkt, der Norden bekäme alles. Die Bevölkerung will endlich an der Bekämpfung der Krise beteiligt werden. Und es solle versucht werden, mit den Dschihadisten Amadou Kouffa und Iyad Ag Ghali in Dialog zu treten.
Der Staatspräsident nahm die Forderung entgegen und liess seinen Versöhnungsminister verkünden: «Mali ist bereit, mit all seinen Söhnen zu verhandeln.”[18] Die Zusage hielt nur wenige Tage. Am 7. April besuchte der französische Aussenminister Jean-Marc Ayrault Mali gemeinsam mit seinem deutschen Pendant Sigmar Gabriel und befand kategorisch: «Wir stehen hier in einem Kampf. Es ist ein Kampf gegen den Terrorismus ohne Zweideutigkeit. (…) Dafür gibt es nur einen Weg, nicht zwei.»[19] Der malische Präsident sagte Ayrault daraufhin zu, es werde keine Verhandlungen geben, und so wurde es vom malischen
Aussenminister dann auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den beiden europäischen Besuchern verkündet.
«Es war schockierend zu sehen, wie begrenzt unser nationaler Handlungsspielraum ist», sagt eine Managerin, die an der Nationalkonferenz mitgewirkt hatte. «Mali steht faktisch unter internationaler Vormundschaft. Und solange das so ist, werden wir unseren Weg aus der Krise nicht finden.»
«Mali steht unter Vormundschaft», sagt auch die frühere Aussenministerin Sy, «und wir sehen ohnmächtig zu, wie sich die Lage ständig verschlechtert. Aber wir können nicht noch Jahrzehnte die Minusma auf dem Buckel haben. Das wäre eine Katastrophe für Mali. Wir müssen sehen, was sonst möglich ist.»
«Die Regierung ist verstrickt in die Logik der internationalen Gemeinschaft», sagt ein Journalist. «Sie will eigentlich verhandeln, traut sich aber nicht, das laut zu sagen, weil sie die Partner nicht verärgern will.»
Während der Staatspräsident in der Folgezeit nach aussen daran festhält, ein Dialog sei «ausser Frage», legte er dem Vorsitzenden des Hohen Islamischen Rats eine Art geheime Mission nahe; er berief Mahmoud Dicko dafür an die Spitze einer nur auf dem Papier existierenden «Commission de Bon Offices». Es geht um den Krisenherd Zentralmali.
Dicko: «Ich habe kein Mandat bekommen, mit wem ich reden soll. Aber weil dort, wo kein Staat mehr existiert, die Leiter der Koranschulen und die traditionellen Führer viel Einfluss haben, habe ich sie zu drei grossen Versammlungen eingeladen. 800 sind gekommen. Sie sind Bindeglieder, sie sollen mein Vorgehen verstehen. Danach wird es möglich sein, Schlüsselpersonen zu treffen, irgendwann auch Amadou Kouffa selbst.»
«Ich will Wege zum Dialog öffnen, indem ich frage, was wir für die Region tun können. Ich werde ausloten, ob zum Beispiel die Einrichtung von Kadis[20] befriedend wirken könnte.» Dicko ist klar: Hat er mit der Geheimmission Erfolg, wird IBK das für sich verbuchen.
Wenn er scheitert, hat der Präsident mit der Sache nie etwas zu tun gehabt. Er nehme diesen schlechten Deal auf sich, sagt Dicko, als Bürgerpflicht.
«Wir müssen Zentralmali abkoppeln von den Sicherheitsproblemen in der Sahara. Wen will man in Zentralmali denn bombardieren? Wir müssen die Bevölkerung dazu bringen, dass sie die Republik akzeptiert und aus dem Sog der Gewalt herauskommt. Aber was bietet der Staat an? Wo ist die rote Linie, über die eine Republik nicht hinausgehen kann? Das muss das Land, das Volk entscheiden.»
Wird Mali das können? Wird Mali, wie die Oppositionspolitikerin Sy fordert, «den Mut haben zu entscheiden, was gut für uns ist»?
Ein malischer General a.D., dem Westen durchaus freundlich zugetan, beschreibt überraschend gelassen ein Szenario nach dem Abzug von Minusma und Barkhane. «Dann werden wir mit den Dschihadisten verhandeln. Wenn sie islamisches Recht einführen wollen, werden wir sehen, was genau das sein soll, und vielleicht es ja nicht schlecht. Die Dschihadisten haben in manchem recht: Sie wollen eine schnelle, saubere Gerichtbarkeit, und sie nehmen kein Geld. Sie haben viele getötet, das stimmt, aber die anderen, Tuareg-Rebellen und Armee, haben mindestens genauso so viele getötet.»
Moussa Tchangari, Generalsekretär der «Alternative Espaces Citoyens»[21] in Niamey (Niger) weist darauf hin, dass in Mali wie in Niger immer dann mit Dschihadisten verhandelt werden durfte, wenn es um die Freilassung westlicher Geiseln ging. Die Entscheidung über Dialog oder Krieg hänge also von den Interessen der grossen Mächte des Westens ab.[22]
Die Psychologie der Abhängigkeit
Zur Entmündigung gehören zwei Seiten. Auf zahlende Partner schielen statt eigene Interessen zu formulieren – dieses Problem ist in Mali älter als die gegenwärtige Krise, zählt sogar mit zu ihren Ursachen. Sich ein Projekt aufdrängen lassen, von seiner Finanzierung profitieren und die Umsetzung stillschweigend boykottieren – so etwa hielt es die Regierung mit dem Friedensvertrag, eine alt eingeübte Praxis. Die Malier haben sich klein machen lassen, weil es für ihre Elite von Vorteil war, an der Infusionskanüle zu hängen. Jahrzehnte einer solcher Förderung haben eine Psychologie der Abhängigkeit hervorgebracht.Während Malier heute über Entmündigung klagen, hört man von Vertretern ausländischer Organisationen: «Wir hoffen, dass wir die Malier dazu bringen können, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.»
Dabei dürften 90 Prozent der ausländischen Kräfte die Mechanismen von Malis Gesellschaft kaum begreifen – und dies auch nicht als Mangel empfinden. Mit der UN-Mission und der Masse an militärischem Personal und Gerät ist ein Typus von Menschen eingetroffen, die «ihren Job», wie sie es nennen, an allen Enden der Welt ähnlich machen, und wenn man so jemand fragt, ob er etwas von Mali gesehen habe, antwortet er: «Das brauche ich nicht.»
Zu dieser Einstellung trägt die Gefährdungslage bei: Viele Ausländer verlassen Bamako nicht, kennen kaum mehr als ihre Büros und ein paar Pubs, die als sicher gelten. Sie steuern ihre Projekte per Fernbedienung, erwägen im Extremfall, den Fortschritt etwa beim Bau einer Piste durch Drohnen dokumentieren zu lassen.
Malis Zustand nach vier Jahrzehnten Entwicklungshilfe belegt, wie wenig von aussen dominierte Ansätze bewirken; der Zusammenbruch der Fassadendemokratie 2012 hielt dafür die endgültige Lehre bereit. Doch mit der UN-Mission und dem Schwarm begleitender Projekte ist die Hybris in grösserer Personalstärke und unter Beteiligung von noch mehr Nationen zurückgekehrt. Über die 70 unkoordinierten Projekte allein im Sicherheitsbereich[23] sagt ein UN-Polizist: «An den Maliern wird von allen Seiten herumgezerrt; die können keinen klaren Gedanken mehr fassen.»
Budgetträchtige «Nach-Krise»-Foren tagen in frisch renovierten Sälen, während Mali immer tiefer in der Krise versinkt. Und weil Geld für alles fliesst, wo «Frieden» draufsteht, mögen selbst kleine Organisationen der Zivilgesellschaft nicht laut sagen, dass sie den Friedensprozess für gescheitert halten.
Gibt es aus all dem einen Weg ins Freie?
VI Neubesinnung: Was treibt Mali auseinander, was hält Mali zusammen?
Mali war ein klassisches Land der grossen Erzählungen: von den Mythen des Mittelalters über den Panafrikanismus bei den Vätern und Müttern der Unabhängigkeit bis zum afrikanischen Sozialismus der jungen Republik. Und noch in den Tagen des Kampfes für Demokratie sahen sich die Malier als Teil einer grösseren Bewegung für Emanzipation. «Im Gedenken an die Völker und die Menschen im Kampf für Freiheit», steht in Bamako am Mahnmal für die Toten von 1991.Heute ist Mali bar jeder Erzählung. «Wir haben keine Fähigkeit mehr, Antworten zu geben», sagt Dembélé, «der einzelne fühlt sich allein.» Viele haben das Empfinden, die soziale Ordnung sei aus den Fugen geraten, und da keine Institution, sei sie traditionell oder staatlich, mehr Sicherheit zu garantieren scheint, wächst die Neigung, bei Bewaffneten Schutz zu suchen.
Die Sensibleren im Land spüren: Mali braucht eine Neubesinnung von innen her und eine Aufarbeitung, die über das versäumte «grosse Audit» von 2012/13 weit hinausgehen muss.
So zwingend eine andere Regierungsführung ist, um als Staat zu überleben, so drängend ist mittlerweile auch dies geworden: Malis soziale Textur mit seinen 30 Ethnien vor Zerfaserung zu bewahren. Sich das einzugestehen, fällt vielen Maliern nicht leicht.
«Wir haben unsere Vergangenheit idealisiert, nach dem Motto: Wir sind eine grosse Zivilisation, wir haben keinen Rassismus, keine Probleme zwischen den Ethnien», sagt Ousmane Sidibé, Präsident der Wahrheitskommission: «Das war nicht ganz falsch, aber die Verhältnisse ändern sich. Es gibt heute Misstrauen und zunehmend Formen von Kommunitarismus, von Zuweisungen wie: Die sind Peulh, die sind Dogon... Es existiert noch ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, aber je schlimmer die Krise wird, desto tiefer gehen die Risse.»
Gewalt nimmt zu, auch im Alltag, in Wohnvierteln, in der Familie. Im Dezember 2017 prügelten zwei Männer ihre Ehefrauen zu Tode. Als andere Frauen daraufhin gegen Männergewalt auf die Strasse gingen, wurden sie in Bamako von Polizeigewalt auseinandergetrieben. Alles klinkt sich falsch ineinander, und vielen liegen die Nerven blank.
Armut scheint heute schwerer zu ertragen, die Armen haben ihre Geduld verloren und mit der Geduld den Pazifismus. «Früher gab es zwischen Arm und Reich nicht eine so grosse Kluft wie heute», sagt Sidibé. «In meiner Kindheit war es selbstverständlich, dass wir in den Häusern der Wohlhabenderen ein- und ausgehen konnten, und manchmal haben wir da gegessen. Gesellschaftliche Unterschiede wurden auf diese Weise abgemildert. Das gibt es heute nicht mehr.»
Die Erosion sozialen Zusammenhalts ist wie eine Tapete hinter dem Geschehen der grossen, offiziellen Krise. Auf der vorderen Bühne spielen die Starken, Gerissenen, Skrupellosen, egal welcher Couleur. Aber vielleicht lässt sich ihrem Treiben gar nicht Einhalt gebieten, ohne sich vorher um den Hintergrund zu kümmern?
In den kleinen, scheinbar nebensächlichen Konflikten, die es nie in die internationalen Medien schaffen, weil sie nur von Grund und Boden, von Weide und Feld handeln, sterben oft mehr Menschen als bei einem Terror-Anschlag. Manchmal sind es sogar, wie an der Grenze zwischen Mali und Burkina Faso, auf beiden Seiten Bauern derselben Ethnie, desselben Glaubens, die sich mörderisch bekämpften. Versöhnung dauert Jahre, denn es müssen dafür neue Einkommensquellen generiert und Ressourcen klüger gemanagt werden. Damit der Boden, der sich nicht vermehren lässt, alle ernährt.
Die Geschichte von Konflikten muss verstanden werden, was in Mali oft nicht der Fall ist.
Die sogenannte Azawad-Frage ist dafür das prominenteste Beispiel.
Azawad war ursprünglich die geografische Bezeichnung einer Senke nördlich von Timbuktu, ein saisonaler Weidegrund. Die Tuareg-Sezessionisten machten daraus den Namen ihres nordmalischen Separatstaates, in dem sie selbst nur Minderheit wären. Die Proklamation dieses Azawad am 6. April 2012 wird alljährlich von den bewaffneten Gruppen in Kidal als «Unabhängigkeitstag» gefeiert, obwohl dieselben Gruppen im Friedensprozess der Sezession verbal abgeschworen haben.
Jüngst trug eine Repräsentantin der Bewegung ein Kopftuch in den sogenannten Nationalfarben von Azawad zu einem Treffen mit der malischen Frauenministerin. Die Ministerin ignorierte die Provokation, was eine Flut von Rücktrittsforderungen auslöste. Volkes Stimme im Süden.
Es obliegt nun der Wahrheitskommission, sich des Umstands anzunehmen, dass zwei Sorten kollektives Gedächtnis die Emotionen erhitzen. Seit der Niederschlagung der ersten Rebellion von 1963 fühlen sich die Tuareg als Opfer der Armee, wogegen sie in Bamako stets als Täter gesehen werden, als Soldatenmörder. «Wir müssen die unterschiedlichen Weisen, Opfer zu sein, anerkennen. Und Fälle auswählen, die dafür Sinnbilder sind und in denen sich jede Community wiederfinden kann», sagt Sidibé.
Um den Staat in den Augen der Bürger überhaupt wieder verteidigenswert zu machen, muss er endlich von der kolonialen Herrschaftsstruktur befreit werden, in der die frankophone Elite quasi die Rolle der Kolonialherren geerbt hat. Die gegenwärtige Krise sei so tief, dass es keinen Ausweg ohne eine «Neugründung» des Staates gebe, sagt Ousmane Sy, Leiter des Thinktanks CERM[24]. Er ist seit den 1990er Jahren Visionär einer Dezentralisierung, die den Maliern aller Regionen ein Gefühl von Ownership an diesem Staat vermittelt – und vielleicht sogar eine randständige Tuareg-Identität nationalstaatlich heimisch machen könnte. Bamako soll dafür ein Drittel des Nationalbudgets den Kommunen zur Verfügung stellen, so steht es auch im Friedensvertrag.
Aber darüber lacht die politische Klasse nur, und das seit Jahren. Von den zwei Dritteln des Staatsbudgets, die aus EU-Töpfen kommen, wandern nach geläufigen Schätzungen 15 Prozent in die Taschen der Elite von Bamako. Finanzen zu dezentralisieren ist also eine Machtfrage, und anders als im Fall eines Putsches dreht die EU niemals den Hahn zu, wenn Geld durch Leute gestohlen wird, die sie noch braucht. Nur wenn mit diesem fatalen Bündnis gebrochen wird, kann in Mali Demokratie entstehen.
Dazu gehört auch, dass Bürger und Staat einander verstehen, im wörtlichen Sinne: In einem Land, in dem höchstens jeder Vierte die Amtssprache Französisch spricht, müssen die nationalen Sprachen zumindest Arbeitssprachen der nationalen und lokalen Behörden sein, verlangt Ousmane Sy. Jugendidol Ras Bath geht weiter: «Damit sich ein Volk entwickeln kann, muss es Universitäten in der Sprache des Landes geben. Das System derer, die uns den Staat gestohlen haben, baut auf Sprache auf.» Die französischsprachige Schule entfremde die Kinder von den Eltern, den Hirten, und lehre nichts Nützliches, um deren Leben zu verbessern, schreibt eine Peulh-Menschenrechtsgruppe, die «Association Kisal», zum Krisenherd Zentralmali.
Um der Zerfaserung von Malis multiethnischer Textur entgegenzuwirken, muss die malische Familie gestärkt werden. Sie gilt ausländischen Akteuren oft als Entwicklungshemmnis – weil sie traditionell und patriarchal ist und weil sie einen Erfolgreichen zwingt, seine Einkünfte mit der Verwandtschaft zu teilen, was bei Beamten den Hang zur Bereicherung fördere. Aber: Sie hält in spannungsreichen Zeiten die Nation zusammen, denn viele Familien sind ethnisch, sogar religiös gemischt. «Die Familie bremst Konflikte ab», sagt der Katholik Dembélé. «Ohne das Gewicht der Familie hätten wir mehr Konfrontationen.»
Und schliesslich lässt sich die eigene Souveränität nur zurückgewinnen, wenn Malier ihre eigenen Werte und Systeme auf die Höhe der Zeit bringen. «Wir waren in der Vergangenheit in der Lage, solche Prinzipen wie die Cousinage[25] zu entwickeln, um Konflikte zwischen Ethnien zu regeln», sagt Mahmoud Dicko vom Hohen Islamischen Rat. «Die Malier von heute sind doch nicht weniger intelligent als ihre Vorfahren. Aber wir erfinden nichts mehr. Und wenn es keine Räume für Debatten gibt, für Visionen, entscheiden andere an unserer Stelle. Aber wir, nur wir haben die Verantwortung für alles, was seit der Unabhängigkeit passiert ist und warum wir heute in dieser Lage sind.»
Der junge Oppositionelle Ibrahima Tébé bringt es auf den Punkt: «Wir müssen einander in die Augen sehen. Wir müssen uns als Malier einige Wahrheiten sagen. Was haben wir falsch gemacht? Wer sind wir? Was wollen wir? Es hat keinen Sinn, dass die internationale Gemeinschaft uns sagt, was wir tun sollen. Niemand ausser uns selbst kann entscheiden, was gut für Mali ist. Wir brauchen Lösungen, die uns eigen sind.»
VII Ausblick
Wie es in Mali weitergeht, ist gegenwärtig, im Januar 2018, schwer zu prognostizieren. Werden, wie vorgesehen, im Juli Präsidentschaftswahlen stattfinden, obwohl der Staat in mehr als der Hälfte seiner Verwaltungskreise nicht präsent ist?Ein Teil der Opposition will die Wahl auf jeden Fall, um den Amtsinhaber los zu werden: Jeder Tag mehr mit IBK bedrohe die nationale Sicherheit. Andere halten glaubwürdige Wahlen für nicht möglich und bevorzugen eine «Transition», eine Übergangsregelung – doch mit wem an der Spitze? Und auf welche Seite neigt sich das Gewicht der religiösen Führer?
Manche äussern Furcht vor dem, was kommt. Ismaila Cissé, ein Brigadegeneral a.D., beispielsweise fürchtet: «Die schlechte Regierungsführung tötet Mali. Ich habe Angst vor den nächsten Monaten. Bis zum Sommer kann das Land explodiert sein.»
Eine Veteranin der demokratischen Revolution von 1991 empfindet heute in der Jugend eine ähnliche Entschiedenheit wie damals. «Ein Funke, und es kann alles explodieren. Viele meinen, sie haben nichts zu verlieren. In den städtischen Milieus ist die Verachtung für die politische Klasse total. Es kommen harte Konfrontationen auf uns zu.»
Mali steht an einem Scheideweg: Entweder der Staat zerfällt weiter, zugunsten einer Herrschaft der Bewaffneten und des organisierten Verbrechens, und aus Mali wird ein blosses Territorium, von Drohnen überflogen. Oder einer grossen Koalition gutwilliger Malier und Malierinnen gelingt es, mit dem zweifelsohne vorhandenen sozialen Kapital dieses Landes wieder das Gesetz des Handelns in die eigenen Hände zu nehmen.